Das Erste, was Sara Hjalmarsson auffiel, als sie Jan Adlercreutz zur Begrüßung die Hand gab, waren seine geringe Körpergröße und Zartheit. Vor der Fernsehkamera wirkte der Politiker, der sich gern als großbürgerlicher Intellektueller inszenierte – für eine Homestory der Hochglanz-Wochenendbeilage einer großen konservativen Tageszeitung hatte er sich mit Pfeife und Cognacschwenker im ledernen Ohrensessel vor knisterndem Kaminfeuer ablichten lassen –, größer und kräftiger als von Angesicht zu Angesicht. Sie standen gemeinsam mit Dutzenden Freiwilligen von Missing People auf einem Parkplatz am südwestlichen Waldrand. Adlercreutz machte einen nervösen und hektischen Eindruck, der sicherlich der Sorge um seine Tochter geschuldet war. Auch wenn Hjalmarsson die Politik und Werte, für die er stand, leidenschaftlich verachtete, zwang sie sich dazu, ihm mit der Hilfsbereitschaft entgegenzutreten, die ihre Profession und die Situation verlangten, selbst wenn es ihr schwerfiel, in ihm einen leidenden Mitmenschen zu sehen und nicht einen der Chefideologen einer im Kern völkisch-nationalistischen Partei. Von dem Moment an, in dem Adlercreutz aus seinem bulligen Range Rover gestiegen war, wurde er von zwei Hünen flankiert, vermutlich Parteifreunde, die ihren stieren Blicken zufolge wahrscheinlich nicht gerade zur Intelligenzia der Kader gehörten, sondern als eine Art Leibgarde abgestellt waren. Einer der beiden filmte seinen Chef und die Leute, mit denen er interagierte, durchgehend mit dem Smartphone, was Hjalmarsson ziemlich befremdlich fand und das Gefühl bestärkte, dass Adlercreutz sich nicht nur als bedingungslos bangender Vater an der Suche nach seiner Tochter beteiligte, sondern sich gleichzeitig in Szene zu setzen schien, wozu sein gewollt wirkendes Outfit aus Barbourjacke, hochschaftigen, geschnürrten Gummistiefeln und Schiebermütze aus kariertem Tweed beitrug. Es fehlt nur eine Schrotflinte, dachte sie, und er würde als britischer Lord durchgehen. Er begrüßte sie denkbar wortkarg und machte keinen Hehl aus seiner Verachtung darüber, dass die Polizei ihm eine Frau mit Zahnspange geschickt hatte, ließ sie nach drei knappen Sätzen im buchstäblichen Regen stehen und setzte sich nach einer kurzen Ansprache, die zumindest von Teilen der versammelten Leute mit Applaus bedacht wurde, an den Kopf der einsatzbereiten Suchtruppen. Als es schließlich losging und sich alle in Marsch setzten, blieb Hjalmarsson nicht viel mehr übrig, als hinter Adlercreutz und seinen Bodyguards herzustapfen. Sie fragte sich, warum Nyström ausgerechnet sie hierhergeschickt hatte. Es war doch offensichtlich, dass Typen wie Adlercreutz anderen Männern mehr Respekt entgegenbrachten als einer Polizistin, die noch dazu jung und deshalb zwangsläufig relativ unerfahren war. War das ein Test? Eine Probe ihrer Durchsetzungskraft? Sollte sie an solchen Konfrontationen wachsen? Indem sie sich, mit Verlaub, an einem reaktionären Arschloch abarbeitete? – Und, nein, sie verlor nicht aus den Augen, dass der Mann verzweifelt war, aber auch ein verzweifeltes Arschloch blieb nun mal ein Arschloch. Sie musste an ein Zitat von Adlercreutz denken, in dem er das politische Ziel ausgegeben hatte, Schweden von den Geißeln der Sozialdemokratie und des Liberalismus zu befreien, die das Land in den vergangenen hundert Jahren hatten vor die Hunde gehen lassen. War das nur geschichtsvergessene Idiotie oder tatsächlich ernst gemeint? Eine vormoderne Gesellschaft, eine kleinbäuerlich geprägte Monarchie, in der Trachtenmädel Butter stampften und ewig um die Mittsommerstange tanzten, während echte, stramme, schwedische Burschen allen im Namen von König und Vaterland die Scheiße aus dem Leib prügelten, die nicht blond, protestantisch, pflichtbesessen, angepasst und heterosexuell waren? War das seine Antwort auf die Probleme des Landes und der Welt? For real?
