Nach gefühlt hundert Telefonaten und einer endlos erscheinenden Videokonferenz, an der neben Ingrid Nyström Polizeichef Erik Edman, der Einsatzkoordinator der Bereitschaftspolizei Frederik Hector, Vertreter der Feuerwehr, des Katastrophenschutzes und der Regionalverwaltung teilgenommen hatten, war irgendwann Anders in ihr Büro gestiefelt gekommen und hatte sie, taub für ihre Proteste, nach Hause verfrachtet. Natürlich hatte er recht. Sie hatte sich weit über ihre Kräfte hinaus verausgabt. Das war unvernünftig und riskant. Mit einer schweren Gehirnerschütterung war ebenso wenig zu spaßen wie mit den frisch operierten Gelenken. Ihr Körper war mit Morphin vollgepumpt, anders wäre sie niemals durch diesen irren Tag gekommen. Also überließ sie sich der Fürsorge ihres Manns und streckte sich mit der Fernbedienung in der Hand auf dem Sofa aus. Die Neunuhrnachrichten zeigten spektakuläre Luftaufnahmen des brennenden Waldes und wütende Demonstranten vor dem Växjöer Rathaus. Nyströms düstere Vorahnung hatte sich erfüllt – die Umweltaktivisten fühlten sich betrogen, sie vermuteten, dass Brandstiftung die Ursache des Feuers war, dass der politische Gegner, nachdem er vor Gericht verloren hatte, auf die denkbar zynischste Weise unumkehrbare Tatsachen schuf. Gleichzeitig machte im Internet das Gerücht die Runde, dass sich im brennenden Lodjurskogen eine Schulklasse verirrt hatte, was die vermeintliche Perfidie der angeblichen Brandstiftung auf die Spitze trieb. Nyström war klar gewesen, dass die Suche nach den Vermissten nicht lange unbemerkt bleiben würde, aber damit, dass halbgare Gerüchte innerhalb weniger Stunden zu landesweiten Twittertrends mutieren würden, hatte sie trotz aller Erfahrung nicht gerechnet. Obwohl die haarsträubenden Behauptungen nicht einzufangen waren, sah sie sich genötigt, umgehend eine Gegendarstellung zu formulieren und über die offiziellen Kanäle der Polizei Kronoberg zu veröffentlichen. Aus dem Abend auf dem Sofa wurde trotz Anders’ mahnender Blicke ein Abend am Telefon, worüber sie im ständigen Austausch mit Erik Edman, der Pressesprecherin, der Schulrektorin und den Eltern der vermissten Schüler sowie der Frau des Lehrers stand. Zwischendurch hielt sie immer wieder Rücksprache mit den Besatzungen der zwei Hubschrauber, die seit dem Nachmittag im Einsatz waren. Die Helikopter suchten mithilfe von Wärmebildkameras die unzugänglichen Waldbereiche ab, die die Feuerwalze noch nicht erreicht hatte. Bisher vergebens. Einen Funken Hoffnung machte der Wetterbericht: Von Westen her schob sich langsam ein atlantisches Tief über das Land. Ob – und wenn wie viel – es regnen würde, stand jedoch in den Sternen. Als sie kurz nach Mitternacht ihr Handy schließlich aus der Hand legte, war Anders im Sessel neben ihr bereits eingeschlafen.
