Nachdem Ingrid Nyström das Telefonat mit Hugo Delgado beendet hatte, wählte sie Lasse Knutssons Nummer und sandte ein Stoßgebet gen Himmel. Gott sei Dank nahm Knutsson ab, offenbar war er mit der Suchmannschaft noch nicht so weit vorgedrungen, dass er sich im Funkschatten befand. Der Wald musste augenblicklich geräumt werden. Knutsson sollte mit der Hundertschaft so schnell wie möglich zu den Fahrzeugen zurückkehren, zum Protestcamp fahren und das Green Village evakuieren, notfalls auch gegen den Willen der Aktivisten. Nachdem sie Knutsson instruiert hatte, schickte sie alle verfügbaren Streifenwagen nach Lodjurskogen. Sie sollten sämtliche Parkplätze kontrollieren, Zufahrten sperren und die Räumung des Gebiets unterstützen. Noch bevor sie aufgelegt hatte, hörte sie durch das offene Bürofenster, wie sich die heulenden Sirenen der Polizeifahrzeuge mit denen der Feuerwehr- und Krankenwagen mischten. Immer wieder kamen neue Sirenen dazu, bevor sie alle schließlich leiser wurden und irgendwann nicht mehr zu hören waren. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon. Es war Stina Forss. Sie war im Wald auf eine Jugendliche gestoßen. Das Mädchen befand sich in einem schlechten Zustand. Es war apathisch, sprach nicht und nahm seine Umgebung kaum wahr. Aufgrund des Alters und der ungewöhnlichen Kleidung vermutete Forss, dass es sich um eine der vermissten Schülerinnen handelte. Ihr war es gelungen, das lethargische Mädchen bis zum Parkplatz beim Protestlager zu führen. Nun würden sie direkt ins Krankenhaus fahren. Unmittelbar nach dem Gespräch schickte Forss noch ein Foto des Mädchens. Nyström betrachtete es und blickte in ein gleichermaßen versteinertes wie verstörtes Gesicht. Keine Minute später klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es ein Assistent des Einsatzleiters der Feuerwehr. Er informierte sie darüber, dass für die Region Kronoberg nun eine Großlage ausgerufen war. Sämtliche Fahrzeuge samt einem Hubschrauber waren im Einsatz, außerdem waren Kräfte aus den umliegenden Regionen angefordert worden. Der Katastrophenschutz war alarmiert. Aktuell brannte ein etwa ein Kilometer breiter Streifen am Westrand des Waldes. Vom starken Wind angefacht, bewegte sich eine Feuerwalze zügig Richtung Osten. Nyström bedankte sich für die Informationen und verwies auf Lasse Knutsson, um die Evakuierung des Green Village abzustimmen. Kaum hatte sie aufgelegt, klingelte das Telefon schon wieder. Es war der Hundeführer, der mit einer kleinen Gruppe Polizisten beim Zeltlager der Schüler und Lehrer gewesen war. Der Suchhund hatte tatsächlich eine Fährte aufgenommen, aber nachdem sie ihr etwa einen Kilometer gefolgt waren, hatten sie den Waldbrand bemerkt und die Suche abbrechen müssen. Nachdem dieses Telefonat beendet war, humpelte Nyström in die Teeküche und spülte eine Schmerztablette mit einem Glas Wasser herunter. Die behandelnde Ärztin hatte bei der Entlassung mit der Verschreibung von Opioiden gezögert, aber Nyström hatte darauf bestanden, etwas Starkes zu bekommen. Etwas, womit sie funktionierte. Ihr Kopf dröhnte, und die operierten Gelenke pochten. Mit der gesunden Hand massierte sie sich die Schläfe. Sie konnte sich an wenige Tage in ihrer mehr als dreißig Jahre langen Dienstzeit erinnern, an denen ein solches Durcheinander geherrscht hatte. Sie dachte an die Proteste und das Camp im Wald. An die Luchse und den dummen Sturz in die Grube. An das Gerichtsurteil und die feiernden Aktivisten. An die wütende Stina Forss und ihre unfreiwillige Rückkehr nach Växjö. An den vermissten Lehrer und seine Schüler. An die Lehrerin, die Ehefrau des Lehrers und die Eltern der Schüler, die vor Sorge wahrscheinlich keinen klaren Gedanken fassen konnten. Zu allem Überfluss brannte jetzt auch noch der Wald. Kaum war sie wieder zurück in ihrem Büro, klopfte es an der Tür. Es war Sara Hjalmarsson. Die Partnerin ihrer Tochter war ehrgeizig und lernte schnell. Sie würde eines Tages eine ausgezeichnete Polizistin sein, davon war Nyström überzeugt. Sara war zudem offenherzig, uneitel und hatte Humor. Dennoch: Irgendetwas hinderte Nyström daran, die junge Frau vorbehaltlos ins Herz zu schließen. Sara spürte das und Anna natürlich auch. Es war falsch, und es war dumm. Trotzdem konnte Nyström es weder ändern noch erklären. Sie gab sich einen Ruck und setzte ein Lächeln auf.

