Das Sokrates lag auf dem westlichen Teil einer Landzunge, die nördlich des Stadtzentrums in den Helgasee ragte. Kommissaranwärterin Sara Hjalmarsson, die seit Kindheitstagen eine leidenschaftliche Reiterin war, kannte die Gegend, da dort Stallungen und Pferdewiesen lagen und sie dort öfter an Springreitturnieren teilgenommen hatte. Die Internatsschule, die zwischen den weitläufigen Weiden lag, hatte sie jedoch bisher nur aus der Ferne gesehen. Sie parkte ihren Wagen vor dem großen verwinkelten Holzbau aus der Jahrhundertwende, der sie an eine restaurierte Riesenversion der Villa Kunterbunt erinnerte. Sie nahm die drei Stufen einer breiten Treppe und betrat das imposante Gebäude durch den Haupteingang. Drinnen roch es nach Bohnerwachs und Kreidestaub, ein altmodischer Geruch, der sie an ihre eigene Grundschulzeit erinnerte, die zwar erst fünfzehn Jahre zurücklag, aber trotzdem wie eine ferne Epoche wirkte, in der noch keine Tablets Einzug in den Unterricht gehalten hatten. Irgendwo in den Räumlichkeiten übte jemand Tonleitern auf einer Violine. Als ihr zwei Schülerinnen entgegenkamen, fragte sie nach dem Weg ins Sekretariat. Die beiden Teenager führten sie hin und verabschiedeten sich mit einem Knicks. Hjalmarsson musste sich ein Lächeln verkneifen. Ein Knicks. An einer schwedischen Schule. Im einundzwanzigsten Jahrhundert. Im Sekretariat erklärte sie, wer sie war, und eine Angestellte bat sie, kurz Platz zu nehmen. Zwei Minuten später öffnete die Rektorin ihre Bürotür und winkte sie herein. Hanna Ankarberg war eine große, schlanke Frau Mitte vierzig, die einen Hosenanzug, eine Perlenkette und die Haare zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden trug. Sie bot Hjalmarsson einen bequemen Stuhl und Kaffee an, den die Ermittlerin dankend ablehnte. Sie wollte sofort zur Sache kommen, und sie hatte den Eindruck, dass dies der Schulleiterin ebenfalls recht war, denn unter dem distinguierten Auftreten und den Höflichkeitsfloskeln spürte Hjalmarsson die Nervosität und Anspannung der Frau.

»Sind die Eltern der Schüler mittlerweile informiert?«

Ankarberg nickte. Sie hatte ihre Beine übereinandergeschlagen, und die verschränkten Hände umfassten ein Knie. Es sah aus, als würde sie sich mit viel Kraft selbst zusammenhalten. Auf ihrer linken Schläfe pochte eine Ader.

»Selbstverständlich.« Die Mundwickel zuckten »Keiner der Schüler hat sich zu Hause gemeldet. Natürlich sind die Eltern extrem besorgt. Mehrere Elternteile sind bereits auf dem Weg hierher. Ich habe selbstverständlich auch die Ehefrau unseres Angestellten benachrichtigt. Leider hat auch sie seit vorgestern Abend nichts mehr von ihrem Mann gehört. Die letzte Message hat sie gegen zwanzig Uhr erhalten. Ein idyllisches Waldfoto garniert mit einem Smiley. Da schien also noch alles in Ordnung zu sein. Daraufhin hat sie noch einmal zurückgeschrieben, aber keine Antwort mehr erhalten.«

»Wir brauchen die Handynummern des Lehrers und der Schüler. Möglicherweise können wir sie orten.«

Ankarberg löste sich aus der angestrengt wirkenden Sitzposition, hielt sich eine Hand vor den Mund und kniff die Augen zu, so als wollte sie den Impuls unterdrücken zu weinen. Nach wenigen Momenten fand sie ihre Fassung wieder und faltete die Hände vor ihrem Bauch.