Das neue Schuljahr begann, wie das alte geendet hatte. Er fühlte sich auf dem Internat wie ein Alien. Kein gefährliches, grausames wie in der gleichnamigen Science-Fiction-Filmreihe, sondern ein gutmütiges, tief trauriges, das auf einer feindseligen Welt gestrandet war. Wie Alf oder E. T. Neben Marcel Proust hatte er in den Sommerferien einen anderen Kulturschatz geborgen: Filme und TV -Serien der Achtzigerjahre. Goonies und Ghostbusters, Die Bären sind los und die Bill Cosby Show. Ähnlich wie bei den Wrestling-Kämpfen derselben Dekade hätte er kaum erklären können, was ihn daran so fesselte. Die unterschwellige Naivität? Die klare Einteilung der Welt in Gut und Böse? Der warmherzige Erzählton, den er selbst in den Storylines der inszenierten Catcher-Events und ihrer grellen Charaktere wiederfand? Das Bild von E. T. versöhnte ihn ein wenig mit den Umständen, denn es traf auf ihn in mehrfacher Hinsicht zu. Er war hier ein Fremdling. Eine gute Seele in einem monströsen Körper. Seine Fremdartigkeit machte den anderen Angst und isolierte ihn. Aber wie E. T. hatte er auch Freunde und Helfer. Na ja, er war möglicherweise auf dem Weg dorthin. Zumindest wenn Jill Sannerholm es sich mittlerweile nicht anders überlegt hatte. Der Gedanke an sie und die vollkommen unwahrscheinliche Tatsache, dass sie ihn vielleicht wirklich mochte, war das Einzige, was ihn über Wasser hielt. Die Aussicht auf das Treffen mit ihr war sein Rettungsring. Das Merkwürdige war, dass seit dem Beginn des neuen Schuljahrs bereits drei Wochen verstrichen waren, ohne dass sie bisher ein einziges Mal miteinander gesprochen hatten. Ihr Kontakt bestand aus einem Chat, wenn man das dreimalige Hin- und Herschicken von Einzeilern denn so nennen wollte. »Wie geht es dir?« – »Gut. Und dir?« Stets war es Jill gewesen, die ihm geschrieben hatte, woraufhin er nicht mehr als eine idiotisch einfältige Antwort zustande gebracht hatte. »Gut. Und dir?« Hatte er tausend Seiten Proust gelesen, um wie ein stumpfsinniger Erstklässler zu schreiben? Wo war sein pointenreicher Stil, wenn es darauf ankam? Wo war seine angebliche Tiefgründigkeit, auf die er sich so viel einbildete, wenn sie gebraucht wurde? Wo war seine neue Offenheit? Wo war der Mut? Vor Jills lockeren, netten Messages schien sein Inneres zu erstarren wie das Kaninchen vor der Schlange. Er war , gehemmt, blockiert. Er war nicht er selbst. Oder war genau das sein wahres Selbst? Ein feiges Karnickel? Waren seine innere Größe, Schönheit und Reinheit am Ende nichts als eine Illusion, eine Selbsttäuschung, etwas, das er sich vormachte, um überhaupt irgendetwas zu haben, an das er sich klammern konnte? Nein. Im Grunde wusste er, dass das nicht stimmte. Er hoffte es zumindest. Dennoch gelang es ihm nicht, über seinen Schatten zu springen, die Initiative zu ergreifen und Jill irgendetwas zu schreiben, was Substanz hatte, oder sie gar anzusprechen. Dabei hatte er doch nichts zu verlieren. Sie hatte ihm doch unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie ihn mochte und zumindest interessant fand. Wahrscheinlich wartete sie auf etwas, dass ihre Vermutung bestärkte und die Vorschusslorbeeren rechtfertigte. Wenn er die zarten Bande, die Jill geknüpft hatte, nicht bald mit Leben füllte, würden sie unweigerlich reißen. Jill war nicht irgendwer, sondern eins der hübschesten und beliebtesten Mädchen der Schule. Sie konnte haben, wen sie wollte. Vielleicht wollte sie ihn, allen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz, und er ließ Gelegenheit um Gelegenheit verstreichen und beäugte sie stattdessen schamerfüllt aus der Ferne. Wie sie auf dem Schulhof mit ihrer Clique scherzte und lachte. Er war eifersüchtig auf ihre Freunde, er war manchmal sogar eifersüchtig auf sie. Wie leicht das Leben für jemanden wie Jill sein musste. Er war neidisch, und er hasste sich dafür.
