Sara Hjalmarsson kochte vor Wut. Die Rektorin des Internats hatte ihr allen Ernstes die Durchsuchung von Mathildas Zimmer verweigert, angeblich auf die ausdrückliche Anweisung von Jan Adlercreutz hin, der nicht nur im Elternbeirat von Sokrates saß, sondern als Großaktionär auch im Aufsichtsrat des Schulkonzerns Platon , dessen Flaggschiff das exklusive Internat war. In einer laufenden Mordermittlung hatte die Polizei natürlich das Recht, Räumlichkeiten, die sie für relevant hielt, zu betreten und zu inspizieren, nur bedurfte es dazu im Zweifelsfall eines Durchsuchungsbeschlusses, den Hjalmarsson nicht besorgt hatte. Ein Anfängerfehler, schalt sie sich, sie hatte schlicht und ergreifend nicht mit einer derartigen Renitenz gerechnet. Verstand Adlercreutz denn nicht, dass jeder noch so kleine Hinweis, jedes noch so kleine Detail wichtig sein konnten und dass vor allem Zeit ein erheblicher Faktor war und die Chance erhöhte, seine Tochter lebend zu finden? Weil sie nun schon hier war, widmete sie sich zähneknirschend den Räumen von Julia, Emil und Viktor. Die beiden Jungen teilten sich ein Zimmer. Offenbar war das Aufhängen von eigenen Postern oder Plakaten in den heiligen Hallen der Schule nicht gestattet, jedenfalls konnte sie sich kaum vorstellen, dass sich siebzehnjährige Jungs freiwillig gerahmte Monet-Drucke oder die Hausordnung an die Wände über ihre Betten hängten. Der einzige individuelle Touch des Raums bestand aus jeweils einer kleinen Pinnwand über den Nachtschränken, die mit Fotos, Flyern und Stickern bedeckt waren. Auf Emils Pinnwand stach eine Aufnahme hervor, die einen strahlenden Sportler in blaugelbem Jersey auf einem Siegerpodest in einem vollen Stadion zeigte, wahrscheinlich der Vater des Jungen bei einem seiner Triumphe. Daneben hingen ein selbst gebastelter Traumfänger und das Eintrittsarmband eines Popmusikfestivals vom Vorjahr. Auf Viktors Seite prankten Bikinischönheiten mit glänzender Haut und verspiegelten Sonnenbrillen, die aus einem Magazin ausgeschnitten worden waren, dazwischen eine Greta-Thunberg-Karikatur mit Vampirzähnen, die mit einem Dartpfeil auf den Kork gepinnt war. Auf dem Rahmen der Pinnwand klebte ein Glitzersticker: Eure Armut kotzt mich an. Wie sympathisch, dachte Hjalmarsson und stöhnte auf. In Viktors Nachttischschublade fand sie Kondome mit Fruchtgeschmack – Piña Colada, ernsthaft? – Ohrstöpsel, ein Handyladekabel und verschiedene Hautpflegeprodukte gegen Akne. Unter dem Bett lagen ein Set Hanteln, ausgelatschte Sneaker und eine einsame staubige Tennissocke. In Emils Schubladen fand sie eine stehen gebliebene Armbanduhr, Papiertaschentücher, einige Comics und darunter ein Sexheft, das ausschließlich anorektische asiatische Fotomodelle bei der Masturbation zeigte. Jedem das Seine, dachte sie, und ein flüchtiges Lächeln streifte ihr Gesicht. Dann musste sie daran denken, dass die beiden Jungen tot waren, brutal ermordet, bevor ihr Leben überhaupt richtig angefangen hatte. Auf einem Doppelschreibtisch stapelten sich Schulbücher und einige Romane. Der Herr der Fliegen. Steppenwolf. Die Straße der Ölsardinen. Lass den Richtigen herein. Der Raum war offenbar seit Tagen nicht gelüftet worden, und es roch nach altem Schweiß. Sie bezweifelte, dass das Zimmer irgendetwas barg, was mit dem Tod der beiden zu tun hatte. Julia teilte sich ihren Raum mit ihrer um ein Jahr jüngeren Schwester. Beide Betten waren sorgfältig gemacht, und das Zimmer wirkte ähnlich anonym wie das der beiden Jungen. Julias Pinnwand war mit Fotos ihrer Familie bedeckt und zeigte die beiden Schwestern in unterschiedlichen Altersstufen mit unterschiedlichen Frisuren und vor unterschiedlichen Hintergründen. Paris, Abu Dhabi, Rom. Die Eltern waren stets elegant gekleidet und lächelten distanziert in die Kamera. Auf Julias Nachttisch lagen Bücher. Der kleine Prinz. Interview mit einem Vampir. Der alte Mann und das Meer. In der Nachttischschublade befanden sich Taschentücher, Minzpastillen, Kaugummis und eine Schneekugel mit einem Foto, das Viktor und Julia eng umschlungen zeigte.
