Stina Forss hatte wenig geschlafen. Als Julia Lihadjis Mutter in der vergangenen Nacht endlich am Krankenhausbett ihrer Tochter eingetroffen war, war es schon nach zwei Uhr gewesen. Forss hatte die Diplomatin, die mit einem Taxi zweihundertfünfzig Kilometer vom Kopenhagener Flughafen Kastrup bis nach Växjö gefahren war, über das wenige informiert, was bisher bekannt war, und sie dann mit ihrer Tochter allein gelassen. Nach vier Stunden unruhigen Schlafs hatte sich Forss am Frühstücksbuffet des Hotels ein zerknautschtes Käsebrötchen geschnappt und einen Kaffee im Pappbecher mitgenommen, den sie auf dem kurzen Fußweg ins Präsidium getrunken hatte, bevor sie sich mit Nyström besprach. Anschließend brach sie mit einem Geländewagen der Polizei in Richtung Lodjurskogen auf. Dieses Mal war der nordwestliche Waldrand ihr Ziel. Matschige Wege, die eigentlich nur für große landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge gedacht waren, mäanderten durch wellige Weizenfelder. Einmal kam ihr eine Kolonne abrückender Forstmaschinen entgegen, ein anderes Mal ein Mähdrescher, und sie musste zweimal mehrere Hundert Meter rückwärtsfahren, bis der Randstreifen breit genug war, damit die stählernen Ungetüme passieren konnten. Von Weiden glotzten ihr Schafherden und zottelige Longhornkühe entgegen. Als endlich der Waldrand in Sichtweite rückte, war der Weg von einem Pkw der Feuerwehr blockiert. Gezwungenermaßen hielt sie an und stieg aus. Ein vierschrötiger junger Mann, dessen Einsatzhelm mindestens eine Nummer zu groß für seinen schmalen Kopf wirkte, stieg ebenfalls aus und begutachtete ihren Polizeiausweis akribisch, bevor er umständlich an dem Funkgerät auf seiner Schulter herumnestelte und sie nach diversen, von atmosphärischem Rauschen und Knacken nahezu unverständlichen Anfragen bei irgendwelchen Vorgesetzten unter der eindringlichen Warnung passieren ließ, dass es trotz des anhaltenden Niederschlags noch Brände und Glutnester im Wald gäbe. Wenige Hundert Meter weiter erreichte sie einen Parkplatz und stellte ihren Wagen ab. Bevor sie ausstieg, schaute sie noch einmal auf die detaillierte Landkarte. Sie befand sich auf einem Hochplateau, unweit der bergigen Anhöhe, die Riesenkopf genannt wurde. Vom Parkplatz aus führten mehrere Pfade durch das zerklüftete Gestein. Etwa einen Kilometer südlich von hier war der westliche Ausgangspunkt der Bahntrasse geplant gewesen, der im Gegensatz zu seinem Pendant an der Ostseite des Waldes von den demonstrierenden Aktivisten – mit Ausnahme der Luchse  – ignoriert worden war. Hätte das Gerichtsurteil anders gelautet, wäre dort bereits mit den notwendigen Sprengungen und Rodungsarbeiten begonnen worden. Nun waren die involvierten Firmen wahrscheinlich trotz des entgangenen Auftrags froh, dass ihre Maschinen und Wohnbaracken nicht dem Feuer zum Opfer gefallen waren. Forss’ Ziel, der Eichenhain beim Runenstein, in dem Nyström in die Grube gestürzt war, befand sich etwa fünfhundert Meter Luftlinie von ihr entfernt am Fuße des Felsplateaus. Der Pfad, der sie dorthin führen sollte, war auf ihrer Karte fein gestrichelt markiert, und obwohl sie keine passionierte Wanderin war und entsprechend wenig Erfahrung mit der Deutung von Trekkingpfaden auf Landkarten hatte, ließ der sich windende Verlauf erahnen, dass die tatsächlich zu gehende Strecke deutlich länger war. Außerdem gab es einen nennenswerten Höhenunterschied. Sie hoffte, dass der Abstieg für ihre Kletterkünste nicht zu steil sein würde. Das