Und dann kam sie, die Einladung. Freitag um sechzehn Uhr im Kafé de Luxe? Als er das las, war er gerade auf seinem Zimmer, der Fleischklops war zum Glück nicht da, und er war so überwältigt vor Glück, dass er einen wilden Tanz aufführte. Dann holten ihn wie immer die Zweifel ein. Sein Herz krampfte. Was, wenn sie sich gegenübersaßen und er vor Aufregung kein Wort herausbringen würde? Was, wenn er sie langweilte? Was, wenn sie gar nicht auftauchen würde? Was sollte er anziehen? Sollte er vorher zum Friseur? Brachte man zu solchen Dates ein Geschenk mit? War es überhaupt ein Date? Er starrte sicherlich zwanzig Minuten lang auf Jills Nachricht. Dann fasste er sich ein Herz und sagte zu. Es war Mittwoch, ihm blieben also noch zwei Tage. Er ging zur Schulkrankenschwester, ließ sich mit vorgetäuschten Rückenschmerzen ein Attest ausstellen und von der nachmittäglichen Reit-AG befreien. Ein Linienbus brachte ihn in die Innenstadt. Er streifte durch die Modeläden. Shopping war ihm eigentlich zuwider. Konsumdenken war oberflächlich, und das ewige Mantra von Kaufen und Wachstum hatte den Planeten an den Rand des unweigerlich eintretenden Kollapses gebracht. Die nichtssagende sportive Kleidung, die er trug, kaufte er in Onlinesecondhandshops. Aber für Freitag wollte er etwas anderes. Für Freitag wollte er etwas Besonderes. Eine Internetbestellung würde nicht rechtzeitig ankommen. Und die Växjöer Secondhandläden waren allesamt karitative Einrichtungen, was zwar gut gemeint war, aber ihm insofern nicht weiterhalf, als dass es dort fast nur Altbackenes gab, Opa- und Omaklamotten aus Haushaltsauflösungen, die nach Mottenkugeln und Traurigkeit rochen. Stattdessen also H&M und Co. Schon die notorische Lounge-Techno-Hintergrundmusik empfand er als Zumutung. Noch schlimmer waren die beflissenen Angestellten, die ihre ratlosen Gesichtsausdrücke bei seinem Anblick kaum überspielen konnten. Jeder Gang in die Umkleidekabinen mit Ganzkörperspiegeln war ein Gang in die Hölle, begleitet von Schweißausbrüchen und Kurzatmigkeit. Nach zwei Stunden Nahtoderfahrungen hatte er ein Outfit zusammengestellt, das ihm einigermaßen in Ordnung erschien. Eine schwarze Jeans, Nike-Air-Max, ein Hemd in Baumfällerkaro, eine kurze schwarze Kunstlederjacke. Er hatte sich nicht gerade neu erfunden, aber er hoffte, nun wie jemand auszusehen, der sich um sein Aussehen kümmerte, ohne dabei eitel zu wirken. Er hatte das Monster gewissermaßen neu verpackt, auch wenn er immer noch über den Unterschied zwischen der Wirkung der Kleidung an den eckigen, großen Schaufensterpuppen und ihm selbst erschrak. Anschließend machte er sich auf die Suche nach einem Geschenk. Blumen waren ein , Pralinen ein schlechter Witz. Nein, er suchte nach einer kleinen, unprätentiösen Aufmerksamkeit, die Jill etwas über ihn verriet und gleichzeitig ihr Interesse traf. Das Problem bestand darin, dass er im Grunde überhaupt nichts über sie wusste, wenn man mal von der Kajak-AG absah. Sicher, natürlich hatte er längst ihren Instagram-Account gecheckt, aber besonders aussagekräftig war das, was er dort gefunden hatte, nicht gewesen. Aus dem Sommer gab es Selfies von ihr auf einer Segeljacht. Bikini, Strohhut, Sonnenbrille. Aber war daraus abzuleiten, dass sie eine passionierte Seglerin war, dass sie davon träumte, auf einer kleinen Jolle den Atlantik zu überqueren? Könnte sie mit Büchern über Navigation oder Seemannsknoten etwas anfangen? Irgendwie glaubte er das nicht. Vor allem wären das Dinge, die nicht das Geringste über ihn sagten. Aber sollte er Jill mit einer Gesamtausgabe der »Verlorenen Zeit« vor den Kopf stoßen? Würde das nicht wie eine intellektuelle Belehrung wirken? Oder würde er damit, im Gegenteil, ihrer Bildung schmeicheln? Besser ein romantischer Gedichtband? Aber das wäre zu aufdringlich oder gar übergriffig. Er wusste doch gar nicht, was Jill von ihm wollte. Vielleicht suchte sie nur einen guten Kumpel. Oder einen Paradiesvogel, der ihre Sammlung an Freunden und guten Bekannten um eine exotische Nuance bereicherte. Warum fiel es ihm nur so gottverdammt schwer, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, zu verstehen, was sie wirklich wollten? War er deshalb eine solche Leseratte? Weil den Erzählstimmen seiner Bücher das gelang, wozu er selbst nicht imstande war, nämlich das Vermessen und Ausloten der menschlichen Seele?