Kurz darauf saß Hjalmarsson der Sonderpädagogin Renée Svanborg an einem Tisch in einem leeren Klassenzimmer gegenüber.
»Verstehe ich das richtig, dass du die Tutorin und Hauptbezugsperson der vier bist beziehungsweise warst, also ich meine …«
Hjalmarssons Satz verhungerte auf halbem Weg. Sie war erst vor einem guten Jahr in den aktiven Dienst getreten, und obwohl sie in dieser Zeit vieles gelernt hatte, war sie immer noch die Neue, und der so tragische wie heikle Fall, der selbst ihren erfahrenen Kollegen sichtlich unter die Haut ging, belastete und bedrückte sie, auch wenn sie fest entschlossen war, ein Gefühl der Überforderung gar nicht erst aufkommen zu lassen, trotz des faux pas mit dem fehlenden Durchsuchungsbeschluss. Vielleicht war das hier auch eine Chance, sagte sie sich, das latente Unterschätzen ihrer Fähigkeiten, das die Chefin bewusst oder unbewusst ausstrahlte, ein für alle Mal zu beenden.
»Ich verstehe, was du meinst«, sagte Svanborg. Sie war Mitte dreißig, trug eine blonde, seitlich gescheitelte Kurzhaarfrisur mit Undercut und war trotz oder gerade wegen ihrer unverhältnismäßig großen Nase durchaus attraktiv. Letzteres war eine Einschätzung, die ihr Gegenüber spiegelte und teilte, dessen war sie sich sicher, die Blicke waren mehr als deutlich und ihr gaydar regte sich: Eine andere lesbische Frau erkannte sie mit hoher Treffsicherheit, und diese hier war ein Exemplar wie aus dem Bilderbuch. Die Pädagogin trug über einer weißen Bluse ein strenges, fast züchtig wirkendes Kostüm und schwarze Budapester, und Hjalmarsson hätte darauf wetten können, dass es ihr schwerfiel, auf eine Krawatte oder gar Fliege zu verzichten, ein kleiner Abstrich an ihrem Selbstbild, vielleicht war sie darauf bedacht, dass man ihr den dyke nicht allzu deutlich ansah, was in diesem verstaubt wirkenden Internatsmilieu womöglich sogar funktionierte. »Ich bin gelernte Sonderpädagogin, und seit ich im vergangenen Jahr an die Schule gekommen bin, liegt der Fokus meiner Arbeit auf unseren vier … na ja, Spezis, wie sie hier genannt werden. Liegt? Lag? Werden? Wurden?« Sie zog ein schiefes Gesicht, lächelte knapp und verlegen. »Unfassbar«, sagte sie schließlich. »Das alles ist unfassbar. Angesichts der furchtbaren Ereignisse komme ich mit der Grammatik genauso ins Schleudern wie du.«
Hjalmarsson meinte in diesen einleitenden ersten Worten bereits etwas herauszuhören. Spezis, wie sie hier genannt werden. Das klang nicht nach einer unhinterfragten Identifikation mit dem Arbeitgeber. Was gut war, so viel hatte Hjalmarsson in ihrem ersten Berufsjahr gelernt: Ein wichtiger Teil des Jobs bestand darin, Fassaden einzureißen. Aus feinen Rissen konnten Spalten entstehen, wenn man es richtig anging, aus Spalten lösten sich Steine, und irgendwann brachen die Mauern ein.
