Stina Forss saß in einem Wartezimmer des Krankenhauses. Das Mädchen war als Julia Lihadji identifiziert worden und hatte weder auf dem Marsch aus dem Wald noch auf der Autofahrt in die Stadt etwas gesagt. Stumm und fügsam hatte sie sich von Forss an die Hand nehmen lassen. Selbst das hektische Treiben und die angespannte, ins Aggressive gekippte Stimmung im Green Village, aus dem Polizisten lautstark protestierende Campbewohner unsanft auf den Parkplatz geleiteten, hatte bei Julia nicht die geringste Reaktion ausgelöst. Der starre, leere Blick war weiterhin ins Nirgendwo gerichtet geblieben, die Unterlippe hatte nicht aufgehört zu zittern. Ihr Anblick war mitleiderregend: Die langen Haare waren strähnig, das hübsche Gesicht und die Hände aufgeschürft und dreckverschmiert, ihr hell schimmerndes Seidenkleid und die dünne Samtjacke, beides mehr Theaterkostüm als funktionale Kleidungsstücke, waren voller Flecken, davon einige offenbar aus eingetrocknetem Blut. Forss hatte sie in die Notaufnahme gebracht, wo sie von Spezialisten untersucht wurde, die psychologisch und rechtsmedizinisch besonders geschult waren. Auch wenn noch Unklarheit darüber bestand, ob das Mädchen Opfer sexueller Gewalt geworden war, war die Prozedur angesichts der Umstände obligatorisch. Auf diese Weise konnten mögliche medizinische Befunde und forensische Beweise gesichert werden. Während Forss vor dem Untersuchungsraum wartete, meldete sich Nyström, um mitzuteilen, dass die Mutter des Mädchens, eine Diplomatin, die für die schwedische Botschaft in Italien arbeitete, auf dem Weg nach Växjö sei und im Laufe des späten Abends eintreffen würde. Nachdem das Telefonat beendet war, ging Forss in die Krankenhauscafeteria, wo sie sich einen doppelten Espresso bestellte, und kehrte dann ins Wartezimmer zurück. Es war Abendessenszeit, aber sie hatte keinen Appetit, und die Nacht konnte noch lang werden. Vor noch nicht einmal dreißig Stunden hatte sie an einem Stockholmer Kai gesessen und Möwen mit Brotkrumen gefüttert. Jetzt befand sie sich in der Stadt der ewigen Krähen und war mit zwei unterschiedlichen Vorkommnissen befasst, die beide mit demselben Waldgebiet zu tun hatten, das noch dazu seit Tagen im Fokus der landesweiten Nachrichten stand. In beiden Fällen war unklar, ob es sich überhaupt um kriminelle Delikte handelte. Was zum Teufel hatte sie also hier verloren? Das Kapitel Växjö hatte sie doch längst beendet. Ein für alle Mal. Finito . So wie alle anderen vorherigen Kapitel in ihrem Leben auch. Ein Narr, der darin kein Muster erkannte. Dennoch war sie hier. Weil ihr Chef sie dazu gezwungen hatte. Weil Nyström es so gewollt hatte. Doch natürlich wusste sie ganz genau, dass sie sich hätte querstellen können, wenn sie es wirklich darauf angelegt hätte. Ein Anruf bei Nyström hätte genügt, sie hätte noch nicht einmal drohen müssen. Ein einfaches Nein hätte gereicht. Nyström würde ihr in diesem Leben nie wieder etwas verwehren. Und sie würde Nyström nie wieder um etwas bitten. Nicht nach allem, was geschehen war. Nicht nach all den Toten, all dem Schmerz. Das Schicksal hatte sie aneinandergeschmiedet. Wie Frodo, Gollum und den verdammten Ring der Macht. Nur das ihr Ring der Revolver war, mit dem eines der größten Verbrechen dieses Landes verübt, mit dem Olof Palme erschossen worden war. Schicksal also, Verhängnis. Bis ihr gemeinsamer Weg an einem flammenlodernden Abgrund enden würde? Vielleicht war sie genau deswegen hier, um das herauszufinden. Sie dachte an die abgedeckte Grube, in die Nyström gefallen war, an die Proteste, den brennenden Wald, die Vermissten und das schwer traumatisierte Mädchen. Unter ihrer Augenklappe juckte es. Das war bekanntlich nie ein gutes Zeichen. Standen alle diese Dinge, die im Wald geschehen waren, jeweils für sich? Oder gab es einen Zusammenhang? Falls ja, war er ihr schleierhaft. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, da half auch der Koffeinschub nichts.

