Das Krankenhaus lag gegenüber der Psychiatrie auf der anderen Seite des Växjösees. Dieses Mal umrundete Stina Forss das Gewässer in anderer Richtung. Dieser Weg war deutlich länger, sie hatte ihn mit Bedacht gewählt, um sich die Müdigkeit, die ihr jeden Tag mehr zusetzte, aus den Gliedern zu laufen. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, und in den Momenten, in denen die Sonne durch die löchrige Wolkendecke drang, sprang die gefühlte Temperatur um mindestens zehn Grad nach oben. Als sie das Schloss in Teleborg passierte, landete eine große Schar Kanadagänse auf der schwarzsilbrigen Oberfläche des Sees, was ein ziemliches Spektakel ergab, und die aufstiebenden Wassertropfen verwandelten sich im Gegenlicht zu Millionen glitzernden Sternen.
Kurz bevor sie das Krankenhaus betrat, erhielt sie eine Nachricht von Ingrid Nyström, die aus einem Link bestand, der zu einem kurzen Video führte. Der fünfminütige Ausschnitt aus einem boulevardesken TV -Format erklärte sich selbst. Er war seit weniger als zwei Stunden online und hatte bereits eine sechsstellige Anzahl Klicks. Forss fluchte. Die öffentlichen Anschuldigungen der jungen Schauspielerin stellten die Prämisse für das Treffen mit der Frau des Lehrers auf den Kopf. Wie verabredet traf sie Monika Bergfors in der Krankenhauscafeteria.
Sie war etwa Mitte dreißig und hatte trotz ihres hellblonden Haars etwas Südländisches an sich, das sich nur schwer fassen ließ. Obwohl auf ihrer rechten Gesichtshälfte ein großflächiges leuchtend rotes Ekzem prangte, war sie überaus attraktiv, was an ihren dunklen Augen lag, wie Forss bemerkte, die – oh Wunder – ein Herz für alle Versehrten dieser Welt hatte. Sie holte sich einen Kaffee und setzte sich zu der Frau an den Tisch. Noch bevor ein erstes Wort gesprochen worden war, meinte Forss an der Art und Weise, wie Bergfors ihren Teebecher mit beiden Händen umklammerte und sie mit aufgerissenen Augen ansah, die Sorge um ihren schwer verletzten Mann und die Verwirrung ob des in Windeseile viral gegangenen TV -Interviews zu erkennen.
Nachdem sie einander vorgestellt hatten, kam die Kommissarin ohne große Umschweife zur Sache.
»Du hast das Video bereits gesehen?«
Bergfors nickte und nippte an ihrem Tee. Sie hatte die Ärmel ihres Baumwollpullis bis an die Daumenwurzel hinuntergezogen, als friere sie, dabei war es in der Cafeteria eher zu warm als zu kalt.
»Ich … für mich kommt das völlig überraschend. Wie aus dem Nichts. Ich kenne diese Frau nicht. Diese Behauptungen … Es klingt, als würde sie über einen völlig anderen Menschen sprechen. Nicht über Mikkael.« Sie machte eine kurze Pause. »Nicht über Mikkael, wie ich ihn kenne.«
»Wie kennst du ihn denn?«
»Lieb. Großherzig. Lustig und offen. Dem Leben zugewandt. Herzlich und einfühlsam, auch im Umgang mit meinen Töchtern.«
Forss wurde hellhörig.
