Bevor Stina Forss in einem Škoda des polizeilichen Fuhrparks in Richtung Lodjurskogen aufbrach, hatte sie in ihrem Hotelzimmer die Secondhand-Guccis gegen abgestoßene Doc Martens und ihre Bluse gegen ein verwaschenes T-Shirt und Jeansjacke eingetauscht. Nach einer rund halbstündigen Fahrt erreichte sie den Wald. Sie steuerte den östlichsten und größten der insgesamt neun Parkplätze an, die um das Naturschutzgebiet herum verteilt waren. Dieser lag dem Green Village am nächsten. Von dort aus war es eine gute Stunde Fußmarsch bis zu der Lichtung im Eichenwald, die Nyström ihr auf der Karte gezeigt hatte. Von den westlich gelegenen Parkplätzen hätte Forss schneller dorthin gelangen können, aber ihr gefiel die Idee, das Protestcamp in Augenschein zu nehmen, den Ort kennenzulernen, der in den vergangenen Tagen die Schlagzeilen dominiert hatte, und den Wald entlang der Route zu durchqueren, die die umstrittene Bahntrasse hätte nehmen sollen. Während der Fahrt hatte sie über Nyströms Worte nachgedacht. Sie teilte die Auffassung ihrer ehemaligen Chefin: Eine ein Meter tiefe, mit Zweigen und Laub abgedeckte Grube stellte auch in ihren Augen keine tödliche Falle dar. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn sie sich auf der Abfahrtstrecke eines Mountainbike-Parcours befunden hätte. Aber auf einer abgelegenen Lichtung? Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft, den Vorfall als Mordversuch zu werten, war lächerlich und die Absicht, ihn zu instrumentalisieren, offensichtlich. Vermutlich war es so: Das Loch war Ausdruck einer halbherzig ausgelebten Guerillafantasie junger Aktivisten, die zu oft Rambo geschaut hatten. All cops are bastards und so weiter und so fort. Wenn die Wilden Luchse – allein schon der Name war zum Augenrollen – überhaupt dafür verantwortlich waren und nicht irgendein selbst ernannter Wolfsjäger, Michel aus Lönneberga ließ grüßen, wobei sich, ehrlich gesagt, jeder Wolf, Fuchs oder Luchs über eine derart flach ausgehobene Grube totlachen würde. So hatte es jedenfalls in Nyströms Schilderung geklungen und verklausuliert auch im vorläufigen Bericht der Spurensicherung. Dennoch musste sie den Ort selbst begutachten. Wahrscheinlich würde ihre Aufgabe tatsächlich nur darin bestehen, die ganze Geschichte als das zu entlarven, was sie offenbar war – ein Schmierentheater, aus dem man hoffte, politisches Kapital schlagen zu können. Ihr Vorgesetzter hatte sie auf Nyströms Drängen hin herbeordert, also nahm sie die undankbare Rolle zähneknirschend an, und vielleicht auch ein wenig um der alten Zeiten willen, weil Nyström Seite an Seite mit ihr gekämpft hatte, als sie mit dem Rücken zur Wand und bereits mit einem Bein im Grab gestanden hatte. Außerdem waren es die Verbrechen ihres Vaters gewesen, die die furchtbaren Dinge mehr als dreißig Jahre später ins Rollen gebracht hatten, es war ihr Erbe gewesen, das die Partnerin von Nyströms Tochter aufgrund einer Verwechslung mit dem Leben bezahlt hatte. Die Chefin hatte ihr das nie vorgeworfen, und dafür war Forss ihr dankbar. Auf der anderen Seite hatte Nyström den Mörder ihrer Schwiegertochter vor Forss Augen exekutiert und damit die gesamte gemeinsame Ermittlung kompromittiert. Jede von ihnen stand in der anderen Schuld. Damit konnte Forss leben. Sollte ihre Weggefährtin aber auf eine therapeutische Aufarbeitung der Vergangenheit, auf ein schwesterliches Händchenhalten und gemeinsames Wundenlecken hoffen, hatte sie sich getäuscht. Forss hatte genug mit den eigenen Dämonen zu kämpfen, mit den ihren musste Nyström ohne sie fertigwerden. Wozu war sie verdammt noch mal mit einem Pastor verheiratet, wozu hatte sie eine große Familie, wozu waren Knutsson und Delgado da, die damals alles miterlebt hatten und bis heute zu ihr standen? Forss dagegen war wie immer allein.
