Tag 4 

Es war nicht weniger als ein Wunder. Hätte Ingrid Nyström das Wetter beeinflussen können, wäre ihr Wunsch wohl deckungsgleich mit den tatsächlichen meteorologischen Ereignissen der Nacht gewesen. Der nachlassende Südwestwind hatte gerade noch ausreichend Kraft gehabt, um das Tief »Oscar« über Südschweden zu parken, bevor ihm endgültig die Puste ausgegangen war. Die Wassermassen, die das Tiefdruckgebiet über dem Atlantik aufgesogen hatte, waren hauptsächlich dort niedergegangen, wo die regensatten Wolken an die Kante des småländischen Hochlands gestoßen waren, und sie taten es immer noch. Der nächstliegenden Wetterstation zufolge waren die ersten Tropfen um 3.21 Uhr gefallen und hatten sich bald in Starkregen verwandelt, sodass bis zum Vormittag schon siebenundvierzig Liter pro Quadratmeter gemessen wurden. Mit den eintreffenden Wassermassen war der Wind nahezu zum Erliegen gekommen, bevor er einige Stunden später wieder aufgefrischt war, nun allerdings aus südöstlicher Richtung, sodass er das vom intensiven Niederschlag bereits geschwächte Feuer gegen die Felsstufe am westlichen Waldrand zurückdrückte, wo es schlichtweg keine Nahrung mehr fand. Um 9.14 Uhr meldete der Einsatzleiter der Feuerwehr, dass der Brand weitestgehend unter Kontrolle sei. Es gab zwar noch vereinzelte Brandnester und Schwelbrände, aber angesichts der Wetterprognose, die für die folgenden zwölf Stunden weiterhin Dauerregen bei anhaltend leichtem Südostwind vorhersagte, war es nur eine Frage der Zeit, bis alle Restfeuer endgültig gelöscht sein würden. Eine erste Auswertung der Luftbilder hatte das Ausmaß der Zerstörung gezeigt. Von Südwesten aus hatte sich das Feuer Richtung Nordosten in den Wald hineingefressen und dabei eine viele Hundert Hektar große trapezförmige Fläche mit ausgefransten Kanten in eine schwarze, rauchende Einöde verwandelt.