Vielleicht interpretierte sie Nyströms Intention auch über, vielleicht hatte ihre Chefin gar keine Hintergedanken, und vielleicht war es dämlich und unproduktiv, sich an der Gesinnung eines Mitbürgers abzuarbeiten, der die Hilfe der Polizei in Anspruch nahm beziehungsweise genau das demonstrativ nicht tat, indem er Hjalmarsson geflissentlich ignorierte und statt mit den Hundertschaften der Bereitschaftspolizei mit freiwilligen Helfern in den Wald marschierte und sich dabei filmen ließ, was zugegebenermaßen sein gutes Recht war. Trotzdem brodelte es weiter in ihr. Wo war eigentlich die Mutter des Mädchens?, fragte sie sich. Wenn man das Parteiprogramm, für das Adlercreutz stand, ernst nahm, stand sie vermutlich in ihrem Dorf in Blekinge am heimischen Herd und kochte Pflaumenmarmelade ein. Und was war mit der Tochter? Wie war es für eine heranwachsende junge Frau, jemanden zum Vater zu haben, der ein Geschlechterbild aus dem vorvergangenen Jahrhundert proklamierte? Hatte sie deshalb das Elternhaus so früh wie möglich verlassen, war das der Grund, warum sie ein Internat besuchte? Hjalmarsson dachte an die Worte der Rektorin zurück. Die Schulleiterin hatte von einer Einzelgängerin mit Autismusdiagnose gesprochen, die erst durch pädagogische Maßnahmen der Schule aufgeblüht war und Kontakt zu Gleichaltrigen gefunden hatte. Gab es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem elterlichen Wertekanon und dem fragilen Wohlbefinden der Schülerin, oder war das Küchenpsychologie und nichts als Unsinn? Übertrieb die Rektorin den positiven Einfluss der Schule und ihrer pädagogischen Konzepte? Denn war das nicht etwas, das heranwachsende Menschen von sich aus taten, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun? Sich in sozialen Zusammenhängen zu erproben und in der Interaktion und im Abgleich mit anderen eine eigene Identität zu entwickeln? Hatte womöglich das vermeintliche Außenseitertum der vier Jugendlichen etwas mit ihrem Verschwinden zu tun? Aber welche Rolle spielte in einem solchen Szenario der Lehrer? Warum war Julia Lihadji wieder aufgetaucht, die anderen aber nicht?
Ein lauter Aufruf von der linken Flanke der Suchkette riss sie aus ihren Gedanken. Sie waren etwa einen Kilometer tief in den Wald vorgedrungen. Dort, wo jemand gerufen hatte, etwa hundert Meter von ihr entfernt, bildeten die Menschen einen Pulk. Mehrere Leute gestikulierten. Adlercreutz rannte mit seinen beiden Bulldozern im Schlepptau an ihr vorbei. Sie folgte im Laufschritt. Die Menschentraube wurde immer dichter. Sie bahnte sich einen Weg hindurch, bis sie fast auf Adlercreutz aufgelaufen wäre. Dann sah sie es. Dann sah sie ihn. Den menschlichen Körper, der auf dem Bauch lag. In Trekkingkleidung. Sie drängte sich an Adlercreutz vorbei und warf sich auf die Knie.
»Los!«, rief sie. »Nun macht schon!«
Mehrere Leute halfen ihr, den Körper umzudrehen. Sie erkannte das kalkweiße Gesicht anhand der Fotos wieder. Die Augen waren geschlossen, der Körper steif, an der Schläfe klaffte eine verschorfte Platzwunde. Die offene Jacke und der helle Wollpullover waren blutgetränkt. Sie tastete am Hals nach dem Puls und war selbst so aufgeregt, dass ihre Finger zitterten, trotzdem versuchte sie, den Atem zu kontrollieren, wie sie es in der Ausbildung gelernt hatte. Endlich spürte sie etwas, einen Herzschlag, er war schwach, aber unverkennbar da. Sie sah zu den Umherstehenden auf.
»Einen Notarzt!«, rief sie, »wir brauchen sofort einen Notarzt!«