Stina Forss rannte, so schnell sie konnte. Sie folgte dem Pfad, in den die davonlaufende Gestalt abgebogen war. Er wurde bald schmaler und wand sich zwischen Buchen und Eichen. Rechts und links des Wegs standen Preisel- und Blaubeerbüsche. Der Boden war von knotigen Wurzeln durchzogen. Ein falscher Schritt und sie würde stolpern und sich den Knöchel verstauchen. Mehrfach hatte sie zu Anfang ein Stück vor sich den Rücken der fliehenden Frau gesehen, aber nach einem guten Kilometer hatte sie sie aus den Augen verloren. Doch weit konnte sie nicht gekommen sein. Hätte sie sich in die Büsche geschlagen, hätte Forss niedergedrückte Zweige entdecken müssen. Deswegen rannte sie weiter, sie hatte noch Luft, das regelmäßige Joggen machte sich bezahlt. Als sich der Pfad aufgabelte, hielt sie sich rechts, weil dort der Weg breiter war. Nach zweihundert Metern teilte er sich erneut auf, diesmal bog sie links ab, und nach weiteren hundert Metern ein drittes Mal. Sie hielt sich rechts und lief nicht mehr so schnell. Ausgepowert und frustriert blieb sie schließlich in dem Labyrinth aus Sträuchern und hohen Bäumen stehen. Sie musste sich eingestehen, dass sie die Frau verloren hatte. Ihr Orientierungssinn sagte ihr, dass sie sich nun südwestlich des Camps befand. Sie nahm ihr Handy aus der Hosentasche, um ihre genaue Position zu bestimmen, doch sie hatte keinen Empfang. Das eingebaute GPS zeigte zwar an, wo sie sich befand, aber auf der digitalen Karte war sie nur ein Punkt in einer weißen Wüstenei. Sie verfluchte, dass sie das Kartenmaterial nicht im Vorhinein heruntergeladen hatte, dabei hatte Nyström auf die lückenhafte Netzabdeckung hingewiesen. Sie war und blieb im Herzen ein Stadtmensch. Nun gab es zwei Möglichkeiten. Zurück zum Green Village würde sie zweifelsohne finden. Aber um zu der Lichtung zu gelangen, auf der sich die Grube befand, war das logischerweise ein Umweg. Doch was blieb ihr anderes übrig, als umzukehren? Dass sich noch jemand im Wald verlief, hätte gerade noch gefehlt. Also machte sie kehrt. Der Wind rauschte in den Kronen der Bäume. Irgendwo machte jemand ein Lagerfeuer, das war deutlich zu riechen. Angesichts der anhaltenden Trockenheit und des starken Windes ganz schön riskant, dachte sie. Als sie die erste Weggabelung erreichte, stutzte sie. Aus der Richtung, aus der sie gekommen war, kam nicht ein Weg, sondern zwei. War sie von rechts oder links gekommen? Sie konnte es beim besten Willen nicht sagen. Sie entschied sich für links. Und bei der nächsten Gabelung wieder rechts. Und dann wieder links. Oder? Nach einer weiteren Viertelstunde war nicht mehr zu leugnen, dass sie sich verlaufen hatte. Warum sah es hier auch überall gleich aus? Buchen, Eichen und verdammte Büsche. Sie sah auf ihr Handy. Immer noch kein Empfang. Sich an der Sonne zu orientieren war leichter gesagt als getan. Das Blätterdach war dicht, und dort, wo es Lücken gab, sah sie die Sonne immer häufiger hinter Wolkenfetzen verschwinden, die der starke Wind vor sich hertrieb. Ihr kam eine andere Idee. Klettern hatte sie schon als Kind gut gekonnt. Ein Stück weiter stand eine Eiche, die sich mit ihren tiefen, massiven Ästen geradezu anbot. Zwei Minuten später befand sie sich sechs bis sieben Meter über dem Boden. Höher traute sie sich nicht. Außer Blättern und Ästen sah sie nicht mehr als vorher. Aber sie war auch nicht wegen des Ausblicks hinaufgeklettert. Sie nahm das Smartphone aus der Hosentasche. Tatsächlich empfing sie ein Signal. Schwach, aber besser als gar nichts. Das Handy zeigte drei verpasste Anrufe, alle von Hugo Delgado. Dazu eine SMS , ebenfalls von ihm. Der Wald brennt, sieh zu, dass du da rauskommst! Sie musste an den strengen Lagerfeuergeruch denken. Er kam und ging. Verflucht noch mal, das hatte ihr gerade noch gefehlt, reichte es nicht, dass sie sich verlaufen hatte? Keine Panik, redete sie sich ein, bloß keine Panik. Sie öffnete die Karten-App. Auf dem Bildschirm tauchten rund um den blauen Punkt, der ihren Standpunkt symbolisierte, nach und nach grüne und gelbe Flächen auf. Der Arm, mit dem sie sich am Baumstamm festklammerte, begann zu schmerzen. Lange würde sie die unbequeme Position nicht durchhalten können. Endlich war die Karte so differenziert, dass sie sich orientieren konnte. Sie befand sich anderthalb Kilometer südwestlich des Protestcamps. Offenbar hatte sie sich in der vergangenen halben Stunde in einem Halbkreis bewegt. Sie lud die Karte herunter und steckte das Handy ein. Der Westwind trug Rauchschwaden zu ihr. Es roch jetzt noch schärfer als zuvor. Sie kletterte, so schnell es ging, vom Baum hinab. Der Pfad, dem sie folgte, führte in Richtung Nordosten. Sie nahm das Laufen wieder auf. Das Green Village musste sofort evakuiert werden, alle Menschen mussten so schnell wie möglich aus dem Wald hinaus. Sicherlich hatte Delgado bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt. Als sie einen Ahornbaum passierte, wäre sie vor Schreck beinahe gestolpert. Da saß jemand. Auf dem Boden, an den Stamm gelehnt. Ein etwa siebzehnjähriges Mädchen in einem vor Dreck starrenden Ballkleid. Es war, als würde sie Forss überhaupt nicht bemerken. Ihr ausdrucksloser Blick verlor sich im Nirgendwo.