»Ich fürchte, die Schüler haben ihre Smartphones nicht bei sich.«

»Warum das?«

»Auf Ausflügen und Exkursionen haben unsere Eleven nie ihre Handys dabei. Den Schülern tut das digital detoxing gut.«

»Das bedeutet, die Handys befinden sich alle hier im Internat?«

»Richtig.« Hjalmarsson fluchte innerlich. Mithilfe von Smartphones und deren Trackingmöglichkeiten waren in der Vergangenheit viele ähnliche Vermisstenfälle gelöst worden. Kreidestaub und digital detoxing. In was für einer Welt war sie hier nur gelandet? Ihr Gegenüber wechselte nervös die Sitzposition.

»Ich werde die Handys mitnehmen müssen.«

Unwahrscheinlich, dass sich darauf irgendetwas befand, was das Verschwinden der vier Schüler erklären konnte. Doch sicher war sicher.

Die Schulleiterin ging nicht auf ihre Worte ein.

»Was ist da im Wald nur geschehen?«, fragte sie stattdessen.

Das frage ich mich auch, dachte Hjalmarsson, sprach es aber natürlich nicht aus.

»Statistisch spricht alles dafür, dass sie sich schlichtweg verlaufen haben. Das Gebiet ist unübersichtlich und sehr weitläufig. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir sie finden. Trotzdem ist es wichtig, dass wir so viel wie möglich über die Jugendlichen und den Lehrer erfahren. Sind solche außerschulischen Exkursionen in Kleingruppen üblich?«

»Unser Schulmotto lautet: Wissen heißt Handeln , ein Zitat unseres Namenspaten, das wir ernst nehmen. Die Schüler sollen zu einem eigenverantwortlichen Leben befähigt werden. Dazu sind auch Lernorte außerhalb der Schule nötig. Ein Privatinternat ist kein Elfenbeinturm, auch wenn das fälschlicherweise viele Menschen denken.«

Hjalmarsson nickte. Die nächste Frage, die sie sich überlegt hatte, war schwerer zu formulieren. Aber auch das gehörte wohl zu dem Beruf, den sie gewählt hatte: Worte, die wehtaten.

»Dass Heranwachsende gemeinsam mit ihren Lehrern im Wald übernachten, ist also kein Problem?«

Ankarberg verschränkte die Arme vor der Brust.

»Mir gefällt nicht, was die Frage intendiert. Unser gesamter Lehrkörper ist selbstverständlich über jeden Zweifel erhaben. Die Eltern sind natürlich über jeden Schulausflug im Bilde und haben ihr Einverständnis gegeben.«

»Bedeutet dies, dass es noch nie Beschwerden über den Lehrer gab? Gerüchte?«

In den angespannten Gesichtsausdruck der Rektorin mischte sich Empörung.

»Was für Gerüchte?«

»Nennen wir es Grenzüberschreitungen.«

»Natürlich nicht! Mikkael ist die sprichwörtliche Anständigkeit in Person. Verlässlich und empathisch, alle an der Schule mögen ihn. Im Übrigen ist er glücklich verheiratet und Vater zweier Kinder, falls die Frage dahin zielte.«

»Was ist mit den vier Schülern?«

»Was soll mit ihnen sein?«

»Wer sind die vier? Gibt es Vorgeschichten, Auffälligkeiten, medizinische Probleme? Das alles kann sehr wichtig sein, daher wäre ich für offene Worte äußerst dankbar.«

»Tut mir leid, aber solche Dinge unterliegen natürlich dem Datenschutz.«

Hjalmarsson musste an den Ratschlag der Chefin denken. Nyström hatte die Situation exakt vorausgesehen. Was natürlich gut war. Aber nicht zum ersten Mal geschah. Sicherlich hätte sie allein auch eine Lösung gefunden. Die Grenze zwischen einem guten Tipp und Bevormundung war fließend. Die Mutter seiner Partnerin zum Boss zu haben konnte ziemlich nerven.