»Deine Töchter?«
»Aus meiner ersten Ehe, sechzehn und vierzehn Jahre alt.« Ein trauriges Lächeln streifte ihr Gesicht. »Ich bin furchtbar jung Mutter geworden. Mein damaliger Mann … was wussten wir schon vom Leben? Die Ehe hatte von Beginn an keine Chance. Er lebt seit Jahren oben in Mora, jeden Monat fliegen die Mädchen für ein Wochenende zu ihm.«
»Mikkael und du, wann habt ihr euch kennengelernt?«
»Vor zweieinhalb Jahren. Es ist vielleicht ein bisschen peinlich, es zuzugeben, aber wir haben uns tatsächlich über eine Dating-App gefunden. Er war gerade erst von Stockholm hierhergezogen. Am Anfang war es für uns beide nicht viel mehr als ein kleines Abenteuer, aber irgendwie …« Wieder lächelte sie knapp, was ihre warmen Augen leuchten ließ. »Irgendwie hat es dann doch gefunkt. Dass er in der Hauptstadt ein bekannter Bühnenschauspieler war, bei seinem Aussehen und Charisma kein Wunder, wusste ich ja gar nicht. Meine Eltern sind Landwirte, ich stamme aus einem Kuhdorf keine fünfzig Kilometer von hier und bin gelernte Bürokauffrau. Was weiß ich schon von Kultur? Von Theater? Als junge Frau habe ich mal Romeo und Julia gesehen, als Musical. Das war es dann aber auch schon. Trotzdem war da direkt diese Anziehung zwischen uns.« Sie lächelte erneut, dieses Mal fast entschuldigend. »Ein Dreivierteljahr später haben wir geheiratet, und ich weiß bis heute nicht, warum er sich von allen Frauen dieser Welt ausgerechnet für das ungebildete, hässliche Entlein entschieden hat.«
Kokettierte die Frau? War das Naivität? Warum stellte sie ihr Licht derart unter den Scheffel? War diese nahezu verzweifelte Dankbarkeit gegenüber ihrem Mann authentisch? Forss hatte Fotos von Mikkael Bergfors gesehen. Der ehemalige Schauspieler hatte fraglos das, was man ein Charaktergesicht nennen mochte, aber ein Brad Pitt war er ganz sicher nicht. Und warum spielte das Aussehen in der Schilderung der Frau überhaupt eine so große Rolle? Es klang beinahe so, als wäre ein erfolgreicher Adonis vom goldenen Thron herabgestiegen, um die einfältige graue Maus aus der Provinz zu heiraten.
»Hat er jemals erzählt, warum ihn sein Weg vom anerkanntesten Theater des Landes an eine Schule in Småland geführt hat? Weshalb er Lehrer geworden ist und die Schauspielerei an den Nagel gehängt hat?«
»Er … er mochte es, mit jungen Menschen zu arbeiten. Sein Wissen und Können weiterzugeben, hat er gesagt. Er hatte ja bereits damals Kurse gegeben und …«
Sie verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Der Gedanke, den sie hatte ausführen wollen, war ins Straucheln geraten. Gestolpert über das TV -Interview einer jungen Schauspielerin. »Mir … innerlich war mir immer schon irgendwie klar, dass es in Stockholm, dass es in seinem alten Leben etwas gab, von dem er sich abgewandt hatte. Vor dem er geflohen war. Hierher. Zu mir. Aber dass es um Übergriffigkeit …« Das Satzende ging in einem Schluchzen unter. Sie hielt sich eine Hand vors Gesicht. Ihr graziler Körper bebte. Es gab viele zwischenmenschliche Situationen, mit denen Forss nicht gut umgehen konnte. Solche wie diese waren die schlimmsten. Sie wusste, dass sie irgendetwas tun sollte. Der Frau die Hand auf die Schulter legen. Ihr ein Taschentuch anbieten. Mitgefühl zeigen. Stattdessen musste sie eine Menge Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht auf der Stelle aufzustehen und aus dem Krankenhauscafé zu stürmen.
Irgendwann hatte Monika Bergfors sich wieder gefangen. Ihre schönen Augen waren geschwollen, rot geädert und blickten Forss mit bodenloser Traurigkeit an.
»Was sagen die Ärzte?«
Die Frau zupfte an den Säumen ihres Pullovers.
»Sie sprechen von einem massiven Schädelhirntrauma. Die Blutmenge, die sich zwischen Schädelknochen und Gehirn angesammelt hatte, war beträchtlich, der dadurch entstehende Druck hoch. Mit Medikamenten und einer Sonde konnte er zum Glück beträchtlich verringert werden. Aber wie es mit Mikkael weitergehen wird, kann mir niemand sagen. Irgendwann wird er aus der Bewusstlosigkeit erwachen, wurde mir versichert, aber wie groß die bleibenden Schäden sind, wird sich möglicherweise erst nach Wochen oder Monaten sagen lassen. Vielleicht wird er wieder vollständig gesund. Genauso gut kann es aber auch sein, dass in seinem Kopf …«, sie zog scharf Luft ein, »… dass von ihm nur noch eine atmende Hülle übrig bleibt.«
Sie nippte an ihrem Tee, Forss trank ihren Kaffee aus.
Eine letzte Frage stand zwischen ihnen. Sie war grob, ja, brutal. Forss legte sich die Worte zurecht, aber das machte es auch nicht besser. Sie musste sie dem armen Wesen stellen, das da zitternd und zerzaust vor ihr kauerte.
»Deine beiden Töchter: Hattest du jemals den Verdacht, Mikkael könnte sich ihnen ungebührlich genähert haben?«
Monika Bergfors sah sie lange an. Ihr Ekzem glühte. Eine Frau, deren Welt implodierte.
»Geh jetzt bitte«, sagte sie leise.