Erste, was ihr auffiel, als sie ausstieg, war der durchdringende Geruch nach Rauch und nasser Asche, auch wenn die Bäume, die sie von ihrem Standpunkt aus sah, überwiegend Eichen und Lärchen, unversehrt waren. Mit Doc Martens, Lederjacke und Baseballcap war sie nicht gerade perfekt für eine rutschige Kletterpartie im Regen ausgerüstet, aber Derberes hatte ihre Reisegarderobe nicht hergegeben. Immerhin besser als Ballerinas, dachte sie und machte sich auf den Weg. Die Dienstwaffe hatte sie wie fast immer dabei, auch wenn sie nicht damit rechnete, überhaupt jemandem zu begegnen, mit Ausnahme von Feuerwehrleuten vielleicht. Ganz bestimmt jedoch keinem Mitglied der Luchse. Die selbst ernannten Waldguerillas hatten nach Nyströms Sturz ihr Zeltlager umgehend geräumt und waren längst über alle Berge. Forss bezweifelte stark, dass die Besichtigung des sogenannten Tatorts und Lagerplatzes sie zu irgendeiner Erkenntnis führen würde. Die Spurensicherung, die einige Stunden nach Nyströms Sturz von Erik Edman in den Wald geschickt worden war, hatte zwar eine Menge Fußabdrücke von Wanderschuhen, einen Haufen Fasern, eine liegen gelassene Zeltleine und die Verpackung eines veganen Schokoriegels sichergestellt und war auf ein selbst gegrabenes Plumpsklo gestoßen, aber was sagte das schon aus? Erwartete irgendjemand, dass sie Stuhlproben der vermeintlichen Ökorambos ins kriminaltechnische Labor nach Linköping schickte, um die DNA der hinterlistigen Grubenausheber zu identifizieren?

Die ganze Geschichte war von vorn bis hinten eine Farce, und der Umstand, dass ihre ehemalige Chefin sie als Figur in einem Machtspielchen mit dem Staatsschutz benutzte, machte sie wütend. Der Grund, warum sie überhaupt noch hier war und über glitschige Felsen durch nassen Wald stapfte, war keine neu entdeckte Gefügigkeit, sondern eine Mischung aus alter Loyalität und der merkwürdigen Anziehung, die der Vermisstenfall auf sie ausübte. Obwohl sie damit überhaupt nicht betraut war. Aber die Stunden, die sie in der vergangenen Nacht am Bett des traumatisierten Mädchens verbracht hatte, machten etwas mit ihr. Auch wenn die Untersuchungen es bisher nicht eindeutig belegten: Sie war sich sicher, dass Julia nach ihrem Verschwinden sexueller Gewalt ausgesetzt gewesen war. Sie dachte an die Mord- und Vergewaltigungsserie zurück, in der sie in Stockholm ermittelt hatte, bevor Nyström sie hatte antanzen lassen. Und nicht zuletzt an eine Situation, in der sie selbst vollkommen wehrlos einem sadistischen Mörder ausgeliefert gewesen war. Das war etwas länger als ein Jahr her. Der Serientäter hatte sie in eine Falle gelockt und in seinem Keller gefesselt gefangen gehalten. Er hatte sie zwar nicht vergewaltigen, sondern in Stücke schneiden wollen. Erst in letzter Sekunde hatte sie den Mann überwältigen und sich in Sicherheit bringen können. Bis heute hatte sie über dieses Erlebnis mit niemandem wirklich gesprochen. Vielleicht weil sie es trotz aller Dramatik nur als schwaches Echo eines anderen Traumas empfunden hatte. So war das wohl, wenn man im Alter von sieben Jahren von seinem Vater eine Bratpfanne voll siedenden Öls ins Gesicht geworfen bekommen hatte. Dennoch oder gerade deswegen sah sie natürlich das Muster. Es war eines der ältesten Muster der Menschheit. Es hatte bereits zu den Zeiten gegolten, in denen Neandertaler in Höhlen gehaust hatten. Und es galt bis heute. Männer verletzten Frauen. Männer vergewaltigten Frauen. Männer töteten Frauen. Jeden Tag. Überall. Immer wieder.