»Erzähl mir bitte von den Schülern, besonders von Mathilda.«
»Wenn es jetzt so klingt, als hätte ich mich darauf vorbereitet, dann liegt das daran, dass ich das tatsächlich getan habe.« Wieder das knappe Lächeln. »Mathilda ist ein sehr spezielles Mädchen. Klug und wissensdurstig. Streng in ihren moralischen Urteilen, was in diesem Alter natürlich alles andere als ungewöhnlich ist, sie jedoch lebt diesen Teenagermoralismus selbst in einer beeindruckenden Konsequenz. Sie ist Vegetarierin, seit Kurzem sogar Veganerin, umweltpolitisch engagiert und selbst ernannte Sozialistin. Ich nehme an, du weißt, wer ihr Vater ist? Einerseits ist das überraschend, andererseits wiederum überhaupt nicht. Haben wir nicht alle einmal gegen unsere Eltern rebelliert? Ich will es mal so sagen: Die politischen Diskussionen im Hause Adlercreutz dürften ziemlich turbulent gewesen sein.« Wieder streifte ein Lächeln ihr Gesicht. »Gleichzeitig war, nein, ist Mathilda ein sehr verschlossener, in sich gekehrter Mensch, der sich anderen gegenüber nur sehr behutsam öffnet und lange braucht, um Vertrauen zu fassen. Ich will mich hier nicht selbst loben, aber ich denke, mir, nein, uns, denn ihre Mitschüler, darunter vor allem …, jedenfalls spielten sie mindestens eine ebenso wichtige Rolle, und es ist uns ein ganzes Stück weit gelungen, ihre eingeschliffenen Abschottungsmechanismen zu knacken. Jahrelang schleppte sie in ihrem Rucksack eine Asberger-Syndrom-Diagnose mit sich herum, die ihr ein Therapeut aufgedrückt hat, den sie nur zwei- oder dreimal getroffen hat. Eine Diagnose, die meiner Meinung nach Blödsinn ist, auch wenn ich keine Psychiaterin bin. Mathilda hat überhaupt keine Probleme damit, nonverbale Kommunikation zu verstehen oder Beziehungen zu anderen herzustellen. Wenn sie sich dazu entscheidet. Was sie in unserer kleinen Lerngruppe getan hat. Auch wenn das jetzt pathetisch klingen mag: Ich denke, sie hat im vergangenen Jahr ein Stück weit zu sich selbst gefunden.«
»Wie ist ihr Stand innerhalb der Gruppe?«
Unausgesprochen hatten sie sich auf das Präsens geeinigt, auch wenn das wie in diesem Satz Blödsinn war, denn die angesprochene Gruppe existierte ja längst nicht mehr, Emil und Viktor waren tot, daran würde auch ein optimistisches grammatikalisches Tempus nichts ändern. Dennoch spielte ihr Gegenüber das Spiel mit.
»Mathildas bisweilen harsche moralische Urteile sind zwar gefürchtet, aber gleichzeitig haben die anderen Respekt vor ihr, weil sie ihre hohen Maßstäbe am strengsten an sich selbst anlegt. Julia ist am engsten mit ihr befreundet.«
»Wie ist die Gruppendynamik? Gibt es Liebesbeziehungen zwischen den Schülern? Dramen? Streitigkeiten? Eifersucht?«
Svanborg ließ sich mit der Antwort Zeit. Gedankenverloren spielten ihre Hände mit einem Kugelschreiber umher. Ganz schön viel Zeit, dachte Hjalmarsson, dafür, dass sich die Lehrerin auf das Gespräch vorbereitet hatte.
»Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Auch wenn ich tagtäglich viel Zeit mit ihnen verbringe, bekomme ich als Lehrerin natürlich nicht alles mit. Eine Zeit lang hatte ich den Eindruck, dass zwischen Julia und Viktor mehr war als reine Freundschaft. Einmal saß sie auf seinem Schoß, als ich in den Klassenraum kam. Ein anderes Mal habe ich sie Hand in Hand gesehen.« Sie seufzte. »Liebesbeziehungen auf einem Internat sind eine heikle Sache, für die Schüler ist es nicht leicht. Sie sind umgeben von Gleichaltrigen, vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche. Ihre Körper entwickeln und verändern sich. Wie sollen sie in so einer Umgebung nicht an Sex denken, sich nicht verknallen oder einander lieben? Gleichzeitig bietet ein Internat viel weniger Möglichkeiten als ein normales Schülerleben, die aufflammenden Gefühle und die Sexualität auszuleben. Mädchen und Jungen schlafen in getrennten Flügeln des Gebäudes. Niemand hat Einzelzimmer. Die soziale Kontrolle ist hoch. Natürlich gibt es Schlupflöcher, aber leicht zu finden sind sie nicht.«
»Was wurde aus Julia und Viktor?«
»Ich weiß es nicht. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass es seit einiger Zeit mit der innigen Nähe vorbei war. Dass Viktor sich um Mathilda bemüht, während Mathilda sich eher zu Julia hingezogen fühlte. Blicke, Sprüche, Körpersprache, was man so alles mitbekommt, wenn man mit etwa hundert hormongesteuerten Teenagern unter demselben Dach lebt. Aber vielleicht vertue ich mich auch.«
Svanborg schätzte Mathilda also als lesbisch oder bisexuell ein. Das war neu, wenn es denn stimmte und nicht nur eine Projektion der Tutorin war.
