Bevor Lasse Knutsson aus seinem Pick-up stieg, strich er sich Krümel von der Angelweste. Das belegte Brötchen, das er von Delgado abgestaubt hatte, war wirklich nicht zu verachten gewesen, selbst nach den hohen Maßstäben, die ein passionierter Hefe- und Sauerteigexperte wie er an Backwaren aller Art anlegte. Die Adresse lag in einem ruhigen Wohngebiet, das von pastellgelben Holzhäusern dominiert wurde. Das Eigenheim der Ahlströms stach heraus. Es setzte sich aus Elementen einer spanischen Finca, eines toskanischen Renaissancepalazzos und einer Bauhausvilla zusammen, ein Stilmix, den auch die blassrosa getünchte Fassade nicht retten konnte. Das Gegenteil war der Fall, befand Knutsson, auch wenn sein Architekturinteresse deutlich weniger ausgeprägt war als seine kulinarischen Kenntnisse. Nachdem er im Autospiegel kontrolliert hatte, ob sich auch wirklich keine Brötchenkrümel mehr in seinem Bart befanden, stieg er aus und ging durch den Vorgarten, wenn man die mit weißen und hellblau gefärbten Kieselsteinen bedeckte Fläche denn so nennen wollte, auf die Haustür zu, an der sich keine Klingel befand, sondern ein mächtiger schmiedeeiserner Türklopfer in Form eines Löwenkopfes, der einen Metallring im gefletschten Maul hielt. Knutsson klopfte. Schon während der Fahrt hatte er sich für das Schlimmste gewappnet. Dass es sich bei dem bis zur völligen Unkenntlichkeit verbrannten Leichnam in dem Geländewagen um den Fahrzeughalter handelte, war schließlich sehr wahrscheinlich, stimmte doch die auffällige Körperlänge der Brandleiche mit den Angaben aus Ahlströms Personalausweis überein. Ein wenig merkwürdig war in dieser Hinsicht allerdings, dass bisher keine Vermisstenanzeige eingegangen war, die zu dem Mann passte, der, je nachdem wie genau die Schätzung der Feuerwehr über die Dauer des Kriechbrandes war, bereits seit drei oder vier Tagen tot sein musste. Andererseits gab es natürlich durchaus Ehepaare, die sich tagelang nicht sprachen, begegneten oder über den Aufenthalt des anderen Bescheid wussten. Sein Ding war das zwar nicht, aber die Welt war voller merkwürdiger Arrangements, und warum auch nicht, dachte er, solange es die Menschen glücklich oder zumindest zufrieden machte. Jedem das Seine, das war zumindest sein Motto, und damit war er Zeit seines Lebens gut gefahren. Hinter der dunklen Eichentür, die in ihrer Formgebung an das Tor einer gotischen Kathedrale erinnerte, hörte er deutlich sich nähernde Schritte, Holzclogs auf Fliesen vermutete er, und das war gut, denn es bedeutete, dass seine Fahrt nach Alvesta nicht umsonst gewesen war. Die Tür wurde ein Stück weit geöffnet, und es schob sich ein Kopf durch den so entstandenen Spalt, der einer kleinen Frau Anfang fünfzig gehörte, deren hennarote Lockenmähne auf komische Weise der des eisernen Löwenhaupts glich, das sich nun wenige Zentimeter neben ihrem Kopf befand. Knutsson biss sich auf die Lippe. Er konnte die Frau, die möglicherweise zu einer Witwe geworden war, ja nicht feixend über den Tod ihres Manns informieren.

