Maja Fahl war etwa so alt wie Ingrid Nyström selbst, Ende fünfzig, was die Hauptkommissarin überraschte, sie hatte damit gerechnet, dass die Lehrerin deutlich jünger sei, warum, wusste sie selbst nicht, vielleicht weil sie an ihren eigenen steifen Rücken denken musste, an das altersbedingte Zwicken und Zwacken, dazu kamen die frisch operierten Verletzungen, und sie fragte sich, ob sie selbst sich auf einen dreitägigen Zeltausflug mit Jugendlichen eingelassen hätte. Eher nicht. Aber vermutlich war ihr Gegenüber sportlicher als sie, und vermutlich gehörte diese Art von Abenteurertum zum beruflichen Selbstbild der Lehrerin. Fahl hatte mittellanges Haar und trug ein Trekkingoutfit, das aus Wanderschuhen, khakifarbenen Cargohosen und einer farbenfrohen Funktionsjacke bestand. Ihr standen Falten auf der Stirn, und sie hatte Ringe um die ungeschminkten Augen.
»Etwas Wasser?«
»Ja, bitte.«
Nyström schenkte ein und reichte ihr das Glas. Fahl trank in langen Zügen. Sie saßen am großen, ovalen Tisch im Besprechungszimmer, von wo aus ein bodentiefes Panoramafenster den Blick auf Växjös Innenstadt gewährte. Im böigen Westwind zeigten die Krähen ihre Flugkunststücke.
»Wo fange ich am besten an?«, fragte Fahl, nachdem sie das Glas ausgetrunken und abgesetzt hatte.
»Für uns ist eine der wichtigsten Fragen, wie lange die Schüler und dein Kollege bereits im Wald verschwunden sind. Wann genau hast du sie das letzte Mal gesehen?«
Fahl rieb sich mit beiden Händen die Schläfen, dann blickte sie Nyström an.
»Es ist merkwürdig«, sagte sie, nahm ihre Hände vom Kopf und legte sie auf die Tischplatte, wo die Finger wie in Zeitlupe auf einer imaginären Tastatur herumklimperten. »Ich kann es nämlich nicht mit Bestimmtheit sagen. Ich erinnere mich daran, dass wir die Zelte aufgebaut haben. Mein Kollege Mikkael und ich haben ein einfaches Abendessen zubereitet. Dann haben wir gemeinsam gegessen und in der Dämmerung unweit unseres Lagers mithilfe einer speziellen Lampe und einem weißen Bettlaken eine Mottenfalle aufgebaut, das muss gegen sieben, halb acht gewesen sein. Mit dem Zählen und Bestimmen der Falter waren wir schätzungsweise zwei Stunden beschäftigt. Danach saßen wir noch ein wenig zusammen vor den Zelten und haben uns unterhalten. Ich weiß noch, dass es in dem Gespräch um Musik ging, um das, was die Schüler heute hören, und das, was Mikkael, mein Kollege, und ich früher gehört haben. Es ging um Beyoncé und Roxette. Das muss gegen zehn oder elf Uhr gewesen sein. Ab da verschwimmt meine Erinnerung, alles wird undeutlich. Wie ein Filmriss. Als ich am nächsten Tag wieder wach wurde, dämmerte es bereits wieder. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich aufs Handy gesehen habe, ich muss bestimmt zwanzig Stunden tief geschlafen haben, vollkommen ausgeknockt.«
Ihr Blick offenbarte Schuldgefühle, Ratlosigkeit und Angst.
Nyström nickte verständnisvoll. Es war weder zu übersehen noch zu überhören, dass sich Fahl schwere Vorwürfe machte.