»Natürlich respektieren wir die Integrität der Schüler. Aber jedes Detail kann uns unter Umständen weiterhelfen und die Suche abkürzen. Je schneller wir sie finden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Medien auf die Sache aufmerksam werden und das Sokrates in den Fokus der Öffentlichkeit rückt, nicht wahr?«

Die Rektorin musterte sie. Hjalmarsson wusste, was sie sah. Eine ausgesprochen hübsche, leicht naiv wirkende Blondine Anfang zwanzig mit Zahnspange und Brille. Die sich gerade als abgezockte Kriminalbeamtin erwies. Was eine kognitive Dissonanz hervorrief. Daher das Starren. Es passierte Hjalmarsson ständig. Aber lieber unter- als überschätzt werden, mein Schatz, hatte ihr Vater ihr schon als Kind eingebläut. Recht hatte er.

»Gut.« Ankarberg seufzte. Es klang resigniert. »Also gut. Wenn es der Sache dient.« Sie klopfte auf die dünnen Ordner, die vor ihr lagen. Offenbar hatte sie die Schülerakten bereits herausgesucht. »Aber nur relevante Informationen, inoffiziell übermittelt.«

»Ich fürchte …«

Hjalmarsson sprach den Satz bewusst nicht zu Ende. Sie verkniff sich ein Gewinnerlächeln. Nyströms Masche funktionierte, das tat sie meistens. Sie nahm ihr Handy aus der Tasche, aktivierte die Audioaufnahme und legte es vor Ankarberg auf den Schreibtisch.

»Muss das wirklich sein?«

»Ja. Und die Smartphones der Schüler benötige ich, wie gesagt, ebenfalls.«

»Also gut, wenn es der Sache dient«, wiederholte sie ihre eigenen Worte und blätterte seufzend in den Akten. »Da wäre Emil Fallenius, siebzehn Jahre alt, Einzelkind, die Eltern leben in Göteborg und betreiben eine Agentur, die sich um die Vermarktung von Profisportlern kümmert. Beide haben einen Hintergrund als erfolgreiche Leichtathleten. Emils Vater war in den Neunzigerjahren sogar schwedischer Vizemeister und hat an den Olympischen Spielen teilgenommen. Emil selbst ist nicht besonders sportbegeistert, um es vorsichtig zu formulieren. Bevor er zu uns kam, gab es wohl mehrfach Probleme mit Ausgrenzung und Mobbing. Ein stiller, unauffälliger Junge, der mit seinem Übergewicht und seiner Verschlossenheit kämpft. Auch hier hatte er Anlaufschwierigkeiten, aber mittlerweile geht es ihm deutlich besser, was vor allem an unserer Sonderpädagogin und seinen drei Mitschülern liegt. Wir haben nämlich im vorigen Schuljahr die vier Spezialisten des Jahrgangs, wie wir sie liebevoll nennen, aus den regulären Klassen genommen und sie in einer Kleinlerngruppe zusammengeführt. Seitdem läuft es für alle vier deutlich besser. Sie sind zu einer richtig verschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen, und darauf sind wir außerordentlich stolz.« Sie machte eine Wirkungspause, als wollte sie Hjalmarsson Zeit geben, diese Leistung zu verstehen und entsprechend zu würdigen. »Der zweite Junge ist ebenfalls siebzehn und heißt Viktor Wijk. Seine Eltern sind geschieden. Der Vater arbeitet für Volvo in China, die Mutter pendelt zwischen Stockholm und New York. Erfolgreiche internationals, im besten Sinne. Sagt dir Hultqvist-Cosmetics etwas?« Hjalmarsson nickte. Sie hatte eine Hautpflegelinie der bekannten Marke. »Nicht wahr? Viktors Tante ist die Gründerin des Unternehmens, ihre Schwester, also Viktors Mutter, ist CEO . Viktor hat seit der Grundschule massive Konzentrationsschwierigkeiten und eine ADHS -Diagnose. Dank unserer Hilfe haben sich seine schulischen Leistungen stabilisiert, und es geht ihm auch psychisch erheblich besser.« Fahrig fuhr sich Ankarberg übers straff gebundene Haar. Als sie sich der Geste bewusst wurde, zog sie ihre Hand zurück, als hätte sie sich an ihrem Haar verbrannt. »Die Dritte im Quintett ist Julia Lihadji, auch siebzehn. Ihre ein Jahr jüngere Schwester ist nach den Sommerferien ebenfalls zu uns gekommen. Die Eltern arbeiten beide im diplomatischen Dienst und sind weltweit im Einsatz. Frankreich, Singapur, Abu Dhabi, you name it.«

»Warum Quintett?«

»Wie bitte?«

»Du hast gerade Quintett gesagt. Julia sei die dritte im Quintett. Dabei sprechen wir doch von vier Schülern, nicht von fünf. Oder habe ich irgendetwas missverstanden?«

Ankarbergs Miene fror für eine oder zwei Sekunden ein, dann fand sie ihr professionelles Lächeln wieder.

