Kommissarin Stina Forss saß auf der Kante des Kais vor dem Grand Hotel, ließ die Füße baumeln, hielt ihr von Sommersprossen übersätes Gesicht der Septembersonne entgegen und aß ein mitgebrachtes Butterbrot. Sie mochte die Aussicht auf den glitzernden Lilla Värtan, von wo aus die Fähren und Touristenboote in den Stockholmer Schärengarten aufbrachen, und wenn es sich wie an diesem Tag einrichten ließ, verbrachte sie hier ihre Mittagspausen: Möwen fütternd, das geschäftige Treiben der Großstadt im Rücken, den Blick auf dem Wasser ruhend. Seit zwei Jahren lebte sie mittlerweile hier, ein kleines, ein unauffälliges Leben, dachte sie oft, das von Arbeit und Routinen wie täglichem Joggen oder dem Besuch des Fitnessstudios geprägt war, ohne tiefe Verwurzelung, ohne Freunde, ohne Partner, ohne feste Kollegen. Es war ihr recht so. Als Ermittlerin der Mordabteilung der Operativen Einheiten war sie in ständiger Abrufbereitschaft. Wenn irgendwo im Land ein schweres Gewaltverbrechen geschah und die Kriminalpolizei vor Ort mehr Ressourcen benötigte oder sich ein Fall hoffnungslos festgefahren hatte, kam Forss zum Einsatz. Bisher war das zehnmal passiert, in acht dieser Einsätze hatte sie die Ermittlungen zu einem erfolgreichen Abschluss führen können. Das war eine sehr gute Quote. Entsprechend zufrieden war man mit ihrer Arbeit. Das galt ebenso für ihr Engagement in den verschiedenen Stockholmer Mordkommissionen, die sie immer dann unterstützte, wenn sie nirgendwo anders gebraucht wurde. Im Moment arbeitete sie in einem Team mit, das eine Serie von Vergewaltigungen in Tateinheit mit schwerer Körperverletzung untersuchte. Die drei bisherigen Opfer waren mit demselben starken Betäubungsmittel wehrlos gemacht worden. Dies und nahezu identische Würgemale ließen den Schluss zu, dass es sich in allen Fällen um denselben Täter handelte. Die vergewaltigten Frauen waren wie Forss selbst um die vierzig Jahre alt und von kleiner, zierlicher Statur. Vielleicht berührte sie der Fall deshalb mehr als gewohnt. Damit hörten die Gemeinsamkeiten aber auch auf. Die Opfer hatten alle einen Migrationshintergrund, waren dunkelhaarig und spät abends mit dem Fahrrad unterwegs gewesen. Die Tatorte lagen in verschiedenen Parkanlagen im Stadtgebiet, und der Täter hatte jedes Mal eine dunkle Skimaske getragen. Darüber hinaus gab es bisher kaum Spuren oder Anhaltspunkte. Am vielversprechendsten war die Aussage eines Zeugen, der den mutmaßlichen Täter von einem der Tatorte hatte weglaufen und mit einem Auto davonfahren sehen. Geistesgegenwärtig hatte er sich Nummernschild und Wagentyp gemerkt, außerdem konnte er den Verdächtigen in groben Zügen beschreiben: mittelgroß, helles lichtes Haar, sportlich, schlank, höchstens dreißig Jahre alt. Leider stellte sich heraus, dass die Nummernschilder bereits vor Wochen gestohlen worden waren. Was blieb, war das Auto, ein silberner Mazda CX -5. Im Großraum Stockholm mit seinen fast zweieinhalb Millionen Einwohnern waren von diesem Modell mehr als tausend registriert. Selbst wenn man die Wagen aussortierte, die auf Frauen oder Männer mittleren Alters und älter angemeldet waren, blieben noch fast siebenhundert übrig. Mithilfe des Personenregisters wurden dunkelhaarige sowie besonders kleine und große Fahrzeughalter ausgesiebt, was die Anzahl halbierte. Dann begann das große Klinkenputzen. Forss hatte den Vormittag damit verbracht, vier der infrage kommenden Männer zu vernehmen. Ergebnislos, alle hatten plausible Alibis vorweisen können. Das Ganze war eine Sisyphusaufgabe. Doch solange es keinen besseren Ansatz gab, führte kein Weg an der langwierigen Arbeit vorbei.
Forss biss gerade ein weiteres Mal von ihrem Sandwich ab, als das Handy klingelte. Sie blickte aufs Display. Es war Joakim Helldén, der Leiter der Operativen Einheiten. Auf seine Initiative hin war sie nach Stockholm gekommen, ursprünglich um die zahlreichen Sprengstoffattentate im Drogenbandenmilieu der Vorstädte zu bekämpfen. Doch nach einem katastrophal schiefgelaufenen Einsatz, bei dem in einem Schusswechsel ein fünfzehnjähriger Verdächtiger ums Leben gekommen und einer ihrer Kollegen schwer verletzt worden war, hatte Helldén sie vor vierzehn Monaten zur Landesmordkommission versetzen lassen. Verwundert und auch ein wenig neugierig nahm sie das Gespräch an. Was konnte der hochrangige Chef von ihr wollen? Helldén hielt sich nicht lange mit Small Talk auf, sondern kam gleich zur Sache. Während sie zuhörte, spürte sie, dass ihr Mund trocken wurde. Als er fertig war, musste sie schlucken, bevor sie ihre Stimme wiederfand.
