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Als Sara Hjalmarsson beim Verlassen des Internatsgebäudes auf ihr Handy sah, zeigte das Display eine Flut neuer E-Mails an. Sie ging über den Schulhof auf eine Bank zu, die zwischen einem Seitenflügel des imposanten historischen Baus und einer kleinen Gruppe Birken in einem toten Winkel stand. In der Lehne der Holzbank bemerkte sie eingeritzte Embleme, Initialen und kurze Botschaften. Das Anarchie-A. Ein Hanfblatt. Ein Pimmel. I love Moni. Malmö FF .Mayhem. Der Boden war mit trockenen Birkenblättern, Zigarettenkippen und ausgespuckten Kautabakkissen bedeckt. Hier war die Rebellenecke, keine Frage. Jedenfalls so rebellisch, wie es auf dem Eliteinternat werden konnte. Sie setzte sich auf die Lehne der Bank, schob sich einen Kaugummi in den Mund und ging die neuen Nachrichten durch, überwiegend Vernehmungsprotokolle und Laborberichte. Am fesselndsten war der Videoclip einer ehemaligen Schauspielschülerin von Mikkael Bergfors, die dem Lehrer sexuellen Missbrauch vorwarf. Der Mordfall war bereits bis zum Bersten politisch aufgeladen gewesen, dachte sie, nun kam auch noch eine MeToo-Geschichte dazu. Sie sah von ihrem Smartphone auf und bemerkte, dass eine Dreiergruppe Schüler auf sie zuschlenderte, zwei Jungen und ein Mädchen, etwa sechzehn Jahre alt, schätzte sie, auch wenn alle drei sich offenbar Mühe gaben, sich sehr erwachsen zu kleiden, Barbourjacken, Tartanschals, britischer Landhaus-Chic. Sie hob zur Begrüßung die Hand, und die wohlerzogenen Teenager taten es ihr nicht nur nach, sondern stellten sich formvollendet vor und schüttelten ihr die Hand. Sie nannte ebenfalls ihren Vornamen. Gerade als sie erklären wollte, dass sie Polizistin war und im Fall der ermordeten Mitschüler ermittelte, fragte der Junge, der Douglas hieß, ob sie neu an der Schule sei. Dabei sah sie in Jeans, Chucks und Kapuzenshirt doch sicherlich nicht wie eine Lehrerin aus. Dann begriff sie. Es stimmte, sie sah jünger aus, als sie tatsächlich war. Viele reagierten überrascht, wenn sie ihr wahres Alter erfuhren. Das lag nicht nur an ihren weichen Gesichtszügen und der glatten Haut, sondern vor allem an der Zahnspange.

»Probewoche«, antwortete sie.

»Aber dein Handy hast du anscheinend noch«, stellte Douglas fest. »Oder warst du schlau genug, dir gleich ein zweites zu besorgen wie die meisten hier?«

»Die sacken hier die Smartphones komplett ein?«

»Du bekommst es jeden Tag für eine Stunde zurück. Sie nennen es digital detox

Er verdrehte die Augen.

Das war eine neue Information. Die Schulleiterin hatte ihr gegenüber den Eindruck erweckt, das Handyverbot gelte nur bei Exkursionen.

»Diese Bastarde.«

»Kommst du in die Abschlussklasse?«

Hjalmarsson lächelte so breit, dass man die Zahnspange gar nicht übersehen konnte.

»Ja, aber bei den Spezis , wie man hier zu sagen scheint.« Sie klopfte sich demonstrativ mit dem Handy gegen die Stirn. »In meiner Akte steht etwas von Anpassungsstörungen, ADHS und Autismus. Ich sammle Diagnosen, die mit A anfangen. Wie andere Leute Pokémonkarten.« Hatte sie gerade Pokémon gesagt? War das nicht seit Jahren out? Oder wieder in? Oder nach dem In wieder out? Oder als ironische Referenz doch wieder in? Jetzt bloß nicht aus der Rolle fallen. Das war doch eine unerwartete Chance, die sich hier auftat. »Aus den letzten beiden Schulen bin ich hochkant rausgeflogen. Jetzt soll ich es hier probieren, sagt Daddy, was ihn ziemlich teuer zu stehen kommt.« Sie lachte, und die anderen verzogen zumindest amüsiert die Mundwinkel. »Bald habe ich alle Internate Schwedens durch. Sigtuna ist übrigens total überschätzt, trotz der ganzen Berühmtheiten, die dort zur Schule gegangen sind. Das Essen da ist lausig. Mal sehen, was kommt, wenn sie mich hier rauswerfen, vielleicht ja das Ausland, vielleicht ja Eton oder ein boot camp in den Staaten. Hat jemand Snus oder eine Kippe für mich?« Das Mädchen, Ela, nahm ihren Rucksack mit Yves-Saint-Laurent-Muster ab, den sie an einem Riemen lässig über der Schulter getragen hatte, öffnete ihn, fischte eine Packung Zigaretten heraus und hielt sie Hjalmarsson hin, die sich bediente und Feuer geben ließ. »Ich rauche nicht auf Lunge«, erklärte sie ihr Paffen, »aber ich mag den Style. Wie in alten Schwarz-Weiß-Filmen, you know? «