»Und?«, fragte sie.

»Schlechte Neuigkeiten, fürchte ich.«

»Das heißt?«

»Die Rektorin hat mit den Eltern der Schüler beziehungsweise mit der Frau des Lehrers gesprochen. Keiner der Vermissten hat sich bisher gemeldet.«

»Was sagt die Schulleiterin zu dem Lehrer?«

»Vertrauenswürdig, empathisch, beliebt. Ein wahrer Engel.«

»Das deckt sich mit der Beschreibung, die mir seine Kollegin gegeben hat. Gibt es etwas über die Schüler, das wir wissen sollten?«

»Mobbingopfer, Lernschwierigkeiten, ADHS , Bulimie und Autismus: vier Außenseiter, die dank der besonderen pädagogischen Maßnahmen des Internats zu einem verschworenen Quartett zusammengewachsen sind, Zitat der Rektorin.« Nyström hob eine Augenbraue. »Es kommt noch dicker.« Hjalmarsson blickte sie eindringlich an. »Eine der Schülerinnen ist Mathilda Adlercreutz.«

»Adlercreutz wie in Jan Adlercreutz?«

»Sie ist die Tochter.«

Nyström schluckte. Das hatte gerade noch gefehlt. Jan Adlercreutz war einer der umstrittensten Politiker des Landes. Wenn seine Tochter vermisst wurde, war das nicht nur ein Notfall, sondern ein Politikum. Es warf ein vollkommen anderes Licht auf die Situation. Was, wenn sie und die anderen entführt worden waren, um Druck auf den Vater auszuüben? Was, wenn sie Terroristen in die Hände gefallen war? Wenn man das gesamte Szenario betrachtete, waren das vielleicht nicht die wahrscheinlichsten Möglichkeiten. Aber gänzlich von der Hand zu weisen, waren sie auch nicht. Was bedeutete, dass sie womöglich doch den Staatsschutz hinzuziehen musste. Etwas, vor dem es sie aus bekannten Gründen grauste. Sie schloss die Augen, rieb sich die Wange. Vier oder fünf Menschen wurden vermisst. Der Wald, in dem sie zuletzt gesehen worden waren, stand in Flammen. Die Stadt war noch immer voller Aktivisten, Polizisten und Journalisten. Sämtliche Zeitungen, Nachrichtensendungen und Bloggs hatten dieser Tage ihren Fokus auf Växjö gerichtet. Auf ihre Arbeit. Sie stöhnte auf. Dabei sollte sie gar nicht hier sein. Sie sollte zu Hause sein, sich von Anders verwöhnen lassen und mit ihrem Enkel Albert fernsehen. Doch statt Pralinen und Peppa Wutz auf dem Sofa war sie hier, und die Hölle brach los. Vor ihrem inneren Auge tauchten abenteuerliche Schlagzeilen auf, die einen einheitlichen Tenor hatten: Polizei versagt auf ganzer Linie.

»Alles in Ordnung, Ingrid?«

Sie öffnete die Augen wieder.

»Es geht schon.«

»Sicher?«

»Ja, verdammt.« Das hatte schärfer geklungen, als sie beabsichtigt hatte. »Entschuldigung«, fügte sie leise an. »Es ist alles ein bisschen viel heute.«

»Das verstehe ich.«

»Stina hat im Wald einen völlig apathischen Teenager aufgelesen. Ein junges Mädchen, das nicht spricht. Vom Alter her kommt es hin. Stina hat ein Foto geschickt.«

»Ich habe Kopien der Schülerakten und Fotos. Inoffiziell.«

»Das hatte ich gehofft. Sehen wir sie uns an.«

Hjalmarsson rückte den Besucherstuhl neben Nyström und setzte sich zu ihr. Die Jugendlichen wirkten jung.

Emil Fallenius’ rundliches Gesicht hatte auf dem Bild eine kindliche Kurzhaarfrisur, Viktor Wijk sprossen erste Barthaare über der von Akne gezeichneten Oberlippe. Nyström erkannte das Mädchen wieder, dessen Bild Forss geschickt hatte. Es war nicht Mathilda Adlercreutz, sondern Julia Lihadji. Sie stöhnte erneut. Das Telefon klingelte. Die barsche Stimme in der Leitung stellte sich als Jan Adlercreutz vor.

»Wo um alles in der Welt ist meine Tochter?«, fragte er.