Stina Forss hatte auch in der vergangenen Nacht nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Die Müdigkeit lähmte ihren Körper wie ein Gift, und ihr Hirn fühlte sich an, als habe es Muskelkater, sogar das Denken strengte an. Vom Hotel aus ging sie zu Fuß zur Psychiatrie, ein Spaziergang von gut zwanzig Minuten. Die Morgenluft tat ihr gut. Der Regen hatte aufgehört, es war frisch und windig, Wolken und Sonnenschein wechselten sich ab. Sie ließ ihren Blick über den Växjösee schweifen. Ein Stück vom Ufer entfernt zankten sich zwei Schwäne. Auf der Terrasse eines Cafés saß als einziger Gast eine ältere Frau unter einem Heizpilz und streichelte den schwarzen Pudel, der auf ihrem Schoß saß. Als Forss das Schwimmbad passierte, musste sie an einen lange zurückliegenden Rettungsschwimmkurs denken, an dem sie an einem dunklen Winterwochenende im Rahmen einer Fortbildung hatte teilnehmen müssen. Sie hatte sich für ihren vernarbten Körper geschämt, und der Ausbildungsleiter hatte blöde Witze über ihre Augenklappe gemacht. Bis sie sie abgenommen hatte. Dreieinhalb Jahre musste das nun her sein. Es fühlte sich bereits an, wie ein Ereignis aus einem anderen Leben, und das war es ja irgendwie auch. Växjö war nicht mehr ihr Zuhause, war es vielleicht auch nie wirklich gewesen. Genauso wenig wie Berlin oder Stockholm. Heimat war für Menschen wie sie ein Wort ohne Bedeutung.
Der Eingang der Psychiatrie, zu der auch eine forensische Abteilung gehörte, war ebenso gut gesichert wie der fünf Meter hohe Zaun mit NATO -Drahtkrone, der das Gelände umgab. Sie hielt ihren Polizeiausweis vor eine Kameralinse, erst dann durfte sie die Türschleuse passieren, die mit elektronischen Schlössern bewehrt war. Dem mintgrün bekleideten Rezeptionisten erklärte sie ihr Anliegen. Er bat sie, in einem Wartebereich Platz zu nehmen. Telefonate wurden geführt. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurde sie von einer Ärztin abgeholt, die die gleiche mintgrüne Arbeitskleidung trug. Ihre rosafarbenen Crocs, die mit bunten Gummiobststickern verziert waren, quietschten penetrant auf dem Linoleumboden, und Forss fragte sich, wie man dieses Geräusch tagtäglich ertragen konnte, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Sie gingen durch endlose Flure. Immer wieder wurden Sicherheitstüren mithilfe einer Chipkarte geöffnet und wieder geschlossen. Schließlich erreichten sie die richtige Abteilung. Erneut wurde sie gebeten, in einer Sitzecke Platz zu nehmen. Die Wände waren buttergelb gestrichen. Es roch nach Raumspray, Fichte oder Tanne, irgendwas mit Nadelbäumen. Sie dachte an Lodjurskogen. Julia Luhadji hatte sie unter einem Ahornbaum sitzend gefunden. Die Ärztin kam zurück. Hinter ihr folgte das Mädchen in Begleitung ihrer Mutter. Julia trug einen Jogginganzug und Badelatschen. Sie war blass, was die schwarzrot verschorften Abschürfungen in ihrem ebenmäßigen Elfengesicht betonte. Die langen Haare waren sorgfältig gekämmt. Das Gesicht war ausdruckslos. Alle drei setzten sich Forss gegenüber in bordeauxrote Kunststoffschalensitze, die an der Wand befestigt waren. Die Mutter hielt die Hand ihrer Tochter. Julia sah Forss kurz an, ihr Blick flackerte, dann senkte sie ihn wieder. Es sah aus, als würde sie die Gummiobststicker auf den Kunststoffsandalen der Ärztin betrachten. Ein Apfel, eine Banane, eine lachende Ananas mit Sonnenbrille. Falls das Mädchen sie wiedererkannte, ließ es sich es nicht anmerken.
Forss suchte nach den richtigen Worten.