Am Ende seines Stadtbummels landete er schließlich doch in einem Antiquariat. Er ließ Proust Proust sein und entschied sich für eine alte Kurzgeschichtensammlung von Stephen King. Niedrigschwellig, aber mit Niveau, spannend, leicht schräg und definitiv Achtzigerjahre. Wenn Jill dieses Buch nicht mochte, dann hatten sie sich vermutlich auch sonst wenig zu sagen.
»Bitte als Geschenk einpacken«, sagte er an der Kasse und bezahlte.
Zwei Tage später saß er im Café und wartete auf Jill. Er schwitzte. Der Kragen des neuen Hemds zog sich wie eine Schlinge um seinen Hals. Er sollte den obersten Knopf öffnen, aber bis oben hin zugeknöpft sah es nun mal am besten aus. Weil es so seinen monströsen Körper maximal verhüllte. Die furchtbare Akne auf seinem Hals konnte man niemandem zumuten. Bis oben hin zugeknöpft. Besser konnte man auch seine Verfassung nicht auf den Punkt bringen. Er war steif und verkrampft. Dabei hatte er sich doch geschworen, seine Schutzwälle einzureißen. Wenn das so einfach wäre. Sein Mund war trocken, und es kratzte ihm im Nacken. Er ertastete das Nylon-Dingsbums, an dem das Preisschild befestigt gewesen war. Offenbar hatte er vergessen, es durchzuschneiden und zu entfernen. Er könnte es jetzt und hier mit schierer Gewalt versuchen, aber der Winkel war ungünstig, und wenn es ganz dumm lief, würde der Hemdstoff einreißen. Er überlegte, aufzustehen, auf die Toilette des Cafés zu gehen, das Hemd auszuziehen und das blöde Ding dort auszureißen. Aber was wäre, wenn Jill genau in dem Moment käme, in dem er noch auf dem Klo war? Sie würde ihn natürlich nirgendwo entdecken und sich an einen anderen freien Tisch setzen, was wiederum bedeuten würde, dass er nach seinem Toilettenbesuch die Sachen von seinem Platz zusammenklauben – Jacke, Rucksack und eine halb volle Kaffeetasse – und zu ihrem Tisch umziehen müsste, ein wenig souveräner Auftritt, ein schlechter erster Eindruck. Nein, er würde hier sitzen bleiben und warten, auch wenn es bis zur verabredeten Zeit noch fast zwanzig Minuten hin waren, auch wenn sich jetzt wie auf Befehl seine Blase meldete, obwohl er sie vor einer Viertelstunde bereits geleert hatte. Die neue Jeans juckte an den Oberschenkeln. Das waren die Chemikalien, mit denen der Stoff behandelt war. Jeder wusste, dass man neue Kleidung vor dem ersten Tragen einmal waschen sollte, aber im Internat es drei Tage, bis man seine Wäsche sauber, getrocknet und gefaltet zurückbekam. Darüber, wer diese Arbeit eigentlich verrichtete, sprach kein Mensch. Und was war mit den Näherinnen in den Sweatshops in Bangladesch, die dem chemischen Dreck für einen Hungerlohn täglich zwölf bis vierzehn Stunden ausgesetzt waren, damit er heute mit einer neuen Hose Eindruck schinden konnte? Seine Nervosität mischte sich mit Scham. Kurz bereute er, keine Valium genommen zu haben, von denen er Mutter in den Sommerferien einen vollen Tablettenstreifen gemopst hatte. Das Zeug wirkte Wunder, keine