»Quartett muss es natürlich heißen. Dass mir als studierter Philologin so ein lapsus unterläuft, ist mir sehr peinlich.« Sie zwinkerte Hjalmarsson mit beiden Augen zu, was angesichts der Situation merkwürdig deplatziert wirkte. »Mein alter Lateinlehrer wird sich im Grabe umdrehen.«

»Macht ja nichts.«

»Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei Julias Eltern.«

»Genau. Richtig. Die Lihadjis haben entschieden, dass sie ihren Kindern ein Leben auf gepackten Koffern nicht zumuten wollen. Julia braucht Stabilität und Verlässlichkeit, sie hat eine gewisse Historie, was ihre Bulimie betrifft, und bekommt schon seit Langem psychologische Unterstützung. Sie trifft einmal die Woche eine Therapeutin. Auch bei ihr konnten wir glücklicherweise im vergangenen Jahr eine deutliche Verbesserung des Wohlbefindens und der schulischen Leistungen feststellen. Julia ist mit Mathilda Adlercreutz befreundet, der Ältesten im Bunde. Mathilda war, als sie vor gut zwei Jahren zu uns kam, eine verschlossene Einzelgängerin mit autistischen Zügen. Heute geht es ihr gut, ein ernstes, kluges Mädchen. Auch sie hat unheimlich von unserer Erfahrung und besonderen Pädagogik profitiert.«

»Moment mal.« Hjalmarsson kannte den ungewöhnlichen Nachnamen aus einem anderen Zusammenhang. »Adlercreutz wie der Politiker Jan Adlercreutz?«

»Sie ist seine Tochter.«

Hjalmarsson schluckte. Jan Adlercreutz war ein hochrangiges Mitglied einer rechtspopulistischen Partei. Die Schwedendemokraten standen stabil bei annähernd zwanzig Prozent der Wählerstimmen und gewannen zunehmend an politischem Einfluss, auch weil die konservativen Parteien nach und nach die Skrupel gegenüber einer engeren Zusammenarbeit fallen ließen. Mit aggressiven Beiträgen in den sozialen Medien hatte Adlercreutz sich in den vergangenen Jahren einen unrühmlichen Namen gemacht. Aufgrund seiner homophoben und menschenverachtenden Ausbrüche war er für Hjalmarsson ein rotes Tuch. Er galt als einer der Chefideologen der rechtskonservativen Kulturrevolte, die sich nach einem Schweden zurücksehnte, das es so nie gegeben hatte. Mit seinen kontroversen Äußerungen hatte er sich viele Feinde gemacht, vor allen Dingen natürlich im linksliberalen Lager. Für die LGBT -Gemeinschaft, der sich Hjalmarsson als offen lesbische Frau zugehörig fühlte, war Adlercreutz eine Hassfigur. War es denkbar, dass das Verschwinden Mathildas und der Mitschüler sowie des Lehrers in einem Zusammenhang mit dem politischen Wirken ihres Vaters stand? War sie womöglich entführt worden? Aber was war dann mit den anderen geschehen?

»Das verkompliziert die Sachlage ungemein«, sagte sie. Ankarberg presste die Lippen aufeinander. Hatte die Rektorin tatsächlich vorgehabt, diese wichtige, womöglich sogar entscheidende Information zurückzuhalten? Hjalmarsson griff nach ihrem Smartphone und beendete die Aufnahme. »Ich muss das dringend meiner Chefin übermitteln.«

Wissen heißt Handeln. Vielleicht war das Motto der Internatsschule gar nicht so dumm.