Die drei tauschten untereinander vielsagende Blicke aus. Die hat eine Schraube locker, sollte das wohl heißen.

»Du sollst in die Kleingruppe?«, fragte Måns, der zweite Junge, und schob sich ein Snus -Päckchen in die Backentasche.

Hjalmarsson nickte. Sie hielt die Zigarette so beiläufig wie möglich zwischen den Fingern.

»Genau, Svanberg oder wie diese Kampflesbe heißt.«

Alle drei lächelten jetzt.

»Renée ist ziemlich in Ordnung«, sagte Ela.

Wieder wurden untereinander Blicke ausgetauscht.

»Aber du weißt schon, was mit der Gruppe passiert ist?«, fragte Douglas.

Hjalmarsson gab die Ahnungslose.

»Wieso?«

»Hast du nicht mitbekommen, was hier in den vergangenen Tagen los war?«, fragte Måns. »Im Lodjurskogen? Die Nachrichten sind doch voll davon. Zwei Jungen von hier sind tot, ermordet worden, ein Mädchen steckt in der Klapse, und ein anderes wird vermisst. Alle vier gehörten zu Renées Lerngruppe. Außerdem ist ein Lehrer schwer verletzt worden. Koma. Das Ganze ist während einer Exkursion passiert, obwohl niemand genau weiß, was da eigentlich abgegangen ist. In demselben Wald, in dem auch die Protestler gegen die Abholzung demonstrieren.«

»Und gebrannt hat es da auch noch«, fügte Douglas an. »Und eine weitere Leiche wurde gefunden.«

Hjalmarsson gab sich Mühe, ungläubig zu wirken, ohne es zu übertreiben.

»Ohne Scheiß?«

»Ohne Scheiß«, sagte Ela. »Emil, einer der ermordeten Jungen, war der Tischtennispartner meines Bruders.«

»Als mein Daddy in der vergangenen Woche mit der Schulleiterin telefoniert hat, hat sie nichts davon erwähnt.«

»Das ist auch alles erst in den vergangenen Tagen passiert«, erklärte Douglas, der jetzt an einer E-Zigarette zog. »Aber wie kannst du davon nichts gehört haben? Das Netz ist voll davon. Der Vater des vermissten Mädchens, Mathilda heißt sie, hat sogar eine fette Belohnung ausgesetzt.«

Hjalmarsson zuckte mit den Schultern und aschte ab.

»Bin fast nur auf Insta unterwegs. Mode und so. News sind nicht mein Ding.«

Wieder die Blicke.

»Na dann«, sagte Ela in sarkastischem Tonfall.

Am Ball bleiben! Vielleicht konnte sie so tatsächlich etwas in Erfahrung bringen. Die Teenager schienen ihr die Story bis hierhin jedenfalls abzukaufen.

»Was ist denn mit Nummer fünf?«, fragte sie.

»Was meinst du?«

»Ihr habt gerade von vier Schülern gesprochen, aber mein Dad sagte mir nach einem der Vorgespräche mit der Rektorin, in meiner Lerngruppe wären außer mir noch fünf andere.«

»Ich glaube, ich weiß, wen du meinst«, sagte Douglas. »Sascha ist aber schon seit Wochen nicht mehr hier. Hat zu viel Mist gebaut, ist zum Beispiel mehrmals beim Kiffen erwischt worden und zwei Wochen nach den Sommerferien im hohen Bogen rausgeflogen.«

Hjalmarsson grinste.

»Klingt sympathisch.«

»Sascha hatte eine Schraube locker«, erklärte Måns und unterstrich seine Worte mit einem rotierenden Zeigefinger neben der Schläfe.

»Nachname zufällig Davidsson?«, fragte Hjalmarsson und versuchte, ihren glimmenden Zigarettenstummel auf möglichst coole Weise wegzuschnippen, was nur halbwegs gelang, worauf aber niemand zu achten schien.