»Wie geht es ihr?«, fragte sie schließlich. »Spricht sie wieder?«
»Du kannst dich ruhig direkt an sie wenden«, sagte die Mutter. »Julia ist weder abwesend noch irgendein Ding, über das man in der dritten Person spricht. Sie ist ein Mensch, und sie ist hier, bei uns.«
Also gut. Sie hatte ja recht.
»Wie geht es dir, Julia?« Forss lächelte schief. »Du erinnerst dich doch an mich, nicht wahr?«
Das Mädchen sah erneut kurz auf. Ein Blick wie zwei Kerzenflammen im Wind. Sie nickte knapp. Kurz kräuselte sich ihre Oberlippe, als wollte sie etwas sagen, doch dann entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder. Ihre Aufmerksamkeit schien zu der lachenden Ananas zurückzukehren.
»Ich würde mich gern mit dir unterhalten, Julia. Ich … für uns ist es wichtig zu erfahren, was dir im Wald passiert ist.« Das fein geschnittene Gesicht zeigte keine Regung. Die verschrammte Haut wirkte wie aus Porzellan. Das zersprungen und wieder zusammengeklebt worden war. Für ihr Inneres galt das möglicherweise ebenfalls. Auch wenn es mit dem Wiederzusammenfügen so eine Sache war. Vermutlich würde diese Heilung länger dauern als die ihrer Haut. »Erinnerst du dich an den Abend im Wald? An die Mottenfalle und euer Zeltlager? An deine Mitschüler und Lehrer? An Mathilda?« Julia schob ihre Hände unter die Oberschenkel. Ihre Füße wippten, ansonsten war ihr Körper vollkommen bewegungslos, nicht ein einziger Muskel angespannt. Sicherlich bekam sie Medikamente, Angstlöser, die die Impulse des zentralen Nervensystems dämpften. Daher bemühte sich Forss, langsam zu sprechen, was sie allerdings nicht lange durchhielt. »Julia, was ist in dieser Nacht im Wald geschehen? Hat dich jemand angefasst? War jemand grob zu dir? Hat dir jemand wehgetan? Dich zu Dingen gezwungen, die du nicht wolltest? Hast du etwas Besonderes gesehen oder gehört? Schreie? Schüsse? Warum trugt ihr Kostüme? Was sollten die Masken?«
Die Ärztin räusperte sich leise. Forss wusste, dass diese Artillerie an Fragen unlauter und wenig zielführend war. Sie waren suggestiv, nicht offen. Solche Fehler zu vermeiden, lernte man auf der Polizeihochschule im ersten Semester. Trotzdem konnte sie nicht an sich halten. Ihre Ungeduld trieb sie vor sich her, das war schon ihr ganzes Leben lang so. Aber in diesem Moment ganz besonders. Möglicherweise gab es für den Mord an den Jungen drei Zeuginnen und Zeugen. Die eine war weiterhin verschwunden, der andere lag im Koma, die dritte sprach nicht. Wie sollten sie jemals erfahren, was in dieser Nacht geschehen war? Sie wiederholte ihre Fragen. Variierte sie. Machte Pausen. Gestikulierte. Wartete. Suchte Julias Blick und fand ihn nicht. Keine Antworten, keine Reaktion. Hier kam sie ganz offenbar nicht weiter. Julia mochte ihr gegenübersitzen, aber in Wirklichkeit war sie woanders. Gefangen in sich selbst. Hinter Türen, die Forss nicht öffnen konnte. Der Besuch war völlig sinnlos. Frustriert stöhnte sie auf.
»Die Zeit ist noch nicht gekommen«, sagte die Ärztin schließlich.
»Aber wann wird das sein?«, fragte Forss, obwohl sie wusste, wie überflüssig diese Frage war, denn niemand konnte sie seriös beantworten.
»Wenn es so weit ist, wird es so weit sein.«
Forss verkniff sich jeden spitzen Kommentar, bedankte sich und machte Anstalten aufzustehen. Ein letzter Blick auf Julia zeigte ihr, dass das Mädchen mental noch immer bei dem Obstsalat auf den Plastikpantoffeln war. Oder weiß der Teufel, wo.