»Ich muss diese Frage stellen: War an dem Abend Alkohol im Spiel?«
»Ich …« Ihre Fingerbewegungen wurden fahriger. Schließlich nickte sie. »Ja.« Abrupt nahm sie die Hände vom Tisch und legte sie in den Schoß. »Ich weiß. Es war falsch. Es war unverantwortlich. Aber es war auch nicht viel. Ein Glas Wein. Oder vielleicht anderthalb. Selbst wäre ich nie auf die Idee gekommen, alkoholische Getränke mit auf eine schulische Veranstaltung zu nehmen, Mikkael ebenso wenig, wir waren schließlich im Dienst und hatten eine Aufsichtspflicht gegenüber unseren Schülern.«
»Aber?«
»Es soll nicht nach einer Ausrede klingen, doch der Wein war ein gemeinsames Geschenk der vier Schüler. Etwas ganz Besonderes, eine Flasche Meursault für Mikkael und mich, weil wir uns neben ihrer Klassenlehrerin im vergangenen Schuljahr sehr um sie bemüht hatten. Weil wir ihnen diesen Ausflug ermöglichten. Weil wir immer für sie da sind. Man denkt so oft, dass Siebzehnjährige in dem Alter reif sind, beinahe bereits erwachsen. Im Vergleich zu Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen stimmt das auch. In der kurzen Zeit, die dazwischenliegt, machen die meisten einen großen Entwicklungssprung. Doch ungeachtet der körperlichen und kognitiven Entwicklung steckt in den meisten noch eine sehr kindliche Seele. Sie brauchen Orientierung, Geborgenheit und Bestätigung, trotz aller Abnabelung und ihres Selbstbehauptungswillens. Für Internatsschüler trifft das noch mal verstärkt zu. Es ist nicht leicht, mit abwesenden Eltern aufzuwachsen, und sosehr wir Lehrkräfte uns auch bemühen: Wirklich auffangen können wir diesen Mangel an elterlicher Zuwendung nicht.« Sie holte tief Luft. »Aber ich schweife ab, Entschuldigung. Die Schüler hatten bei ihrem Geschenk an alles gedacht, sie hatten sogar zwei Weingläser und einen Korkenzieher dabei. Was soll ich sagen? Wir hätten ihrem Drängen nicht nachgeben dürfen, aber wir haben es trotzdem getan. Als wir da alle gemütlich im Kreis unter dem Sternenhimmel vor den Zelten versammelt saßen, war die Atmosphäre zu verführerisch. Ein Glas kann nicht schaden, habe ich gedacht. Kannst du das verstehen?«
Es ist völlig egal, ob ich das verstehen kann oder nicht, dachte Nyström, trotzdem nickte sie. Hier ging es nicht um ein moralisches Urteil, sondern darum, so viele brauchbare Informationen wie möglich zu bekommen.
»Wir werden einen Bluttest machen müssen.«
»Glaubst du mir nicht?«
Sie klang nicht empört, trotzdem bildete sich auf ihrer Stirn eine senkrechte Falte.
»Hier geht es nicht um Glauben, Maja, hier geht es zunächst einmal darum zu verstehen, was geschehen ist. Was du da beschreibst, ist ein Blackout. Du hast beinahe einen ganzen Tag verschlafen. Auch wenn das jetzt harsch klingt: Ähnliche Schilderungen kennen wir von Vergewaltigungsopfern, die mit starken Beruhigungsmitteln außer Gefecht gesetzt wurden. Die berüchtigten K.-o.-Tropfen im Cocktailglas. Im Zusammenspiel mit Alkohol können solche Medikamente selbst einen Elefanten umhauen. Nimmst du regelmäßig Benzodiazepine wie zum Beispiel Valium?«
Die Lehrerin schüttelte vehement den Kopf.
»Ich nehme so gut wie überhaupt keine Medikamente, wenn man einmal von einer Aspirin hier und da absieht.«
»Okay. Gut. Trotzdem führt kein Weg an einer Blutentnahme vorbei. Vielleicht war der Wein mit solchen Wirkstoffen versetzt.«
»Aber warum sollte …«
»Sprechen wir über deinen Kollegen. Wie würdest du ihn beschreiben?«
»Mikkael ist rund fünfzehn Jahre jünger als ich, also um die vierzig. Ein sehr engagierter Lehrer, wir kennen uns, seit er vor zwei Jahren an die Schule gekommen ist. Ein talentierter Quereinsteiger, der eine Karriere beim Theater hinter sich gelassen hat, um bei uns am Sokrates zu unterrichten. Unser Anspruch besteht darin, die jungen Menschen auf das echte Leben draußen vorzubereiten. Die Rektorin stellt deshalb auch gern Lehrkräfte ein, die qualifizierte Ausbildungen in schulfernen Fachgebieten haben. Bevor Mikkael sich für das Unterrichten entschieden hat, war er Bühnenschauspieler, unter anderem sogar am Dramaten. «
»Ein ehemaliger Schauspieler, noch dazu vom bekanntesten Theaterensemble des Landes, der jetzt Biologie unterrichtet?«
»Nein, die Biologielehrerin bin ich, mein Spitzname lautet Mottenfrau.« Sie lächelte leise. »Mikkael ist Theaterlehrer.«
»Warum war er dann auf der Exkursion dabei?«
»Weil es ein fachübergreifendes Projekt war. Die Schüler sollten am folgenden Tag einige Szenen aus der Dreigroschenoper aufführen. «
»Waldtheater?«
»Warum nicht? Die Schüler haben das gemeinsam mit Mikkael so erarbeitet. Wenn ich es richtig verstanden habe, ging es darum, dem bekannten Stück von Bertolt Brecht einen zeitgemäßen ökologischen Twist zu geben.«
»Ist Mikkael verheiratet?«
»Ja«, sagte Fahl mit Nachdruck. »Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ich verstehe aber nicht, warum die Frage … Oder willst du etwa andeuten, dass er …?«
Nyström schnitt ihr das Wort ab.