Sie stellte den Wagen ab und stieg aus. Das Wetter war umgeschlagen. Es schien zwar noch die Sonne, aber von Westen her war ein kalter, böiger Wind aufgekommen, der die Tannenwipfel zum Tanzen brachte. Auf der schmalen Zufahrtsstraße waren ihr einige Autos entgegengekommen, dennoch war der geschotterte Parkplatz, der die Größe eines halben Fußballplatzes hatte, noch zu zwei Dritteln gefüllt. Es herrschte ein buntes Treiben und eine freudige, fast ausgelassene Stimmung. Junge Menschen kamen schwer bepackt aus dem Wald und beluden Autos mit Campingausrüstung. Man umarmte sich zum Abschied, man winkte, einige sangen laut und beschwingt. Ein Mann in einer Art Bastrock und Schafsfellweste zeigte Tricks mit einem Diabolospiel. Ein gelenkiger Rentner war auf einen Baum geklettert und machte sich daran, ein metergroßes Stoffbanner zu lösen, das im Wind knatterte. Lodjurskogen bleibt! Eine Frau in kurzärmligem Trekkingoutfit verteilte Flugblätter. Irgendwo galt es den nächsten Wald zu retten, die nächste Bahntrasse, Mine oder einen Windkraftpark zu verhindern. Alle wollen die Klimawende, dachte Forss, nur nicht vor der eigenen Haustür. Sie griff sich ein Flugblatt. Es war wenig überraschend kein Flyer der Luchse , sondern die Kampfschrift einer Naturschutzgruppe, die die rücksichtslosen Abholzpraktiken des staatlichen Waldkonzerns auf samischem Gebiet in Nordschweden anprangerte. Sie faltete das Blatt, steckte es sich in die Hosentasche und ging den Menschen entgegen, die in kleinen Gruppen aus dem Wald trudelten. Hinter dem Parkplatz führte ein breit ausgetretener Weg etwa hundert Meter an hohen Absperrgittern vorbei, hinter denen ein Barackendorf für Waldarbeiter errichtet worden war. Ein Kranwagen bugsierte die großen Wohncontainer bereits wieder auf einen Tieflader. Auf einen anderen Tieflader wurde eine schwere Forstmaschine verladen. In der Nähe stand ein Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei, die Kollegen in Kampfmontur hatten die Helme abgenommen und sahen entspannt aus. Wenn Forss ihre Mienen richtig las, waren auch sie froh, dass es am Vortag nicht zum großen Knall gekommen war. Sie fragte sich, ob Knutsson mit seiner Hundertschaft bereits auf dem Weg war, um von der Südseite her den Wald zu durchkämmen. Eine seltsame Geschichte war das. Während hier der Bär los war, hatten sich nur wenige Kilometer südlich von hier angeblich vier Teenager und ein Lehrer in Luft aufgelöst. Wie war das möglich? Konnte man sich in einem Wald verirren, in dem sich zeitgleich mehrere Hundert Menschen aufhielten? Der Gegensatz fühlte sich unwirklich an. Trotzdem war es denkbar. Jedenfalls wenn der Wald groß und unübersichtlich genug war. Oder hatten das Camp und der Vermisstenfall womöglich sogar miteinander zu tun? Hatten sich die Oberstufenschüler den Protestierenden angeschlossen? Es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass das Green Village auf eine Gruppe Heranwachsender einen starken Sog ausübte: Rebellion, Selbstbestimmung, Zugehörigkeitsgefühl, Naturromantik, Zugang zu Alkohol und vielleicht auch zu anderen Drogen. Aber wo blieb in einem solchen Szenario der Lehrer? War er auch ein verkappter Umweltaktivist und hatte sich den Schülern angeschlossen? Aber warum ließ er seine ahnungslose Kollegin allein zurück? Wie hatte die Frau überhaupt einen ganzen Tag verschlafen können? Auch wenn sie mit der seltsamen Geschichte selbst nichts zu tun hatte, spürte sie, wie sich ihr kriminalistischer Instinkt regte. Deutlich mehr als bei der Aussicht, ein dämliches Loch im Waldboden zu untersuchen. Nach weiteren zweihundert Metern hatte sie das Green Village erreicht. Das Zentrum des Camps bildeten fünf alte Buchen, auf deren mächtigen Zweigen Plateaus und Baumhütten in verschiedenen Höhen, Größen und Materialien gebaut worden waren. Die Bäume waren mit Hängebrücken aus Seilen miteinander verbunden. Zu Füßen dieses Baumdorfs befanden sich eine Feldküche, ein großes Versammlungszelt, verschiedene Jurten, Segeltuchtipis und moderne Trekkingzelte. Weiter hinten stand eine Reihe mobiler Toilettenhäuschen, wie man sie von Musikfestivals kannte. Forss fragte sich, wie die Klos dorthin gelangt waren. Für Autos war der Weg nicht breit genug gewesen. Vielleicht hatte man ja Quads benutzt. Unter den Bäumen saßen Menschen in Gruppen und unterhielten sich. Kinder flitzten umher, ein Junge in einem Dinosaurierkostüm jagte seine Spielkameraden mit einer Wasserpistole vor sich her. Einige Jugendliche hatten sich in einem Kreis aufgestellt und spielten sich einen Volleyball zu. Von der Feldküche her roch es nach Knoblauch und Kichererbsen, irgendjemand in der Nähe rauchte Gras, aus an Ästen montierten Lautsprechern plätscherte leise Musik. Sie mischte sich unter die Leute und sah sich um. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Auf einer Anschlagtafel waren diverse Ankündigungen und politische Infopapiere angepinnt. Sie überflog die Blätter, von den Wilden Luchsen war nichts dabei. Nachdem sie eine Runde durch das Lager gedreht hatte, beschloss sie weiterzugehen. Im selben Augenblick entdeckte sie etwas. Es war ein junger Mann, der eine Art Seidenturban trug. Er stand in der Schlange vor der Essensausgabe. Es war sein T-Shirt, das ihre Aufmerksamkeit erregt hatte. Ein rotes T-Shirt mit einem zähnefletschenden Luchskonterfei. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer verschlissenen Jeans, schlenderte zu ihm und sprach ihn an.
