Nyström saß in ihrem Büro und aß einen Apfel. Nach dem peinlichen Ende der Pressekonferenz, in der sie vor aller Augen ins Schwimmen geraten war, hatte sie ihr inneres Gleichgewicht einigermaßen wiedergefunden. Vielleicht lag das an der Wirkung der zweiten Tagesdosis Tabletten, die sie großzügig um anderthalb Stunden vorverlegt hatte, jedenfalls hatte sich der merkwürdige Zustand aus fahriger Anspannung und bleierner Müdigkeit ein wenig gelegt. Sie hatte zwar überhaupt keinen Hunger, seit Tagen nicht, aber sie wusste, dass ihr viel zu langsam genesender Körper jede Stärkung benötigte, die er bekommen konnte. Also biss sie tapfer ab, auch wenn sie das zerkaute Obst in ihrem Mund an die Konsistenz und den Geschmack von Pappmaschee erinnerte. Das Piepen ihres Smartphones meldete den Eingang einer neuen E-Mail oder einer SMS . Sie stöhnte innerlich auf. Neue Nachrichten prasselten im Minutentakt auf sie ein. Sie spürte, dass sie diesem Tempo nicht mehr lange gewachsen sein würde. Seit dem Moment, in dem sie in diese gottverdammte Grube gefallen war, hatte sie das Gefühl, permanent im Hintertreffen zu sein. In einem fort geschahen rund um sie herum furchtbare Dinge, aber statt vorausschauend und überlegt zu handeln, reagierte sie nur. Der Fall, der mit ihrem ungeschickten Stolpern begonnen hatte, entwickelte eine Dynamik, die sie nicht kontrollieren konnte, und eine Tragweite, der sie sich nicht gewachsen fühlte. Sie war ein waidwundes Rehkitz im Auge eines Wirbelsturms, und es schien nur eine Frage von wenigen Augenblicken, bis …
Wieder meldete sich das Telefon, diesmal war es der Festnetzanschluss. Sie blickte aufs Display. Eine interne Nummer, die von Edmans Büro. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Widerwillig nahm sie den Hörer ab. Edman nahm sich nicht mal die Zeit für einen Gruß.
»Livestream auf Kanal vier«, raunzte er, bevor er umgehend wieder auflegte.
Sie öffnete auf ihrem Rechner die Webseite des TV -Senders und klickte den Livestream an. Ein Studio, in dem sich zwei Frauen in Sesseln gegenübersaßen. Die eine war eine bekannte Fernsehjournalistin, die andere, der Bildunterschrift zufolge, Schauspielerin – Ende zwanzig und gut aussehend, den Namen hatte Nyström allerdings noch nie gehört. Die Moderatorin beugte sich mit ernstem Geschichtsausdruck vor.
»… fasse ich deine Vorwürfe noch einmal zusammen, damit wirklich kein Missverständnis aufkommt. Ich gebe dabei zu bedenken, dass landesweit nahezu alle Frauen, ich wiederhole, alle Frauen , die vor einigen Jahren im Zuge der MeToo-Bewegung öffentlich von sexuellen Übergriffen berichtet haben und daraufhin von den vermeintlichen Tätern wegen übler Nachrede angezeigt worden sind, auch wegen übler Nachrede verurteilt wurden. Eine Aussage wie deine hat also eine enorme Fallhöhe, wenn sie nicht juristisch untermauert werden kann. Ist dir das bewusst?« Die junge Schauspielerin nickte entschlossen. »Also gut. Während eines Theaterworkshops in Stockholm, du warst damals siebzehn Jahre alt, hattest gerade die Schule beendet und wolltest dich über diesen Sommerkurs für ein Schauspielstudium bewerben, wurdest du mehrfach Opfer der sexualisierten Gewalt , die vom Kursleiter ausging. Er hat dich mehrfach, auch in Gegenwart anderer, meine kleine Fotze genannt, hat dir während praktischer Übungen fest ans Gesäß und in den Schritt gefasst und ist, nur mit einem Handtuch bekleidet, in die Frauengarderobe gekommen, wo du dich in diesem Moment allein befandst und gerade umziehen wolltest. Er ist in eindeutiger Absicht auf dich zugekommen und hätte dich, hätte nicht in diesem Augenblick eine andere Schauspielschülerin den Umkleideraum betreten, weil sie etwas vergessen hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach sexuell bedrängt und womöglich sogar vergewaltigt. Ist das so weit richtig?«
»Ja«, sagte die Schauspielerin mit erstickter Stimme. Die Kamera zoomte auf ihr Gesicht.
»Und bei dem Leiter des Workshops handelt es sich um den seinerzeit erfolgreichen Schauspieler Mikkael B ., der heute als Lehrer an einem småländischen Eliteinternat arbeitet und knietief in den aufsehenerregenden und tragischen Fall der ermordeten, verletzten und teilweise immer noch verschollenen Schüler im landesweit berühmt-berüchtigten Lodjurskogen verstrickt ist? Ist das so weit korrekt?«
»Ja«, schluchzte die Schauspielerin und verbarg ihr Gesicht hinter den Händen. Ihr Körper bebte. Die Kamera zoomte noch näher und blieb brutal lange in dieser Einstellung. Dann wurde auf die Moderatorin geschwenkt, die sich nun direkt an die Zuschauer wandte.
»Die Redaktion und ich haben lange mit uns gerungen, ob wir diese schweren Vorwürfe senden sollen. Wir haben uns dafür entschieden. Mikkael B. ist nicht irgendein Unbekannter, sondern eine Figur des öffentlichen Interesses, selbst wenn er heute kaum noch als Bühnenschauspieler arbeitet. Wie wir aus Polizeikreisen erfahren haben, ist er Teil einer komplexen Mordermittlung , in die mehrere Minderjährige verwickelt sind, unter anderem auch die Tochter des kontroversen Politikers Jan Adlercreutz , und in der womöglich ebenfalls sexuelle Gewalt eine entscheidende Rolle spielt. Deshalb richten wir die Frage an die ermittelnden Polizisten: Ist der schwer verletzte Mikkael B. in diesem Verbrechen tatsächlich das unschuldige Opfer , oder werfen die neuen, schwerwiegenden Beschuldigungen, die wir gerade gehört haben, nicht vielleicht ein völlig anderes Licht auf diesen Mann?«
Nyström klickte die Übertragung weg.
»So ein Mist«, sagte sie und drosch den halb aufgegessenen Apfel in den Papierkorb. »So ein verdammter Mist!«