»Ja, bitte?«

Eine Stimme, leise und fiepend wie die einer Maus. Was auch auf die Gesichtszüge, ja, sogar die Mimik zutraf, in der Knutsson etwas geradezu Duckmäuserisches auszumachen meinte, etwas Verhuschtes, Untertäniges, das in einem auffälligen Kontrast zu der imposanten rot gefärbten Lockenpracht stand. Er stellte sich umständlich vor, betonte, dass es um eine überaus ernste Sache ginge, und schlug vor, alles Weitere drinnen zu besprechen, womöglich am Küchentisch, womöglich bei einem Glas Wasser und Taschentüchern in Reichweite, wobei er Letzteres natürlich nicht aussprach. Zu seiner Überraschung verweigerte sich Latitia Ahlström seinem Vorschlag. Überrumpelt suchte er nun nach den richtigen Worten, fand aber keine, was schließlich dazu führte, dass er seine Sätze steif und roboterhaft wiederholte.

»Ich denke, wir klären alle Fragen am besten hier«, beharrte das Mäusestimmchen mit unvermuteter Vehemenz. Ein weiterer Widerspruch, stellte Knutsson fest, der trotz der rigiden Reaktion noch immer nicht aufgeben wollte.

»Es wäre wirklich besser so«, sagte er und legte etwas Bittendes, ja, Flehendes in Stimme und Blick.

»Wir klären es hier.«

Von wegen duckmäuserisch, dachte er, teils bewundernd, teils verzweifelnd. Begriff sie denn nicht, worum es hier ging? Verstand sie nicht, was es bedeutete, wenn ein Kriminalpolizist mit angespannter Miene vor der Tür stand und dabei verdruckst sein Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte, wie ein Kind, das ganz dringend mal aufs Klo muss, und sie gleichzeitig ihren Mann seit Tagen weder gesehen noch gesprochen hatte? Was sollte Knutsson denn jetzt machen? Er konnte die gute Frau schließlich nicht zu ihrem Glück zwingen – wobei Glück in diesem Zusammenhang vielleicht nicht gerade der treffendste Begriff war. Gut, dachte er, nun gut. Also berichtete er, erläuterte die Fakten, so sachlich wie möglich, und hatte dabei prüfend den Gesichtsausdruck dieser so seltsam widersprüchlich wirkenden Frau im Blick. Im einen Augenblick dachte er, dass es in ihr merklich arbeitete, im anderen wirkte sie vollkommen emotionslos, im nächsten, als würde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch stehen, dann wieder, als setze sie ein Pokerface auf. Als er alles gesagt hatte, was es zu sagen gab, blieb es lange still. Sie schwieg, und er tat es ihr gleich. Der Ausdruck ihrer grauen Mäuseaugen war ebenso wenig zu deuten wie ihre Mimik. Die Frau war und blieb ihm ein Rätsel.

»Es muss sich um eine Verwechslung handeln. Mein Mann befindet sich auf einer mehrwöchigen Auslandsreise«, sagte sie schließlich. »Vietnam und Kambodscha. Pär ist vor acht Tagen aufgebrochen, und ich erwarte ihn erst in knapp zwei Wochen zurück. Der Suzuki ist kurz nach seiner Abreise nachts gestohlen worden, direkt hier, von der Auffahrt neben dem Haus, genau dort, wo jetzt mein Polo steht. Pär liebt den Geländewagen. Ich habe ihm ehrlich gesagt noch nichts von dem Diebstahl erzählt, es würde ihm den ganzen Urlaub verhageln.«

Knutsson war baff.

»Warum hast du das gestohlene Auto denn nicht gemeldet?«, fragte er.

»Das habe ich«, fiepte sie ohne jeden Trotz oder Triumph in der Stimme. »Direkt am nächsten Morgen. Allein schon wegen der Versicherung.«

»Okay«, sagte Knutsson gedehnt. Etwas Schlagfertigeres fiel ihm nicht ein. Konnte das stimmen? Wieso hatte Delgado das nicht abgeklopft? Hier und jetzt konnte er das kaum überprüfen. Aber wieso sollte die Frau ihm eine Lüge auftischen, der er zwanzig Minuten später auf den Grund gehen konnte? »Wann hattest du denn das letzte Mal Kontakt zu deinem Mann?«

»Gestern hat er mir ein Selfie geschickt, da stand er vor einem dieser Urwaldtempel. Angkor Thom? Am Tag davor haben wir telefoniert. Ihm geht es prima, auch wenn ihm das Klima etwas auf den Magen schlägt.« Sie lächelte zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hatte. »Ich glaube eher, das liegt am scharf gewürzten Essen und den vielen Cocktails. Er hat Amok Chicken probiert, in einer Kokosnuss serviert, und Witze gerissen, ob das Huhn vor der Zubereitung Amok gelaufen ist.«

Sie kicherte mädchenhaft.