»Hättest du noch einen Moment?« Die Frage der Mutter kam unerwartet. »Unter vier Augen?« Sie war eine schick gekleidete Frau mit langem dunklem Haar und ähnlich hübschen Gesichtszügen wie ihre Tochter. Doch im Gegensatz zu Julia lag in ihrem Antlitz auch etwas Hartes, vielleicht sogar Herrisches.
»Sicher.«
Forss setzte sich wieder hin, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Hände vor dem Knie. Dora Lihadji wartete, bis die Ärztin Julia durch die Tür geführt hatte, die mit einem Klicken ins Schloss fiel.
»Als ich vorgestern Nacht im Krankenhaus ankam, ging alles furchtbar schnell. Ich war fast verrückt vor Angst und Anspannung, von der Anreise fix und fertig. Deshalb habe ich es leider versäumt, mich zu bedanken. Wenn du Julia nicht gefunden hättest, wäre alles noch viel schlimmer. Sie war katatonisch, vollkommen dehydriert und stark unterkühlt. Dazu der immer näher kommende Waldbrand. Ein Arzt hat mir gesagt, dass sie eine weitere Nacht da draußen wahrscheinlich nicht überlebt hätte. Dafür möchte ich mich von ganzem Herzen bei dir bedanken. Du hast sie gerettet. Wir verdanken dir ihr Leben.«
Wie immer, wenn es gefühlig wurde, spürte Forss, wie sich ihr Hals zuzog.
»Ach was.« Sie winkte ab. »Das war reiner Zufall und außerdem mein Job.«
»Trotzdem.« Die Frau sah sie aus dunkelbraunen Augen an, ein Blick, der gleichzeitig machtbewusst und warm wirkte, falls so etwas möglich war. »Wenn es irgendetwas gibt, wie mein Mann und ich uns erkenntlich zeigen können …«
Ein merkwürdiges Angebot. Wie wäre es mit fünf Millionen Kronen in bar, dachte Forss, Bargeld lacht , oder einem künstlichen Hightechauge, das wie der Terminator aus der Zukunft ins Jetzt geschickt wurde?
»Wenn ich im nächsten Italienurlaub Ärger mit der Polizei bekomme, weil ich am Strand von Rimini einem fliegenden Händler eine gefälschte Versace-Sonnenbrille abgekauft habe, rufe ich dich an, okay?«
Sie zeigte ihr schiefes Lächeln, das von Lihadji gespiegelt wurde. Seinem Gegenüber das Gefühl der Wertschätzung zu geben, das gehörte wahrscheinlich auch zur Stellenbeschreibung einer hochrangigen Diplomatin.
»Einverstanden.«
Sie hielt Forss die ausgestreckte Hand hin. Die Kommissarin griff danach. Im selben Moment fiel ihr etwas ein.
»Julia leidet seit Jahren an Bulimie. Woran liegt das?«
Das Lächeln der Frau fror ein. Sie zog die Hand zurück.
»Woher weißt du das? Das sind vertrauliche medizinische Informationen! Hat das Krankenhaus ohne mein ausdrückliches Einverständnis Julias Patientenakte herausgegeben? Oder kommt das etwa vom Internat?«
Forss lehnte sich in die Sitzschale zurück und wechselte die Position ihrer Beine. Sie wartete einige Sekunden, legte sich die Sätze zurecht.
»Willst du, dass wir herausfinden, was Julia angetan wurde? Willst du, dass der oder die Täter zur Rechenschaft gezogen werden?«
»Natürlich will ich das!«
»Alles, was wir über Julia wissen, hilft der Ermittlung. Alles, was wir nicht wissen, schadet. So einfach ist das. Deshalb frage ich noch einmal: Was sind die Ursachen für die jahrelangen Probleme mit ihrer Ess-Brech-Sucht?«
Das zornige Blitzen in den Augen ihres Gegenübers verschwand. Scharf zog sie Luft durch die Nase. Schloss für einen Moment die Augen. Geistesabwesend führte sie eine Hand zum Mund. Kurz sah es so aus, als würde sie an ihren manikürten Fingernägeln kauen wollen, doch im letzten Augenblick bemerkte sie, was sie im Begriff war zu tun, öffnete die Augen wieder und nahm die Hand aus ihrem Gesicht.