»Die Lehrer wohnen hier?«
»Einige wenige.«
»Gehört Mikkael Bergfors dazu?«
»Nein, Mikkael ist verheiratet und hat Kinder. Soweit ich weiß, wohnt er im Stadtteil Teleborg. Er radelt täglich hierher.«
Was Hjalmarsson eigentlich längst wusste. Die Frage war überflüssig gewesen, schalt sie sich.
»Maja Fahl?«
»Auch nicht.«
»Gibt es sonst noch etwas, was wir über die Gruppe wissen sollten? Irgendetwas, das dir aufgefallen ist?«
Svanburg machte mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, als würde sie einen nicht vorhandenen Schnurrbart kämmen. Plötzlich krampfte ihre Gesichtsmuskulatur.
»Was soll ich sagen? Meine fünf Kids sind, also sie waren, also, verdammt …« Ihr brach die Stimme weg. »Entschuldige bitte, mir fehlen die Worte.«
Es war deutlich zu sehen, dass Svanborg schlucken musste. Sie fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Gleichzeitig horchte Hjalmarsson auf. Warum sprach die Lehrerin auf einmal von fünf Schülern? Hatte sie das in den vergangenen Tagen nicht schon einmal gehört? Richtig, die Direktorin hatte ebenfalls von einem Quintett gesprochen. Als Hjalmarsson sie darauf hingewiesen hatte, hatte sie anschließend so lang und breit über ihren Versprecher und ihre Lateinkenntnisse schwadroniert, dass es im Rückblick ziemlich auffällig war. Zwei inhaltlich identische Versprecher von zwei verschiedenen Angestellten des Internats? Das konnte kein Zufall sein. Irgendwas stimmte da nicht. Sollte sie Svanborg darauf ansprechen? Aber was, wenn sie abblockte? Denn offenbar war es der Rektorin ja darum gegangen, etwas zu verschweigen. Jemanden. Einen fünften Schüler, eine fünfte Schülerin. Aber weshalb, in drei Teufels Namen? Das musste sie herausfinden. Auf einem anderen Weg.
»Tragisch das alles«, sagte sie, »unfassbar tragisch.«
»Besteht für Mathilda überhaupt noch Hoffnung?« Wenn Svanborg ihren verbalen Aussetzer bemerkt hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. »Sie ist ja jetzt schon seit Tagen da draußen.«
»Die Suche läuft natürlich weiter auf Hochtouren. Es gibt noch immer große Areale des Walds, die nicht durchkämmt sind. Wir können nur die Daumen drücken.« Was Svanborg statt einer Entgegnung auch demonstrativ und mit großer Geste tat. Das Schicksal der Schüler ging ihr sichtlich nahe. »Eine Frage habe ich noch«, sagte Hjalmarsson. »Wenn du die Tutorin der Gruppe warst, warum hast du sie auf dem Ausflug nicht begleitet?«
Svanborg zog die Nase hoch, räusperte sich.
»Es war fachlich nicht mein Gebiet, ich unterrichte sie in Mathematik, Schwedisch, Englisch und Gesellschaftskunde. Auf der Exkursion im Wald ging es um Biologie beziehungsweise Theaterunterricht, beides Schwerpunktfächer, die die Schüler gewählt haben. Mit zwei Lehrern war der personelle Betreuungsschlüssel für die Exkursion ausreichend. Und ehrlich gesagt: Ich hasse Camping.«