Sie kickte einen Stein weg, der vor ihr auf dem schmalen Pfad gelegen hatte. Sie sprang von einem flechtenbewachsenen Felsbrocken auf den nächsten. Sie rutschte auf nassem Moos aus und verlor beinahe ihr Gleichgewicht. Sie kam an ein steiles Geröllfeld und kletterte fünfzehn Meter nach unten. Ihr Atem dampfte im Nieselregen. Ab und zu zogen Rauchschwaden über sie dahin. Oder waren es nur tief vorbeiziehende Wolkenfetzen? Der Brandgeruch war allgegenwärtig, obwohl sie im Laub der Bäume noch keine einzige Spur von Feuer entdeckt hatte. Und dann, nach einem halbstündigen Gekraxel hatte sie ihr Ziel erreicht. Da stand er vor ihr, vom Feuer unversehrt, der Eichenhain. Sie musste an die Asterixhefte ihrer Kindheit denken. Irgendwas mit Kelten und Druiden. Dabei war das hier doch Wikingerland. Oder das der Normannen? Jedenfalls irgendwas mit Odin. Aber was wusste sie schon? Die Äste der uralten Bäume waren mächtig, das Herbstlaub dicht. Sie betrat das Innere des Baumkreises. Und dann sah sie den Jungen. Stehend an den Stamm einer Eiche gefesselt, die Arme nach hinten gebogen, den Kopf gesenkt, das Kinn auf der Brust ruhend. Forss lief los, dabei hatte sie unbewusst längst begriffen, dass jede Hilfe zu spät kam. Sie rannte, stolperte, fiel der Länge nach hin. Über etwas, das in braunen Blättern lag, die der Wind an dieser Stelle zu einer wadenhohen Wehe zusammengeschoben hatte. Ein Stein? Ein großer abgebrochener Ast? Forss, die auf dem Bauch gelandet war, drehte sich um und schrie vor Schreck auf. Das war kein Ast und auch kein Stein. Es war ein Mensch. Doch dort, wo der Kopf hätte sein sollen, war etwas falsch. Da war etwas … Ihr Verstand brauchte einen Moment, um die widersprüchlichen Informationen zu sortieren. Der menschliche Körper, der da lag, trug eine Art Maske. Besser gesagt, das, was davon übrig war. Sie überwand ihren Schrecken und zog die Maskenfetzen vom Kopf. Das kalkweiße rundliche Gesicht eines Jungen kam zum Vorschein. Ein aufgerissenes, lebloses linkes Auge. Gegenüber, oberhalb des rechten Nasenflügels, war der Kopf deformiert. Da, wo die Augenhöhle hätte sein müssen, klaffte ein Loch. Forss rappelte sich auf. Ging auf den anderen Jungen zu. Hob seinen Kopf an. Durchnässte schwarze Haare rahmten das Gesicht, das einer wächsernen Totenmaske glich. Der gleiche leblose Blick wie bei dem anderen Jungen. Durch die Kehle ein tiefer, breiter Schnitt. Das weiße Rüschenhemd, das er trug, war bis zur Taille hinab von geronnenem Blut getränkt. Vor seinen Füßen lag eine weitere Maske. Sie stellte einen Fuchskopf dar. Was zur Hölle war hier vorgegangen? Es war keine zwei Stunden her, dass sie die Gesichter der beiden Teenager auf Fotos am Whiteboard im Besprechungszimmer des Präsidiums gesehen hatte. Die Toten waren Viktor Wijk und Emil Fallenius.