»Na schön«, sagte sie, »na gut.« Sie passte ihre Sitzposition exakt an Forss’ an. »Maximale Offenheit.« Für einen Moment wirkte es, als wollte sie aufstöhnen, aber auch diese unbewusste Reaktion des Nervensystems bekam sie unter Kontrolle. Maximale Selbstbeherrschung. »Als Julia mit dem bulimischen Verhalten anfing, war sie zwölf oder dreizehn. Eine Zeit lang haben wir das überhaupt nicht bemerkt. Vielleicht wollten wir die Zeichen aber auch nicht sehen. Wir haben uns eingeredet, dass sich alle Kinder in der Pubertät zurückziehen und eine ganz andere Körperwahrnehmung bekommen. Wir hätten genauer hinschauen müssen. Da waren die Essattacken. Ganze Packungen Vanilleeis oder ein halber Brotlaib plus Aufschnitt konnten über Nacht verschwinden. Da waren die Phasen, in denen sie exzessiv Sport trieb und täglich joggen ging. Nach jedem Essen der obligatorische Gang auf die Toilette. Der laufende Wasserhahn, der ewige Pfefferminzatem, die ständig wechselnden Diäten. Irgendwann kam dann alles raus. Natürlich waren wir geschockt, als wir das Ausmaß ihres Tuns begriffen. Wir haben sie zu einer ganzen Reihe von Jugendpsychologen geschickt. Letztendlich kamen sie zu demselben Schluss: hoher Leistungsdruck, ein geringes Selbstwertgefühl, fehlende Anerkennung durch die Eltern. Was auf meinen Mann und mich natürlich ein denkbar schlechtes Licht wirft.« Sie holte tief Luft. »Julia ist genau wie ihre jüngere Schwester von uns niemals misshandelt worden. Weder körperlich noch psychisch. Bei uns gab es keine Gewalt im Haus und auch keine verletzenden Worte. Aber es stimmt, dass meinem Mann und mir unsere Karrieren sehr wichtig waren. Und weiterhin sind. Berufe wie unsere übt man nicht einfach so nebenbei aus. Es gibt keine Stechuhr und keinen Feierabend. Da haben die Kinder oft hintenangestanden. Dazu kamen die vielen Umzüge. Indonesien, Vietnam, Frankreich, Singapur, die Emirate, Italien. Selten waren wir zu viert an einem Ort, weil meinem Mann und mir bis heute viel an unseren eigenen Wegen liegt. Also waren die Mädchen mal hier, mal dort. Wir haben zu spät verstanden, welche Konsequenzen das für Julia hatte. Vielleicht wollten wir es auch lange Zeit nicht verstehen. Serena, ihre Schwester, ist da anders. Robuster, anpassungsfähiger. Obwohl sie die Jüngere ist. Zu lange haben wir gedacht, wenn Serena es schafft, dann muss Julia es erst recht schaffen. Besser ging es ihr erst, seit sie auf dem Internat in diese spezielle Lerngruppe kam. Die stabile Umgebung mit einem festen Regelwerk und ausgezeichneten Pädagogen tut ihr ausgesprochen gut. Zum ersten Mal hat sie in einer Clique Gleichaltriger Anschluss und Halt gefunden. Sie ist regelrecht aufgeblüht. Sogar einen Schwarm hat sie dort, hat uns Serena berichtet, vielleicht ist sie mit dem Jungen sogar fest zusammen, sie erzählt uns ja nichts. Aber dass sie in letzter Zeit innerlich strahlte, war nicht zu übersehen, selbst nicht in den Videocalls, mit denen wir den familiären Kontakt halten.« Sie hielt inne, wischte sich mit dem Handballen über die Augen. »Doch statt mit ihrer ersten großen Liebe zusammen zu sein, sitzt mein Mädchen vollgepumpt mit Medikamenten in einer Klinik für psychisch Kranke und redet nicht mehr. Und dieser arme Junge ist …«
Ihre Stimme brach weg.
»Julia hatte einen festen Freund?«
Lihadji sammelte sich einige Augenblicke, dann fand sie ihre Stimme wieder.
»Wie fest es war, weiß ich nicht. Doch sie war auf jeden Fall verliebt bis über beide Ohren.«
»Ein Mitschüler sagtest du?«
»Viktor«, antwortete sie. »Viktor Wijk.«