Ela schüttelte entschieden den Kopf.

»Nein, der Name klang irgendwie nicht besonders schwedisch.«

»Lacko-Grilic«, sagte Douglas. »Sascha Lacko-Grilic. Kommt aus einer Roma- oder Sintifamilie. Keine Ahnung, wo die Kohle fürs Schulgeld herkam.«

»Gangster«, sagte Måns, formte mit der Hand eine Pistole, drückte gestisch ab und blies imaginären Rauch von der Fingerspitze. »Saschas Dad oder Onkel lebt angeblich in Antwerpen und ist eine große Nummer im Diamantenhandel.«

»Was du immer alles zu glauben weißt.«

Ela warf ihm einen genervten Seitenblick zu.

»Wenn es doch stimmt.«

»Heißt das etwa, ich bin als Einzige aus der Idiotengruppe übrig geblieben?«, fragte Hjalmarsson. »Na, das kann ja heiter werden.«

Måns schien sie nun von oben bis unten zu mustern.

»Klingt irgendwie respektlos, wie du das sagst.«

Die Mienen der beiden anderen signalisierten stummes Einverständnis.

»Sorry. So war das gar nicht gemeint. Ich bin wahrscheinlich oft dermaßen ironisch, dass man es nicht mehr versteht. Das mit euren Mitschülern tut mir leid.«

»Julia, das Mädchen, das den Nervenzusammenbruch hatte, wird bestimmt wieder gesund, und für Mathilda besteht ja auch noch Hoffnung«, sagte Ela. »Wir schließen uns nach der letzten Unterrichtsstunde einem der freiwilligen Suchtrupps an. Falls du auch Lust hast …«

»Klar, warum nicht? Es geht ja immerhin um meine zukünftige Klassenkameradin. Wie waren die vier denn so drauf?«

Nun wirkten sie ratlos.

»Schwer zu sagen.« Douglas ließ die E-Zigarette wieder in der Innentasche seiner Steppjacke verschwinden. »Die waren viel unter sich.«

»Ich glaube nicht, weil sie gemobbt wurden, von wegen Spezis und so, sondern weil es sich einfach so ergeben hat.« Ela verlagerte ihr Gewicht von einem Bein auf das andere. »Irgendwie wirkte es so, als hätten sie alle unter Saschas Regiment gestanden. Sascha war echt eine Marke. Hat auf dicke Hose gemacht. Sagt man statt dem Z-Wort jetzt eigentlich Sinti oder Roma? Jedenfalls viel billiges Bling-Bling. Diamantenohrstecker und fette Goldketten. Wie ein Rapper.«

»Sascha hat behauptet, der Schmuck sei echt«, fügte Douglas an. »Aber ziemlich prollig war es trotzdem.«

»Klar war der echt«, sagte Måns. »Gangster, ich sag’s ja. Antwerpen ist einer der größten Umschlagplätze für Diamanten, und ihr Onkel …«

»Ich fand Sascha eigentlich trotzdem ganz in Ordnung«, sagte Ela. »War unangepasst und eigen. Ist doch authentisch, wenn man sein Ding durchzieht.«

»Die Joints meinst du wohl.«

Måns grinste.

»Die anderen vier haben jedenfalls zu Sascha aufgeschaut«, sagte Ela. »Vor allen Dingen Mathilda.«

»Ist mir gar nicht aufgefallen«, sagte Douglas. »Ich fand die beiden immer total verschieden. Sascha hatte dieses Rapperding am Laufen, Mathilda dagegen war eher der sportliche Typ.«

»Mathilda und sportlich?« Måns wandte sich Douglas zu. »Sprechen wir von derselben Mathilda? X-Bein-Mathilda, die am Sporttag den Schleuderball rückwärts geworfen hat?«

Hjalmarsson musste daran denken, dass es Måns gewesen war, der ihr vor wenigen Minuten noch mangelnden Respekt vorgeworfen hatte.

»Sei nicht immer so fies! Ich meine außerdem auch mehr ihren sportlichen Kleidungsstil«, erklärte Douglas. »Bei Unsportlichkeit kommt mir eher Emil in den Sinn.« Er blickte Hjalmarsson an. »Einer der beiden toten Jungen. Klingt jetzt vielleicht doof, und man soll ja nicht schlecht über Tote sprechen, aber er war ein ziemlich armes Schwein. Seine Eltern sind echte Sportfreaks, sein Vater war sogar bei den Olympischen Spielen, Fünfkampf oder so was, aber Emil war ziemlich dick und eher ungelenkig, was seine Alten eher nicht so toll fanden. Vor den Sommerferien hat er sich im Sportunterricht wohl so tollpatschig angestellt, dass er sich das Schlüsselbein gebrochen hat.«

»Mein Bruder meint, er sei echt in Ordnung«, sagte Ela. »Gewesen«, fügte sie leise an.