»Na, alles cool so weit?«
Sein Gesichtsausdruck machte deutlich, dass sie nicht ganz den Ton ökologisch-alternativer Mittzwanziger getroffen hatte. Er musterte sie. Auf seiner Stirn stand ein großes Fragezeichen. Die Augenklappe hatte diese Wirkung auf Menschen. Der Versuch, sie und die eigene Haltung dazu einzuordnen, irgendwo zwischen Krüppel und Piratenbraut, zwischen Mitleid und Abscheu oder gar einer verdrehten Attraktion, misslang meistens und löste deshalb Irritation und Ratlosigkeit aus.
»Ja, alles cool so weit. Und selbst?«
Sie kam so nahe, dass sie ihn hätte umarmen können, und wippte auf den Sohlen ihrer Doc Martens. Er überragte sie um zwei Kopflängen.
»Kommt darauf an«, sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf seine Brust. »Erklär mir dein Shirt.«
»Wie bitte?«
»Du sollst mir den Aufdruck deines Shirts erklären!«
»Hast du irgendein Problem?«
Zwei Mädchen im Teenageralter, die vor ihnen in der Schlange standen, drehten sich zu ihnen um.
»Kommt ganz darauf an.«
Das Forss’sche Polizeihandbuch, Lektion Nummer einundzwanzig: »Die Mittel dem Gegner anpassen.« Paragraf zwei: »Die paradoxale Intervention.«
Sie zog lautstark Schleim aus dem Rachen hoch und rotzte neben ihm auf den Boden.
Er sah sie entgeistert an.
»Sag mal, tickst du noch richtig?«
Sie reckte ihr Kinn vor und stupste ihn mit dem Handballen gegen die Brust.
»Was hast du mit den Wilden Luchsen am Hut?«, fragte sie.
»Hä?«
»Ob du zu den Luchsen gehörst?«
»Spinnst du jetzt, oder was?«
»Nun sag schon, Luchsfresse.«
Sie stupste ihn fester.
»Du hast doch nicht alle Latten am Zaun! Bist du auf Droge, oder was?«
Seine Stimme überschlug sich. Alle in der Schlange wandten sich ihnen nun zu, auch andere Leute, die ringsherum in Hörweite standen.
»Alles in Ordnung, Joakim?«, fragte die Frau mit der Suppenkelle.
»Keine Ahnung, diese alte Tussi hier hat irgendein Problem!«
»Alte Tussi? Was soll denn jetzt diese sexistische Kackscheiße, Alter?«, rief eine andere Frau, die ein Stück weiter weg stand und ihre langen Haare zu zwei imponierenden Schnecken aufgewickelt hatte. Sie kam näher.
Chaos, registrierte Forss zufrieden, wunderbar.
»Ich will wissen, ob du etwas mit den Luchsen zu tun hast!«
Sie brüllte jetzt ebenfalls.
Eskalieren und beobachten.
In seinem Gesicht kämpften Wut und Panik miteinander, sie hätte wetten können, dass er noch nie in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen war. Sie schubste ihn erneut, diesmal noch fester.
»Nein, verdammt!«, schrie er zurück. »Ich habe mit denen nichts am Hut!«
Am Rande ihres Gesichtsfelds nahm sie eine Bewegung wahr, die nicht ins Bild passte. Sie drehte den Kopf. Alle Menschen im Umkreis von vierzig, fünfzig Metern hatten sich ihnen nun zugewandt, sahen her, blieben stehen oder kamen langsam näher. Bis auf eine Ausnahme. Die schwarz gekleidete Gestalt, die rasch das Camp verließ, drehte sich im Gehen um. Ihre Blicke trafen sich für zwei lange Sekunden. Eine junge Frau. Dann verschwand sie im Laufschritt zwischen den Bäumen.
»Scheiß drauf«, zischte Forss, stieß ihn beiseite und nahm fluchend die Verfolgung auf.