Seit seine Ex-Freundin und ehemalige Kollegin Anette Hultin, mit der er lange eine komplizierte On/Off-Beziehung geführt hatte, vor zwei Jahren auf eigenen Wunsch hin nach Schonen versetzt worden war, hatte Hugo Delgado an ihrer statt Lasse Knutsson als Ziel seines täglichen Piesackens, seiner Sprüche und Späße auserkoren. Der alte Sack mit dem Herzen aus Gold, Delgado mochte ihn wirklich sehr gern, war ein dankbares Opfer, da Schlagfertigkeit nicht gerade zu seinen Stärken gehörte – neben Knutssons ständigem Hunger eine weitere offene Flanke, die er gnadenlos zur eigenen Belustigung ausnutzte. Sein neuester Streich bestand darin, jeden Morgen zwei große, meisterhaft zubereitete Becher Caffè Latte sowie jeweils zwei Croissants und zwei belegte Sauerteigbrötchen aus dem Bröd och Sovel, laut White Guide eine der besten Bäckereien des Landes, ins gemeinsame Büro mitzubringen und sie sich dort hintereinander lautstark zu Gemüte zu führen. Auf Knutsson hatte das einen ähnlichen Effekt wie die chinesische Wasserfolter. Er litt. Er zitterte. Er wand sich. Dabei müsste er natürlich bloß den Mund aufmachen und Delagdo darum bitten, die Schätze zu teilen. Was Knutsson aber nicht tat, denn Delgado anzubetteln bedeutete, Blöße zu zeigen. Delgado sah es ihm an, Morgen für Morgen nahm Knutsson sich vor, dieser Qual etwas entgegenzusetzen, selbst ein zweites Frühstück aufzufahren, Kaffeespezialitäten zu brauen, Baguettes zu belegen, Marmeladenbrötchen zu schmieren. Doch Morgen für Morgen vergaß er offenbar den Plan vom Vortag. Ließ die vorbereiteten Stullen versehentlich zu Hause liegen. War zu spät dran, um vor der Arbeit noch irgendwo einen Cappuccino abzugreifen. An diesem Morgen hatte er gleich wortlos im Türrahmen kehrtgemacht, während Delgado grinsend in sein zweites Croissant gebissen hatte. Während er auf die neusten Berichte der Spurensicherung und der Pathologie wartete, scannte er auf seinem Rechner die Aktivitäten in den sozialen Medien. In den Kanälen der Umweltaktivisten und Waldbesetzer hatte die gerade beendete live gestreamte Pressekonferenz starken Eindruck hinterlassen. Bestürzt und betroffen wurde über die getöteten, verletzten und verschwundenen Jugendlichen diskutiert. Es bildete sich spontan eine stetig wachsende Gruppe, die sich der Suche nach dem vermissten Mädchen anschließen wollte, auch wenn es sich dabei um die Tochter eines rechten Scharfmachers handelte. Über den Hintergrund der schockierenden Geschehnisse im Lodjurskogen schossen die wildesten Spekulationen ins Kraut. Der polizeilichen Erklärung über die Ursache des Waldbrands glaubten offenbar die wenigsten. Delgado klickte sich ans andere Ende des politischen Spektrums. Jan Adlercreutz hatte Fotos seiner Tochter veröffentlicht und eine beachtliche Geldsumme als Belohnung für denjenigen ausgeschrieben, der Mathilda fand oder sachdienliche Hinweise zu ihrem Aufenthaltsort liefern konnte. Der Post war x-fach geliked und geteilt worden, es gab bereits über vierhundert Kommentare. Die meisten stützten ein Narrativ, in dem das Mädchen von militanten Ökofreaks entführt worden und ihre Mitschüler und der Lehrer, die ihr hatten zur Seite stehen wollen, ermordet beziehungsweise verletzt worden waren. Delgado hielt diese Theorie für abstrus, auch wenn das Team sie am Vortag selbst kurz erörtert hatte. Er teilte Stina Forss’ Auffassung, dass es linke Terroristen dieses Schlags in Schweden schlichtweg nicht gab. Von der Spurenlage ganz zu schweigen, die – so schwer sie auch zu deuten war – in eine andere Richtung wies. Interessanter als diese krude Verschwörungstheorie, in der die Polizei die Taten der linksextremen Mörder und Entführer vertuschte und die sich in verschiedenen Varianten ständig wiederholte, waren die Kommentare, die auf Mathildas vermeintlichen Aufenthaltsort eingingen. Ein User namens Arian Warrior behauptete, er hätte sie vor zwei Tagen geknebelt im Rückfenster eines VW -Bullis gesehen, in Borlänge, einer Stadt, die sechs Autostunden von Växjö entfernt lag. Eine selbst ernannte Nordische Barbarenwikingerin  – wow, eine doppelte Tautologie, das sprachliche Kunststück gelang nicht vielen, dachte Delgado – wollte Mathilda in Begleitung eines rothaarigen Manns auf einem Flughafen gesehen haben, und zwar am John F. Kennedy Airport in New York. Jemand mit dem Benutzernamen SS ven SS venSS on war sich sicher, dass die Schülerin im Keller des Nachbarreihenhauses gefangen gehalten werde, wo sie mithilfe des Morsealphabets die ganze Nacht hindurch SOS -Signale an die Heizungsrohre geklopft habe. HorstW88 meinte dagegen, Mathilda sei wie ihre zwei Mitschüler längst ermordet worden, von Agenten, die Teil einer vermeintlichen pädophilen jüdischen Unterwanderung waren, die sich bis in höchste Polizei- und Geheimdienstkreise erstreckte.

