Hugo Delgado sollte eigentlich gar nicht hier sein. Er sollte dort sein, wo ein Kriminalpolizist mit der Zusatzqualifikation Datenforensik hingehörte: vor einen Rechner. Er hatte auch nichts gegen Tatortbegehungen, und er liebte die Analyse der Ergebnisse der Spurensicherung. Wenn es sein musste, leistete er auch gute, traditionelle Polizeiarbeit, putzte Klinken, befragte Zeugen. Aber einen Raum voller verzweifelter, fiebernder Angehöriger zu betreuen, deren Anspannung mit Händen zu greifen war? Zu trösten, zu beschwichtigen, Hoffnung und Zuversicht zu verbreiten?

Es war nicht so, dass er Menschen grundsätzlich nicht mochte. Im Gegenteil. Seine besten Freunde waren welche. Von Freundinnen ganz zu schweigen. Doch mit Gefühlsausbrüchen umzugehen, war so eine Sache. Nicht, dass er selbst eine emotionslose Rechenmaschine war, ein Datenterminator, ein herzloser Android. Natürlich hatte er Gefühle. Beim Sex. Im Fußballstadion. Auf der Tanzfläche des Kafé de Luxe samstagsnachts um halb zwei, wenn er fünf, sechs Gin Tonic im Blut hatte und der DJ alte Hits der Charlatans oder The Smiths auflegte. Aber das waren seine eigenen Emotionen. Die konnte er zeigen oder für sich behalten. Darüber hatte allein er die Deutungshoheit. Was bedeutete, dass er das Recht dazu hatte, sie nicht allzu ernst zu nehmen. Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen. Über sich lachen zu können, den angetrunkenen Derwisch mit Halbglatze, der bei Morrissey leidenschaftlich mitröhrte und dem dabei vor Pathos die Tränen in den Augen standen. Das war okay. Denn was war das Leben anderes als eine göttliche Komödie? In der die Menschen sich mühten und abstrampelten und schließlich doch immer verloren? Wartete nicht auf sie alle am Ende derselbe grinsende Sensenmann? Konnte es also eine stilsicherere Haltung zu dem ganzen Elend auf Erden geben, als ihm trotzig entgegenzulächeln? Dem menschlichen Schauspiel, das im Grunde nichts anderes als ein Totentanz war, ins Gesicht zu lachen? Er jedenfalls war davon überzeugt, und mit diesem Westentaschenexistenzialismus war er immer gut gefahren. Nein, Ironie war nicht das Schutzschild vor sogenannten wahren Gefühlen, als das sie oft denunziert wurde, Ironie war ein Bewusstseinszustand, eine Entscheidung, die er getroffen hatte, es war für ihn die einzige Möglichkeit, Mensch zu sein. Deswegen hasste er Friends und liebte Seinfeld. Deswegen langweilten ihn die Beatles, während er Iggys Stooges verehrte. Deswegen verabscheute er romantische Komödien und betete die Simpsons an, zumindest bis Staffel zweiundzwanzig, dann war er irgendwann ausgestiegen. Life’s a bitch, and then you die, verdammt noch mal, aber es hatte dann und wann ein paar richtig gute Pointen in petto. Das war seine Sicht der Dinge. Vielleicht stammte sie daher, dass in seiner Kindheit nicht alles rosig gewesen war. Seine Eltern, beides Wissenschaftler, waren in den Siebzigerjahren vor Pinochets Folterknechten aus Chile nach Schweden geflohen. Zurückgelassen hatten sie Freunde, Verwandte und politische Mitstreiter, die ermordet, verschleppt, gefoltert und verstümmelt worden waren. Etwas Düsteres hatte über seinem Elternhaus gelegen, bis heute, ein stummer Schatten, der nie verschwand. Kein Wunder, dass Klein-Hugo mit seinen Clownereien dagegen angefochten hatte, ein Kampf gegen Windmühlen, der ihn vielleicht zu dem gemacht hatte, der er heute war. Aber diese Grundhaltung, die viele fälschlicherweise mit Zynismus verwechselten, funktionierte in Gegenwart von Eltern, die um ihre Kinder, und einer Frau, die um ihren vermissten Ehemann bangten, nur bedingt. Weshalb er eben gar nicht hier sein sollte, in diesem Zimmer mit der gedeckten gelben Wandfarbe, den schrecklich kitschigen, großformatigen, gerahmten Naturfotografien und den türkis und rosa gesprenkelten Lehnstühlen, die aus den Tiefen der frühen Neunzigerjahre hierher gebeamt worden schienen. Es roch nach Staub und Raumdeodorant, und die Atmosphäre war derart deprimierend, dass im ganzen Präsidium niemand, den er kannte, von diesem Zimmer als Begegnungsraum sprach, wie es das Türschild vorgab, sondern immer nur vom Trakt der tausend Tränen die Rede war. Hier wurden Todesnachrichten überbracht, Schicksale besiegelt, Lebensträume zerstört. Und hier hockte er nun, gemeinsam mit den Eltern von Emil Fallenius, dem Vater Viktor Wijks, der Mutter von Mathilda Adlercreutz sowie der Ehefrau von Mikkael Bergfors und machte gute Miene zum bösen Spiel. Er konnte den Angstschweiß riechen, registrierte die vibrierenden Nerven, die kontrahierenden Gesichtsmuskeln. Emils Mutter, die wie ihr Mann sportlich gekleidet war, hielt die Hand ihres Gatten. Viktors Vater, der einen Businessanzug trug und handgenähte Schuhe, stemmte die Ellbogen auf die Knie und presste die Fäuste an die Schläfe. Mathildas Mutter, eine kleine Frau in einem dunklen Kleid, klammerte sich an die Handtasche auf ihrem Schoß. Die Frau des Lehrers kaute Kaugummi, als hinge ihr Leben davon ab, und starrte unentwegt auf ihr Smartphone. Delgado, der bereits mehrfach erfolglos versucht hatte, Kaffee, Tee oder Erfrischungsgetränke anzubieten, quasselte gegen die bleierne Stille an. Er dozierte positive Statistiken in Vermisstenfällen, wobei er mit den Zahlen, gelinde gesagt, ziemlich kreativ umging, er schüttelte sich Anekdoten aus dem Ärmel, die von unwahrscheinlichen Rettungen Verschollener handelten, und versuchte auf jede nur denkbare Weise, Optimismus und Zuversicht zu verbreiten. Als er irgendwann bei der Geschichte eines Cockerspaniels namens Bobo gelandet war, der nach sieben Jahren und einer Odyssee quer durch die USA von Los Angeles bis an die Ostküste zu seinem Herrchen zurückgetrottet war, sah er ein, dass seine launigen Schnurren alles nur noch schlimmer machten und er am besten einfach den Mund hielt. Insgeheim schielte er bei jeder sich bietenden Gelegenheit auf die Uhr. Wo blieb nur die Psychologin, die in solchen Fällen zur Unterstützung Angehöriger herangezogen wurde? Irgendwann meldete sich brummend sein Handy. Er blickte aufs Display. Es war Sara Hjalmarsson. Er nahm das Gespräch an. Fünf Augenpaare waren auf ihn gerichtet und blickten ihn an. Hoffnungsvoll. Und zugleich panisch, wenn so etwas überhaupt möglich war.

»Ich verstehe«, sagte er schließlich, beendete das kurze Gespräch, steckte das Handy wieder weg und sog für alle hörbar scharf Luft ein.