»Okay.« Knutsson wurde bewusst, dass er wie ein defekter Leierkasten klang. »Warum fährt er denn allein in den Urlaub?« Die Frage war natürlich dämlich. Innerhalb gesetzlicher Grenzen konnten Menschen machen, was sie wollten. Allein zu verreisen gehörte definitiv dazu. Er selbst hatte es schon getan, Angelurlaub, mehrfach, es war toll gewesen.

»Er ist mit seinen alten Kumpeln unterwegs. Die Boygroup , nenne ich sie immer. Jedes zweite Jahr gehen sie zusammen auf Achse. USA , Japan, die Lofoten.« Wieder ein knappes Lächeln, ohne dass es ihre Augen erreicht hätte. Knutsson wurde aus ihr nicht schlau. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer Sphinx mit Mäusegesicht und Löwenmähne. Was war das hier eigentlich? Ein Teil einer Mordermittlung? Oder tatsächlich nur ein banaler Autodiebstahl? Wie es ihn im Übrigen in dieser Gegend in den vergangenen Monaten sehr oft gegeben hatte, die Kollegen sprachen von einer gut organisierten Autoknackerbande mit Verbindungen nach Litauen. Trotzdem: Er wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. »Wäre sonst noch was?«

»Würdest du mir das Urlaubsselfie deines Manns zeigen?« Wenn nur dieser Blick nicht wäre. Ängstlich irgendwie. Aber gleichzeitig fest entschlossen. Schwach, aber stark. Das ergab keinen Sinn. Nichts ergab einen Sinn. Tote Jugendliche. Ein traumatisiertes Mädchen. Ein schwer verletzter Lehrer. Ausgehobene Gruben auf einer mystisch anmutenden Lichtung. Eine Brandleiche und nun auch noch ein Urlaub in Fernost. »Nur pro forma«, schob er hinterher, obwohl er selbst nicht hätte sagen können, was er damit überhaupt genau meinte. Wahrscheinlich sein Misstrauen in höfliche Worte verpacken.

»Sicher«, sagte sie ohne zu zögern. »Einen Moment.«

Die Maus mit der Mähne verschwand aus dem Türspalt und ließ ihn für eine Minute mit dem Löwenkopf allein. Knutsson konnte sich nicht helfen, neugierig schnupperte er in das Haus hinein. Es roch nach Putzmittel, Nelken und Zimt. Hatte die Frau bereits mit der Weihnachtsbäckerei begonnen? Bis Heiligabend waren es doch noch dreieinhalb lange Monate.

»Bitte sehr.«

Sie füllte den Türspalt wieder mit ihrem kleinen, schmalen Körper und hielt ihm am ausgestreckten Arm ihr Handy entgegen, von dessen Display Knutsson ein rotgesichtiger, feister Mann entgegengrinste, der vor einer historischen Tempelanlage stand und mit den Fingern der rechten Hand das Viktoryzeichen formte. Knutsson erkannte das Gesicht von Ahlströms Führerscheinfoto wieder, auch wenn der Kerl auf dem Selfie den Bart kürzer trug. Er nickte und bedankte sich.

»Wäre es das dann?«

War es das dann? Knutsson bejahte die Frage, etwas anderes gab die Sachlage nicht her. Er wünschte der Frau noch einen schönen Tag und verabschiedete sich. Während er in seinen Pick-up stieg, überkam ihn das Gefühl, dass er den furchtbaren weißblauen Steingarten nicht zum letzten Mal gesehen hatte.