Es waren diese Luftaufnahmen, die Nyström, Edman, ein Vertreter der Feuerwehr und die Pressesprecherin Rosanna Lukasson auf der Konferenz im vollbesetzten Medienraum des Präsidiums präsentierten. Die Hauptkommissarin konnte sich nicht daran erinnern, den Saal schon einmal derart voll gesehen zu haben. Das lag daran, dass viele überregionale Journalisten die Stadt nach der Urteilsverkündung noch nicht wieder verlassen hatten. Die Berichterstattung über die Proteste und die überraschende Wendung vor Gericht war nahtlos in die journalistische Begleitung der feiernden Aktivisten, des Waldbrands, der Räumung des Green Village, der Demonstration der frustrierten Umweltschützer vor dem Rathaus und der Suche nach den Vermissten übergegangen, unter denen sich, wie am späten Vorabend durchgestochen worden war, die Tochter eines bekannten rechten Politikers befand. Für die dauerhungrigen Reporter und TV -Teams war der Strom an dramatischen Ereignissen ein gefundenes Fressen. Umso wichtiger war es, Fakten von Mythen zu trennen. Deswegen saß Nyström, die das Rampenlicht hasste wie wenig anderes, nun übermüdet und entkräftet neben ihrem Vorgesetzten und lächelte tapfer in die Kameras. Wenigstens wirkten die Morphintabletten und dämpften den Schmerz. Grelle Scheinwerfer leuchteten gnadenlos jeden Quadratmillimeter ihres Gesichts aus und blendeten sie. Unter der ungewohnten Schicht Schminke, die Anna ihr verpasst hatte, juckte es. Sie räusperte sich zum wiederholten Mal, was weder gegen den trockenen Mund noch gegen die Konzentrationsschwierigkeiten half, beides wahrscheinlich Zeichen von Übermüdung und Nebenwirkungen der starken Schmerzmittel. In ungelenken und umständlich verschachtelten Sätzen erläuterte sie, was die Fotos zeigten. Der Vorwurf, dass skrupellose Kräfte mittels Brandstiftung Platz für die Zugtrasse schaffen wollten, war absurd. Der Brand hatte ausschließlich Teile des Waldes erfasst, die in keiner Planstudie zur Diskussion gestanden hatten. Sämtliche Institutionen, die in das Planungsverfahren involviert gewesen waren, einschließlich der Regierung, hatten in Pressemitteilungen bereits den Brand bedauert und als ökologische Katastrophe bezeichnet. Die Brandursache war im Moment noch völlig unklar, würde aber selbstverständlich mit hohem Druck ermittelt werden. So schlimm die Konsequenzen des Feuers auch waren: Die oberste Priorität der Polizei galt den vermissten Schülern und ihrem Lehrer. Auch wenn seit dem letzten bestätigten Kontakt mittlerweile sechzig Stunden vergangen waren, gab es weiterhin berechtigte Hoffnungen, die nunmehr vier Vermissten lebend zu finden. Die vom Brand unversehrten Teile des Lodjurskogen umfassten immer noch achttausend Hektar teils dichten und unzugänglichen Waldes. Mehrere Hundertschaften der Bereitschaftspolizei hatten die Suche in Planquadraten, die von der Feuerwehr freigegeben worden waren, bereits wieder aufgenommen, außerdem hatte die gemeinnützige Organisation Missing People ihre Hilfe angeboten, und noch im Laufe des Vormittags würden sich mehr als zweihundertachtzig Freiwillige der Suchaktion anschließen. Hundeführer, Hubschrauber und Drohnen würden den Einsatz unterstützen. Es war richtig, dass eine Schülerin der fünfköpfigen Gruppe, Julia Lihadji, bereits gefunden worden war, doch der gesundheitliche Zustand des jungen Mädchens ließ eine Vernehmung bisher noch nicht zu. Ebenfalls stimmte die Angabe, dass sich unter den vier Vermissten die Tochter des Politikers und Publizisten Jan Adlercreutz befand. Der Vater war vor Ort und nahm persönlich an der Suche teil. Es bestand ein psychologisches Hilfsangebot für alle Angehörigen. Positiv war hervorzuheben, dass die Evakuierung des Walds, speziell des Protestcamps, überwiegend reibungslos funktioniert hatte, wenn man von wenigen leichten Verletzungen absah, die sich einzelne Aktivisten durch ihre Gegenwehr bei der Räumung des Lagers zugezogen hatten. Sobald die Feuerwehr grünes Licht gab, würde den Bewohnern des Green Village die Rückkehr in das Camp gestattet. Mehr gab es im Moment nicht zu sagen. Dachte Nystöm. Doch während sie in langen Schlucken aus einem bereitstehenden Wasserglas gegen den trockenen Mund antrank, schaltete sich Edman ein und betonte, wie zuversichtlich die Polizei sei, die Vermissten bald zu finden. Die Pressesprecherin ließ noch fünf Fragen zu, die Edman und sie abwechselnd beantworteten, und nachdem sie auch dies hinter sich gebracht hatte, war die Konferenz überstanden, und die Journalisten, Fotografen und Kameraleute verließen den Saal.

»Danke, dass du das Publikum für mich aufgewärmt hast«, sagte Edman und wollte ihr beim Aufstehen helfen. »So brauchte ich am Ende nur meine punch line loszuwerden: Das Glas ist halb voll.«

Er grinste. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Wie konnte er mit all seiner Berufserfahrung noch immer solche groben Fehler begehen? Erwartungen zu schüren, obwohl der Ausgang dieses Dramas völlig offen war?

»Ach, Erik«, sagte sie, während sie ihr Gewicht ächzend auf die Krücke verlagerte, »nach all den Jahren sind wir doch ein eingespieltes Team: Ich bin wie immer für das Klein-Klein da, dafür darfst du am Ende dann verkünden, dass die Kuh vom Eis ist.« Sie gab sich kein bisschen Mühe, den Sarkasmus abzumildern. »Doch wenn die verdammte Kuh im Eis einbricht, kannst du ja wieder Rosanna und mich ins Rampenlicht schicken.«