Frage, es hatte ihm in seinen dunkelsten Stunden schon häufig tröstend die Hand gehalten, ihn fürsorglich in den Schlaf gewiegt. Aber er wollte Jill schließlich nicht als weggetretener Zombie gegenübertreten. Er schaute auf die Uhr. Noch neun Minuten, wenn sie pünktlich war. Der Toilettengang war nun erst recht keine Option mehr. Wäre er doch vor einer Viertelstunde gegangen, schalt er sich selbst. Die Aufregung hielt ihn kaum auf dem Stuhl. Was wäre, wenn er einfach aufstünde und ginge? Die Beine in die Hand nahm und auf Umwegen, um Jill nicht begegnen zu müssen, ins Internat zurückkehrte? Er könnte sich in einer Kurznachricht mit plötzlicher Übelkeit oder einem Verkehrsunfall entschuldigen. Aber andererseits: Er wollte das hier. Er wollte Jill treffen und kennenlernen. Er wollte es, wie er nie zuvor etwas gewollt hatte. Denn wenn sie, wenn das schönste Mädchen der Schule nicht vor ihm zurückschreckte, dann müsste das nach allen Gesetzen der Logik doch bedeuten, dass der Rest der Welt ihn auch nicht so abstoßend finden würde. Und selbst wenn nicht und selbst wenn Jill nur ein einzelner Tropfen in einem Meer von Ignoranz sein sollte, so war es doch der schillerndste, der reinste, der süßeste Tropfen, und sein Leben wäre keine Katastrophe mehr, sondern ein Märchen: die Schöne und das Biest.
Und dann stand sie plötzlich vor ihm und lächelte ihn an. In seinem Herzen tanzten Panik und Freude einen Walzer. Wie begrüßte man sich in solchen Situationen? Ungeschickt stand er auf, sodass seine Oberschenkel von unten gegen den Tisch donnerten und beinahe die scheppernde Kaffeetasse umgestoßen hätten. Unsicher streckte er Jill seine Hand entgegen. In einer fließenden Bewegung beugte sie sich vor, wand ihre Schulter unter seinen ausgestreckten Arm und zog ihn mit Kraft und Routine weiter hoch, sodass sie einander gegenüberstanden und die Bewegung schließlich in einer freundschaftlichen Umarmung endete. Ihm rauschte das Blut in den Ohren.
»Kaffee?«, stieß er hervor. »Oder lieber einen Tee?«
Jill zog ihren Mantel aus, legte ihn sorgfältig über die Stuhllehne und nahm ihm gegenüber Platz.
»Ich habe direkt beim Reinkommen einen Chai-Latte und zweimal Kuchen bestellt. Magst du Schokokuchen, oder bist du einer dieser Vegan-Laktose-Gluten-Typen?«, fragte sie lächelnd.
Er war Vegetarier, aber in diesem Moment hätte er sogar eine von ihr bestellte Schweinshaxe gegessen.
»Cool, Schokoladenkuchen. Mein All-time-Favorite.«
Das war glatt gelogen, aber egal.
»Wartest du schon länger hier?«
Sie deutete mit dem Kinn auf seine Kaffeetasse.
»Ich bin öfters hier«, sagte er, »ist so eine Art Stammladen von mir. Ich mag die lockere Atmosphäre und kann hier gut arbeiten. Schreiben und so.«
Drei Lügen in einer halben Minute. Plus Angeberei. Nicht schlecht für jemanden, der seine Rechtschaffenheit wie ein flammendes Schwert vor sich hertrug und sein Leben dem Kreuzzug gegen Heuchelei und Doppelmoral gewidmet hatte, dachte er.