»Kommen wir zu den Schülern.«
»Die beiden Jungen und Mädchen sind wie gesagt siebzehn Jahre alt und machen im nächsten Jahr ihren Abschluss.«
»Ihre Handys?«
»Wieso?«
»Wegen der Ortung.«
»Ach so.« Zerknirscht biss sich Fahl auf die Unterlippe. »Sie haben sie nicht auf die Exkursion mitnehmen dürfen. Die Smartphone-Politik des Internats ist auf Wunsch der Eltern ziemlich restriktiv.«
»Sind es gute Schüler?«
»Ich teile Menschen nicht in gut und schlecht auf, junge Menschen schon gar nicht. Das mag bei der Polizei funktionieren, aber nicht in meinem Tätigkeitsbereich.«
Nyström spürte, wie sich zwischen ihnen zunehmend Spannung aufbaute. Das war nicht gerade zielführend, kam in ähnlichen Situationen aber oft vor. Angst, Scham und Schuldgefühle konnten eine explosive Mischung ergeben. Umso wichtiger war es, dass sie selbst geduldig und gelassen blieb.
»Dann formuliere ich es anders: Gab es bei den Schülern irgendwelche Auffälligkeiten oder Probleme?«
Sie maßen einander mit Blicken, ein überflüssiges Kräftemessen, denn sie wollten ja beide im Grunde dasselbe. Nyström verstand selbst nicht, woher ihre unterschwellige Irritation stammte.
»Sie haben es alle vier nicht leicht. Auch wenn ich mich wiederhole: Man vergisst, wie verletzlich Jugendliche kurz vor dem Erwachsenwerden noch sein können. Internatsschüler werden fälschlicherweise oft als abgehobene reiche Schnösel bezeichnet. Es stimmt, dass die Eltern viel Geld für die Ausbildung ihrer Kinder bezahlen. Aber das macht es für unsere Schützlinge nicht leichter. Oft ist sogar das Gegenteil der Fall, denn mit dem investierten Kapital, manche Elternhäusern sehen das tatsächlich so, wächst auch der Druck auf die Kinder. Wir versuchen, das aufzufangen und ihnen eine professionelle, sichere und liebevolle Lehr- und Lebensumgebung zu bieten. Die vier Mädchen und Jungen hatten alle gewisse Schwierigkeiten mit sich, dem Internatsleben und den schulischen Leistungen. Wenn man so will, waren es Außenseiter, bis wir sie im vergangenen Schuljahr aus den regulären Klassen herausgenommen und zu einer eigenen kleinen Lerngruppe zusammengefasst haben. Sie werden deutlich intensiver betreut als ihre Mitschüler, und wir kommen ihrem individuellen Lerntempo und ihren Interessen mehr entgegen. So kam die Exkursion in den Wald überhaupt erst zustande. Darauf sind wir bei Sokrates stolz: Keiner wird zurückgelassen.«
Das klingt wie aus einem Kriegsfilm, dachte Nyström, trotzdem sind jetzt vier Schüler verschwunden, und ein Lehrer obendrein. Aber das sprach sie natürlich nicht aus.
»Hast du selbst irgendeine Idee oder einen Erklärungsansatz, wo die Schüler und dein Kollege sein könnten? Sind sie möglicherweise zu der Stelle im Wald weitergezogen, an der ihr die zweite Nacht verbringen wolltet?«
»Nein, das ist unmöglich, denn sie wissen gar nicht genau, wo dieser Ort liegt. Ich habe ihn ausgesucht, und wir hatten überhaupt noch nicht detaillierter darüber gesprochen. Außerdem war ja alles noch da, die Zelte, die Schlafsäcke, unsere Ausrüstung und der Proviant. Du kannst mir glauben, dass ich in der ganzen vergangenen Nacht nichts anderes getan habe, als darüber nachzudenken, was passiert sein könnte. Aber mir fällt absolut keine Erklärung ein.« Sie sah verzweifelt aus. »Und ich möchte noch einmal betonen, dass ich Mikkael für einen ausgezeichneten und verantwortungsvollen Lehrer halte. Dass er die Schüler in irgendeiner Art und Weise einer Gefahr aussetzt, halte ich für undenkbar.«
Nyström wartete einen Moment, ob Fahl doch noch etwas einfiel, doch das war nicht der Fall.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Noch mal: Ich weiß, dass die Fragen nicht angenehm sind, aber ich musste sie stellen. Vielen Dank für die offenen Worte.«
»Und was passiert jetzt?«
Nyström setzte ein zuversichtliches Lächeln auf.
»Jetzt suchen und finden wir sie.«