»Zurück nach Växjö?«
»Für ein bis zwei Wochen, länger dürfte es nicht dauern, denke ich.«
»Ich weiß nicht so recht, ob …« Natürlich kam alles wieder hoch. Das verhängnisvolle Erbe ihres Vaters. Die Angst. Die Wut. Die vielen Toten. Ingrid Nyström und sie hatten in einer geheim geführten Ermittlung ein politisches Komplott aufgedeckt, in das Wirtschaftsspitzen und hochrangige Beamte der staatlichen Sicherheitsorgane verwickelt waren. Sie hatten die Männer hinter dem Mordanschlag auf den Ministerpräsidenten Olof Palme entlarvt, der 1986 auf offener Straße erschossen worden war. Wie Forss’ Vater, der tief in die Konspiration verwickelt gewesen war, lebten die meisten Verantwortlichen mittlerweile nicht mehr, aber der Kopf der Verschwörung befand sich noch immer auf freiem Fuß. Seine Macht und sein Einfluss waren groß, und Nyström und Forss wussten bis heute nicht, wem im Justizapparat und beim Inlandsgeheimdienst sie trauen konnten und wem nicht. Gerade als sie sich dazu durchgerungen hatten, mit den spektakulären Ermittlungsergebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, hatte die Sondermordkommission, die seit mehr als fünfunddreißig Jahren erfolglos an dem größten Mordfall der schwedischen Geschichte arbeitete, den vermeintlichen Täter präsentiert, einen unscheinbaren Versicherungsangestellten, der praktischerweise seit vielen Jahren tot war und sich gegen die Vorwürfe nicht mehr wehren konnte. Nyström und Forss glaubten nicht daran, dass der Zeitpunkt ein Zufall war. Dazu kam, dass nahezu alle Experten, die sich teils jahrzehntelang mit dem Mord an Palme intensiv auseinandergesetzt hatten, darunter viele Polizisten, die selbst in die Bearbeitung des Falls involviert gewesen waren, die vorgebrachte Beweisführung für eine Farce hielten. Ein unverschämter und plumper Versuch, die Ermittlungen auf Biegen und Brechen abzuschließen. Die beiden Kommissarinnen deuteten es als Fingerzeig, wie weit der Einfluss des Hintermanns des Attentats reichte, eines Industrie- und Bankmagnaten, eines der reichsten Menschen des Landes. Über zwei Jahre hatte dieser Mann sie in Ruhe gelassen, mutmaßlich weil sie etwas besaßen, das ihn möglicherweise mit dem Mord an Palme in Verbindung brachte. Wenn man so wollte, war es eine Art Waffenruhe. Doch nun hatte es offenbar einen Anschlag auf Nyströms Leben gegeben. Natürlich drängte sich der Gedanke auf, dass er dahintersteckte. Bedeutete dies, dass ihr eigenes Leben ebenfalls wieder in Gefahr war? Gab es hier eine Chance, die Sache, die ihr Leben so lange bestimmt hatte, ein für alle Mal zu beenden?
Unter ihrer Augenklappe juckte es, was nie ein gutes Zeichen war. Sie wollte nicht zurück nach Växjö. Sie konnte nicht zurück nach Växjö. Im Rückblick waren die sieben Jahre, die sie in der småländischen Provinz verbracht hatte, ein immer schlimmer werdender Albtraum gewesen, der schließlich in einem tödlichen Showdown geendet hatte. Dreizehn Menschen waren während der Aufdeckung der Verschwörung ums Leben gekommen, darunter Nyströms Schwiegertochter. Auch Forss selbst hatte die Ermittlungen um ein Haar mit dem Leben bezahlt. Die Ereignisse hatten Nyström und sie aneinander geschmiedet, ein Blutpakt, unauflösbar für den Rest ihres Lebens. Vielleicht hatten sie gerade deshalb die Nähe der jeweils anderen nicht mehr ertragen können. Sie waren einander zum Spiegelbild ihrer Abgründe und Ängste geworden. Forss’ Entscheidung, nach Stockholm zu gehen, war für sie beide eine Erleichterung, war vielleicht sogar ihre Rettung gewesen. Wenn Nyström nun erneut angegriffen worden war, mussten sie sich gemeinsam den Dämonen der Vergangenheit ein weiteres Mal stellen, sosehr Forss sich auch dagegen sträubte. Sie mussten den Mann endgültig zur Strecke bringen.
»Stina, ich sage es ungern, aber wenn du denkst, es sei eine Option, den Auftrag abzulehnen, hast du mich missverstanden.«
Sie musste erneut schlucken. Nach dem fatalen Einsatz vor vierzehn Monaten hatte Helldén seine Hand schützend über sie gehalten. Nun begriff sie, dass seine Protektion nicht umsonst zu haben war, natürlich nicht. Alles, was machtbewusste Menschen einem geben, hat seinen Preis.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Wann fahre ich?«
»Auf der Stelle.«
»Der Mord- und Vergewaltigungsfall …?«
»Ist nicht mehr dein Problem. Ach, eine Sache noch: Wenn ich du wäre, würde ich unterwegs das Radio anschalten.«
Er beendete das Gespräch. Die Nachrichten? Was zum Teufel …? Mit ein paar Wischbewegungen hatte sie auf dem Smartphone eine landesweite Newsseite geöffnet. Gleich die oberste Schlagzeile sprang ihr ins Auge:
Växjö: Verwaltungsgericht fällt Überraschungsurteil – Trassenbau durch Naturgebiet untersagt, Umweltschützer jubeln.