Als endlich die lang erwartete E-Mail von Bo Örkenrud eintraf, war Delgado nahezu erleichtert, dass ihn endlich etwas von dem durchgeknallten Gefasel ablenkte. Örkenrud fasste sich kurz. Seine Mitarbeiter hatten übereinstimmende Fahrzeugidentifikationsnummern des ausgebrannten Suzukis auf dem Motorblock und der Karosserie sichergestellt. Dank Delgados Zugang zu den digitalen Verzeichnissen der Behörde für Verkehr und Transport dauerte es keine Minute, bis er der Nummer einen Fahrzeughalter zuordnen konnte. Der Geländewagen war auf einen sechsundfünfzigjährigen Mann namens Pär Ahlström gemeldet, wohnhaft in Alvesta, einer Kleinstadt, die etwa dreißig Minuten Fahrt vom Fundort von Leiche und Auto entfernt lag. Delgado prüfte umgehend, ob Ahlström schon einmal polizeilich auffällig geworden war. Was er fand, war ein Eintrag aus dem Frühjahr 2004. Seine damalige Frau hatte ihn wegen schwerer Körperverletzung und wiederholter Vergewaltigung in der Ehe angezeigt. Einige Tage später hatte sie ihre ausführliche und detailreiche Aussage jedoch plötzlich zurückgezogen. Obwohl ein starker Anfangsverdacht bestand, fiel die Ermittlung ohne die belastende Aussage in sich zusammen. Neugierig geworden, rief Delgado die Akte der Frau auf. Sie war drei Jahre nach dem Vorfall auf einer Gebirgswanderung tödlich verunglückt. Der einzige Zeuge des Sturzes war ihr Mann gewesen. Eine polizeiliche Untersuchung des vermeintlichen Unfalls hatte es nicht gegeben. Delgado klickte sich durch Ahlströms Steuerunterlagen. Der kinderlose Witwer war Inhaber eines Vertriebs für Ersatzteile großer Baumaschinen und hatte 2011 erneut geheiratet. Seine zweite Frau hieß Latitia. Auch diese Ehe war kinderlos. Delgado druckte die Daten aus. Mit seinem letzten verbliebenen Gebäckstück machte er sich auf die Suche nach Knutsson, den er schließlich in der Teeküche antraf, wo er schmollend eine Banane aß und dazu ein Glas Leitungswasser trank. Delgado hielt ihm den Ausdruck sowie die Papiertüte der Bäckerei entgegen und raschelte damit am ausgestreckten Arm, wie ein Hundebesitzer, der seinem Liebling ein Leckerli hinhält. Er grinste.

»Es gibt Arbeit für dich, Dickerchen. Und wenn du brav Männchen machst, dann fällt vielleicht sogar eine kleine Belohnung für dich ab.«

»Sadist«, brummte Knutsson und griff sich das Blatt mitsamt der verheißungsvoll raschelnden Tüte.