»Du machst hier deine Hausaufgaben?«
»Nee, ich meinte eher, dass ich Geschichten schreibe. Short Storys. Kennst du Hemingway?«
Blöde Frage. Wieso ließ er den Literaten raushängen? Sie merkte bestimmt, wie dick er auftrug.
»In Englisch haben wir die Geschichte mit dem Mann und dem Schwertfisch durchgenommen. Ehrlich gesagt, war ich zu faul zum Lesen und habe mir stattdessen im Internet lieber den Film reingezogen.« Sie lachte. »Was ich nicht kapiert habe: wieso der Typ wegen eines beknackten Fischs so einen Riesenaufstand macht. Er hat doch direkt am Anfang gemerkt, dass der Marlin eine Nummer zu groß für ihn ist. Wieso setzt er sein Leben aufs Spiel, anstatt es mit einem Fisch zu versuchen, dem er gewachsen ist?«
»Du glaubst, er hat sich aus Eitelkeit auf den Kampf eingelassen?«
Jill zuckte mit den Achseln.
»Keine Ahnung. Ich denke nur, jeder sollte seine eigenen Grenzen, seinen Platz im Leben kennen. Es gibt geborene Gewinner und geborene Verlierer. Klingt ungerecht, aber ich glaube, daran kann keiner etwas ändern.«
Er wollte den Mund aufmachen, wollte Jill widersprechen, weil ihre Äußerung eigentlich allem entgegenstand, woran er glaubte. Doch in dem Moment kam die Bedienung und brachte die Kuchenstücke und Jills Chai-Latte. Eine Zeit lang aßen sie mehr oder weniger schweigend.
»Lecker«, lobte er.
»Nicht wahr?«
Er kam nicht umhin zu bemerken, dass sie aus der Nähe betrachtet noch hübscher war. Sogar beim Essen war sie schön, etwas, das man weiß Gott nicht über viele Menschen sagen konnte. Als sein Teller leer war, wollte er noch einmal auf Hemingway und den Fisch zurückkommen. Er wollte Jill seine Sicht auf die Geschichte erläutern. Er wollte über den existenziellen Kampf des Menschen mit der Natur sprechen, über die religiösen Bezüge und die Intertextualität. Aber während er noch innerlich Anlauf nahm, kam Jill ihm zuvor und lenkte das Thema auf TV -Serien. Es stellte sich heraus, dass beide große Fans von »Stranger Things« waren, und er war so froh über diese Gemeinsamkeit, dass er das Hemingway-Desaster verdrängte und sich mit aller Verve und Enthusiasmus auf die Serie stürzte, die virtuos eine Coming-of Age-Story mit einer Alieninvasion verknüpfte. Als wäre das nicht schon genug, spielte die Geschichte auch noch in den Achtzigerjahren und war vom Soundtrack bis zu eindeutigen filmischen Zitaten gespickt mit der Popkultur der von ihm verehrten Dekade. »Stranger Things« war, als hätten Stephen Spielberg und Stephen King sich zusammengetan, um die coolste Serie der Welt zu produzieren. Jill wirkte, als würde sie seinen Ausführungen, denn es war er, der die meiste Zeit redete, interessiert zuhören.
»Wow«, sagte sie zweimal. »Was du alles weißt!«
Er dachte an das Buchgeschenk in seinem Rucksack. Vielleicht hatte er tatsächlich den richtigen Riecher gehabt, vielleicht waren sie beide einander viel ähnlicher, als er zunächst gedacht hatte. Scheiß auf Hemingway. Vielleicht hatte Jill ja gar nicht mal so unrecht. Wenn man länger über die Fischgeschichte nachdachte, war sie eigentlich ziemlich kitschig. Sollte er das Momentum nutzen und ihr nun sein Geschenk überreichen? Gerade als er sich dazu durchgerungen hatte, machte Jill den Vorschlag, das Café zu verlassen und einen gemeinsamen Spaziergang zu unternehmen. Natürlich sagte er Ja und nutzte die Aufbruchssituation, um endlich, endlich auf die Toilette zu gehen. Es war ein milder Spätsommertag, in der Luft lag eine Ahnung vom Herbst, es roch nach Eicheln und Bucheckern, jedenfalls bildete er sich das ein. Sie gingen nebeneinander her, auch wenn es Jill war, die den Weg vorgab. Sie verließen die Fußgängerzone, gingen am neu errichteten Bahnhof vorbei, bogen rechts ab, schritten durch die Bahnunterführung und gelangten an das Ufer des Växjösees, der glatt und dunkel schimmernd vor ihnen lag. Sie folgten dem Spazierweg am Ufer entlang.