»Typ Mitläufer, würde ich sagen, und ein Fettsack.« Måns, der sich mit jedem Satz als immer größeres Arschloch entpuppte, kratzte sich auf dem Kopf, was seine sorgfältig arrangierte Frisur durcheinanderbrachte. »Oder besser gesagt Mitgeher.«

Er lachte meckernd über seinen eigenen Witz. Douglas stieß ihn vorwurfsvoll an, Ela verdrehte die Augen.

»Das Bild da neben deinem Bein ist übrigens von Sascha«, sagte Ela.

Hjalmarsson blickte auf die Stelle der Lehne hinab, auf die das Mädchen deutete. Die handwerklich sehr geschickt ausgeführte Schnitzerei hatte sie übersehen, als sie beim Hinsetzen die eingeritzten Graffiti in Augenschein genommen hatte. Sie zeigte eine geflügelte Frauengestalt, die nur mit einer Art Robe bekleidet war und in ihren Händen ein Füllhorn hielt, aus dem ein großer Würfel fiel.

»Wow!«

»Das hat Sascha da reingeschnitzt, es stellt Tyche dar«, erklärte Ela, »die griechische Göttin des Schicksals. Dasselbe Motiv hat Sascha sich angeblich auf den Rücken tätowieren lassen. Hat zwei Jahre hintereinander den schulinternen Kreativwettbewerb gewonnen.«

»Ganz toll«, sagte Måns verächtlich.

»Sorry, dass ich so neugierig bin, aber wie waren Julia und Viktor denn so?«

Sicherheitshalber entblößte Hjalmarsson noch einmal die volle Pracht ihrer Zahnspange und hoffte, dabei nicht allzu idiotisch auszusehen. Doch keiner der drei schien Verdacht zu schöpfen, dass ihnen keine Abiturientin mit Lernschwierigkeiten, sondern eine Polizistin Anfang zwanzig gegenübersaß.

»Eigentlich ziemlich normal«, sagte Ela. »Obwohl Viktors family steinreich ist, kam er nicht eingebildet rüber oder arrogant.«

»Steinreich?«

»Seine Mutter ist CEO bei Hultqvist-Cosmetics.«

»Echt?« Hjalmarsson riss dramatisch die Augen auf und wies mit beiden Zeigefingern auf sie. »Mein Mascara ist von Hultqvist. Arschteuer, aber gut.«

»Finde ich auch«, sagte Ela.

»Julias Eltern sind internationals «, sagte Måns, als würde das irgendetwas erklären.

»Sie und Viktor sind ein Paar«, sagte Douglas. »Also, sie waren eins, meine ich.«

»Schon länger nicht mehr«, sagte Ela bestimmt. »Viktor hat Schluss gemacht, angeblich wegen … Angeblich stand er neuerdings auf Mathilda.«

»Wegen Mathilda?«, fragte Måns ungläubig. »Ich dachte, die wäre …« Douglas stieß ihm erneut den Ellenbogen in die Seite, dieses Mal fester. »Aua! Spinnst du?«

»Vielleicht ist sie noch irgendwo da draußen im Wald und kämpft um ihr Leben, okay?«

Ela blickte ostentativ auf eine kleine goldene Armbanduhr an ihrem Handgelenk.

»Ich glaube, wir müssen weiter, folks.«

»Na dann«, sagte Douglas.

»Lass dich nicht mit dem Handy erwischen«, sagte Måns. »Man sieht sich beim Suchtrupp.« Hjalmarsson hob die Hand zum Abschied, die drei wandten sich um und schlenderten wieder los. Nach einigen Schritten drehte sich Måns noch einmal um. »Du bist verdammt hübsch«, rief er grinsend. »Gehen wir irgendwann mal zusammen aus?«

»Ich date keine Hosenscheißer«, entgegnete sie und ließ zum letzten Mal ihre Zahnspange aufblitzen. Douglas und Ela lachten. Sondern die Tochter meiner Chefin, dachte sie und fotografierte die beeindruckende Schnitzerei in der Lehne neben ihrem Bein, ohne dass sie hätte sagen können, warum. Ein Windstoß wirbelte einige Birkenblätter vom Boden auf, und als die Schüler um die Ecke gebogen waren, stand auch sie auf und machte sich auf den Weg.