Hugo Delgado hatte es sich im Besprechungsraum mit einem Kaffee gemütlich gemacht und die Füße hochgelegt. Die anderen waren bis auf die Chefin alle ausgeflogen. Wieso sollte er also im dunklen Büro sitzen, wo es nach Knutssons Aftershave und dessen berüchtigtem Käsebällchensnack miefte, wenn er hier bei neutralem Geruch den Ausblick über die Innenstadt genießen konnte? Gerade als er auf seinem Laptop eine E-Mail öffnen wollte, die ein differenziertes Blutbild des noch immer bewusstlosen Lehrers Mikkael Bergfors enthielt, donnerte etwas gegen die Fensterscheibe. Vor Schreck wäre ihm fast der Rechner vom Schoß gerutscht. Auf dem Glas war ein knallroter handtellergroßer ausgefranster Fleck. Die zähe Flüssigkeit rann die Scheibe hinab. Ist das Blut, fragte sich Delgado im ersten Moment, war das etwa ein Vogel? Aber da waren keine Federn. Und ein Vogel platzte beim Aufprall nicht einfach auf wie eine überreife Melone. Nein, das rote Zeug war Lackfarbe, begriff er. Jemand hatte eine Farbbombe gegen das Fenster geworfen. Er stellte den Laptop ab, sprang auf und spähte aus dem Fenster. Unten sah er drei Gestalten in schwarzen Kapuzenpullovern davonsprinten. Einige Augenblicke später kamen zwei uniformierte Kollegen aus dem Präsidium gerannt und nahmen die Verfolgung der Missetäter auf. Als die beiden Polizisten im Sprint hinter einer Straßenecke verschwanden, setzte er sich wieder an seinen Platz. Vermutlich steckten Umweltaktivisten hinter dem Farbanschlag, die der polizeilichen Erklärung der Ursache des Waldbrands keinen Glauben schenkten. Oder rechte Spinner, die sich von Jan Adlercreutz hatten aufhetzen lassen und der irrigen Annahme auf den Leim gegangen waren, die Polizei täte nicht genug, um die Tochter des Politikers wiederzufinden. Spinner, dachte Delgado, so oder so. Er machte da weiter, wo er unterbrochen worden war. Um die Sauerei auf der Fensterscheibe musste sich jemand anders kümmern, er jedenfalls hatte Wichtigeres zu tun. Die Blutanalyse von Mikkael Bergfors ähnelte der seiner Kollegin Maja Fahl. Es gab eindeutige Spuren von Flunitrazepam, dem starken Beruhigungsmittel, das der Körper relativ langsam abbaute. Hochgerechnet auf das Körpergewicht des Manns und des deutlich späteren Zeitpunkts der Blutabnahme kam die Rechtsmedizin zu dem Schluss, dass Bergfors nur etwa halb so viel von dem Tranquilizer zu sich genommen hatte wie seine Kollegin. Alkohol wurde nicht festgestellt, was allerdings keine Überraschung darstellte, denn der menschliche Körper baute ihn deutlich schneller ab als Benzodiazepine. Delgado fuhr sich über die Haarstoppel der Halbglatze. So wie er die Dinge sah, sprach vieles dafür, dass beide Pädagogen von dem K.-o.-Cocktail getrunken hatten, den die Schüler ihnen in Form des exklusiven Weißweins untergejubelt hatten, Fahl mehr, Bergfors weniger. Der manipulierte Meursault war ein trojanisches Pferd in Vollendung. So schwer konnte es nicht gewesen sein, die Kunststoffummantelung von der Flaschenöffnung zu entfernen, ohne sie dabei einzureißen, den Korken zu entfernen, eine hohe Dosis flüssiges Flunitrazepam in den Wein zu tröpfeln oder zerriebene Tabletten darin aufzulösen, den Korken wieder in die Flasche zu drücken, am besten verkehrt herum, sodass man das Loch nicht sah, das der Flaschenöffner gebohrt hatte, und die Schutzummantelung wieder über die Flasche zu stülpen. Die niedrigere Menge an Tranquilizer im Blut von Bergfors lieferte eine plausible Erklärung dafür, dass der Lehrer im Gegensatz zu seiner Kollegin nicht an Ort und Stelle in einen Dornröschenschlaf gefallen war. War er möglicherweise nur kurz weggenickt, hatte nach dem Aufwachen das Fehlen der Schüler bemerkt und war auf der Suche nach ihnen irgendwie in die außer Kontrolle geratenen Geschehnisse verwickelt worden? Die Analyse seiner Kopfverletzung legte nahe, dass er mit einem stumpfen Gegenstand niedergeschlagen worden war, mehrere Kilometer weit von dem Runenstein im Eichenring entfernt. Oder war tatsächlich denkbar, was Stina Forss während der Besprechung als Möglichkeit ins Spiel gebracht hatte: Konnte Bergfors hinter dem Doppelmord stecken? Hatte er Julia Lihadji vergewaltigt? Hatte er seine Kollegin mithilfe des Flunitrazepams ausgeschaltet, während er selbst nur an der K.-o.-Mischung genippt hatte, um sich auf diese Weise ein Alibi zu verschaffen? Aber wie kam dann seine Verletzung zustande? Konnte er sie sich selbst zugefügt haben, zum Beispiel indem er mit voller Kraft mit dem Kopf voraus gegen einen Baumstamm gerannt war? Das klang ziemlich absurd. Niemand beförderte sich auf diese Weise selbst ins Koma, zumindest nicht mit Absicht. Nein, Delgado war sich sicher, dass Bergfors von jemand anderem niedergeschlagen worden war. Von Mathilda? Von dem Mann, den sie im ausgebrannten Auto gefunden hatten? Oder waren sogar noch mehr Menschen in die Ereignisse involviert? Irgendjemand musste das Auto und den darin befindlichen Leichnam schließlich mit Benzin übergossen und angezündet haben. Falls die Person, die im Wagen gesessen hatte, zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon tot gewesen war. Die Obduktion war noch nicht abgeschlossen, aber Delgado wusste aus Erfahrung, dass die Untersuchung von derartig schwer verbrannten Leichnamen selten belastbare Ergebnisse bezüglich Todesart und Todeszeitpunkt lieferte. Natürlich gab es Fälle, bei denen in verkohlten Körpern Projektile sichergestellt oder eingeschlagene Schädel entdeckt wurden, doch so etwas kam nicht sehr häufig vor. Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen Gedanken. Einer der Kollegen aus den Suchtrupps war am Apparat. Im Wald war unweit eines Pfades, der vom Runenstein zu einem Parkplatz führte, ein Jagdgewehr gefunden worden. Das Kaliber passte zu der Patrone, mit der Emil Fallenius erschossen worden war. Delgado bat den Mann, die in den Lauf eingestanzte Registriernummer des Gewehrs durchzugeben, während er sie zeitgleich ins Suchfenster des Nationalen Waffenregisters eingab. Der Rechner spuckte einen Treffer aus. Das großkalibrige Jagdgewehr war auf den Namen Pär Ahlström gemeldet, dem Halter des ausgebrannten Autos.