»Lust auf eine Bootspartie?«, fragte Jill, als sie vor einer Trauerweide stehen blieben, unter deren Blätterdach ein Ruderboot am Ufer festgekettet war.
»Ich glaube, das Boot ist angeschlossen.«
Jill lächelte schelmisch, holte einen Schlüssel aus der Hosentasche und hielt ihm ihn mit großer Geste hin.
» Voilà! Die Ruder liegen da vorne in den Büschen. Also, bist du dabei?«
Natürlich war er das. Genauso gut hätte sie vorschlagen können, bekleidet ins Wasser zu springen und dabei »The Final Countdown« zu grölen. Aber eine Bootsfahrt war selbstverständlich deutlich romantischer. Kitschiger, hätte er vielleicht in einem anderen Kontext geurteilt, aber wenn einen Jill Sannerholm auf eine Fahrt mit dem Ruderboot einlud, sah die Welt anders aus. Er fühlte in sich einen warmen, pulsierenden Strom, ein nie zuvor empfundenes Gefühl, vielleicht war es Glückseligkeit. Sie machten das Boot startklar. Er übernahm die Ruder, Jill navigierte.
»Zur Mitte«, lachte sie, »ganz nah an die Fontäne heran.«
Er tat wie ihm geheißen. Das Rudern war anstrengend, und er gab sich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Die Muskeln seiner Oberarme begannen zu schmerzen, aber gleichzeitig fühlte er sich stark. Auf eine archaische Weise männlich. Jill lächelte ihm vergnügt zu, und es war nicht nur die Anstrengung, die sein Herz wummern ließ. Da er mit dem Rücken in Fahrtrichtung saß, hörte er die meterhohe Fontäne, bevor er sie sah.
Die anderen beiden Boote tauchten wie aus dem Nichts rechts und links von ihnen auf. Er kannte die vier Jungen und das Mädchen. Es war Jills Clique, die halbe Kajak-AG , auch wenn sie sich jetzt auf zwei Ruderboote verteilte. Was wollten die hier? Er begriff überhaupt nichts. Und dann verstand er plötzlich alles. Aber da war es bereits zu spät. Im selben Moment war Jill schon behände in das Boot zur Linken hinübergeklettert. Wie einstudiert schlug von jeder Seite aus einer der Jungen ein Ruderblatt mit Wucht auf seine Hände, sodass er vor Schmerz aufschrie und die Riemen loslassen musste. Darauf hatten die Schläger nur gewartet. Mit einer nahezu synchronen Bewegung hoben sie seine Ruder aus den Dollen, sodass sie zu beiden Seiten seines Boots ins Wasser fielen. Entsetzt blickte er in sechs grinsende Fratzen. In der Parodie einer Unschuldsgeste hob Jill die Schultern und drehte ihre Handflächen nach oben. Dabei brach sie in Lachen aus, und die anderen vier fielen ein. Er rieb sich die schmerzenden Hände. Die Ruder waren längst außer Reichweite. Sein Boot bekam einen letzten, gut berechneten Stoß, sodass es unaufhaltbar in das niederklatschende Wasser der Riesenfontäne trieb. Jill winkte ihm hämisch zu.
»Viel Spaß noch«, grölte jemand. »Ekliger Freak!«
Ein anderer filmte mit einem Handy.
Dann ging der Sturzbach aus Brackwasser auf ihn nieder. Wenigstens sah so niemand seine Tränen.