Nachdem mehr als eine Stunde vergangen war, betrat eine Ärztin das Wartezimmer. Es war die Rechtsmedizinerin Ann-Vivika Kimsel, mit der Forss über Jahre hinweg in vielen Fällen zusammengearbeitet hatte.

»Stina, was für eine angenehme Überraschung! Was führt dich zurück in alte Gefilde? Du lebst doch mittlerweile in Stockholm, oder?«

Kimsel breitete die Arme aus, als wollte sie sie an sich drücken. Körperlichkeit gehörte nicht gerade zu Forss’ Stärken. Statt einen Schritt auf Kimsel zuzugehen, hielt sie ihr die Hand hin, was sich steif und linkisch anfühlte. Kimsel ließ sich keine Irritation anmerken, griff danach und schüttelte sie euphorisch. Forss verzog die Mundwinkel zu einem knappen Lächeln.

»Wie geht’s?«, entgegnete sie statt einer Antwort. Als Kimsel ihre Hand endlich wieder freigab, schob Forss eine knappe Erklärung für ihren Aufenthalt hinterher.

»Wie gut, dass du das arme Mädchen gefunden hast, bevor die Flammen kamen. Ich bezweifle, dass Julia sich aus eigener Kraft hätte in Sicherheit bringen können. Gott sei Dank ist ihr körperlicher Zustand mittlerweile stabil, trotz Unterkühlung, Dehydrierung und Fieber. Das Blut auf der Kleidung stammt von einer Platzwunde über dem Ohr. Julias Katatonie führe ich auf eine posttraumatische Belastungsstörung zurück.«

»Ist sie vergewaltigt worden?«

»Sie hatte definitiv innerhalb der vergangenen achtundvierzig Stunden ungeschützten Geschlechtsverkehr. Mithilfe eines Abstrichs konnte ich Spermazellen nachweisen.«

»Reicht es für einen DNA -Test?«

Kimsel nickte.

»Ich kann jedoch nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich um eine Vergewaltigung handelt. Julia hat neben der Platzwunde Hautabschürfungen, kleinere Kratzer und leichte Prellungen, jedoch nicht an Stellen, an denen man die üblichen Abwehrverletzungen findet. Es steht allerdings noch eine Reihe Untersuchungen aus, unter anderem eine Analyse der Stoffe unter den Fingernägeln des Mädchens. Du kennst ja das Prozedere. Ich habe die Kleidung zusammen mit sämtlichen Proben an die Spurensicherung weitergeschickt.«

»Gibt es bereits ein Blutbild?«

Kimsel schüttelte den Kopf.

»Das wird noch dauern.«

»Hat sie sich während der Untersuchung ein wenig geöffnet? Hat sie gesprochen? Jeder Hinweis würde uns weiterhelfen.«

»Ich muss dich leider enttäuschen.«

»Wagst du eine Prognose?«

»Das ist unmöglich vorherzusagen. Es gibt Fälle, in denen Traumatisierte für immer verstummen. Totaler Mutismus nennt man das. Es geschieht jedoch relativ selten. So banal es klingen mag – vielleicht geht es Julia nach einer Nacht mit ausreichend Schlaf schon besser. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht und möchte sie mindestens zwei Tage zur Beobachtung hierbehalten. Sie bekommt jetzt eine Nährstofflösung, und wir stabilisieren den Kreislauf. Außerdem kann eine adäquate psychologische Betreuung für die weitere Entwicklung der Belastungsstörung entscheidend sein. Aber das weißt du ja alles selbst. Wie sieht es mit ihren Angehörigen aus?«

»Julia besucht gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester das Internat auf Evedal, die Eltern arbeiten im Ausland. Ihre Mutter befindet sich bereits auf dem Weg hierher und wird in einigen Stunden eintreffen.«

Kimsel nickte.

»Sobald ich weitere Untersuchungsergebnisse habe, melde ich mich.«

»Ich bleibe bei ihr, bis die Mutter da ist.«

»Einverstanden.« Kimsels wie immer sorgfältig geschminkte Lippen formten ein breites Lächeln. »Schön, dass du wieder da bist, Stina. Wir haben dich vermisst.«