Ingrid Nyström blickte an dem hässlichen roten Farbklecks vorbei durch die Panoramascheibe über die Dächer der Innenstadt. Es dämmerte bereits, und außer ihr befand sich niemand mehr in der Abteilung im vierten Stock des Präsidiums. Ihre umherschweifenden Gedanken landeten immer wieder bei Mathilda Adlercreutz. Das Mädchen war noch immer nicht gefunden worden und mit jeder Stunde, die verging, schwand die Wahrscheinlichkeit, dass sie noch am Leben war. Seit ihrem Verschwinden waren fünf Tage vergangen. Nach allem, was sie wussten, hatte Mathilda weder Nahrung noch etwas zu trinken dabei und war für den Wald und das Wetter vermutlich ebenso unpassend gekleidet wie ihre kostümierten Mitschüler. Die Nächte waren bereits empfindlich kalt, und es hatte viel geregnet. Dazu kamen der Waldbrand und die unumstößliche Tatsache, dass zwei ihrer drei Schulkameraden ermordet worden waren, dass ihr Lehrer im Koma lag, dass sich ihre beste Freundin schwer traumatisiert in der Psychiatrie befand und man unweit des Tatorts in einem ausgebrannten Auto eine weitere Leiche gefunden hatte, mutmaßlich die eines Jägers aus Alvesta, mit dessen Großwildwaffe Emil Fallenius erschossen worden war. Irgendwie hingen alle diese Dinge zusammen, dachte sie, und wenn sie selbst nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Fiktion, wenn sie keine echte Hauptkommissarin wäre, sondern die nervenstarke, taffe Hauptdarstellerin einer spannenden Krimiserie, hätte sie vermutlich die einzelnen Personen, Orte und Geschehnisse an einer Pinnwand visualisiert und mit Bindfäden verbunden. Ihr Mann liebte Fernsehkrimis, und sie tat ihm ab und zu den Gefallen und schaute mit, aber jedes Mal, wenn eine Szene mit der notorischen Pinnwand und den Bindfäden auftauchte, konnte sie nicht anders, als innerlich zu passen, aufzustehen und Anders mit seinem Film allein auf der Couch zurückzulassen. Bindfäden, Herrgott. Um zu dem Schluss zu gelangen, dass Mathilda Adlercreutz vermutlich nicht mehr am Leben war, brauchte sie keine verdammte Schnur. Ihr Blick zoomte von den Dächern der Stadt auf den hässlichen roten Farbfleck auf der Fensterscheibe, was sie an den ganzen anderen Mist denken ließ, der den verworrenen Fall, in dem sie sich verheddert hatten, verkomplizierte. Die Umweltaktivisten, die trotz des juristischen Triumphs weiter auf die Barrikaden gingen und ihren Unmut ausgerechnet an denen abließen, die ihre verfassungsmäßigen Rechte und körperliche Unversehrtheit garantierten. An den rechtspopulistischen Agitator, der die Suche nach seiner Tochter politisch ausschlachtete, um Stimmung gegen die Demokratie, den Rechtsstaat und seine Institutionen zu machen. An den gnadenlosen Druck, den die vor Ort versammelte Presse aufbaute, und den Karrieristen wie der Landespolizeichef oder ihr Vorgesetzter Edman nach unten weitergaben, wo er auf ihren Schultern landete. Wie viel konnte man tragen, bis man zusammenbrach? Gedankenverloren drückte sie eine weitere Schmerztablette aus dem Verpackungsstreifen, schluckte sie trocken hinunter und hätte nicht sagen können, die wievielte das bereits war, obwohl ihre Freundin ihr eingebläut hatte, die Tageshöchstgrenze auf keinen Fall zu überschreiten. Ihr Handy meldete sich. Es war Bo Örkenrud, und seine Stimme klang so müde und matt wie ihre eigene wahrscheinlich auch. Es ging um den Leichnam im ausgebrannten Auto, das den Waldbrand verursacht hatte. Der Chef der Spurensicherung hatte gerade mit Ann-Vivika gesprochen, und die Ergebnisse des Zahnabgleichs waren eindeutig. Der Tote in dem Suzuki war wie vermutet Pär Ahlström, der Jäger, dessen Frau Lasse Knutsson belogen und sich nach der Nachricht vom Tod ihres Gatten aus dem Staub gemacht hatte. Aber es gab noch weitere Neuigkeiten. In dem Autowrack war etwas Überraschendes gefunden worden.
»Spann mich nicht auf die Folter, Bo, bitte, dazu bin ich zu müde.«
»Gold.«
»Wie bitte?«
»In dem Wagen befand sich Gold, dreihundertsiebenundsechzig Gramm, um genau zu sein.«
»Wie Gold?«
»Na, Gold Gold.«
»In welcher Form? Ein Barren? Münzen?«
»Schwer zu sagen. Der Brand hatte eine derartige Hitzeentwicklung, dass das Gold zu einem undefinierten Klumpen geschmolzen ist. Stell dir Bleigießen zu Silvester vor. Ich würde auf Schmuck tippen. Mehrere klobige Ketten oder etwas in der Art.«
»Welchen Wert hat so etwas?«
Sie kannte ihn gut genug, um zu spüren, dass er seinen Mund gerade zu einem schmalen Lächeln verzog.
»Nach aktuellem Marktwert mehr als zweiundzwanzigtausend, ich habe es gerade nachgesehen.«
»Zweiundzwanzigtausend Kronen?«
»Den Goldkurs gibt man in Dollar an.«
»Zweiundzwanzigtausend Dollar?«
»Yes.«
»Oh.«
»Nicht wahr?«
»Danke, Bo.«
»Immer wieder gern. Aber das war noch nicht alles.«
»Sondern?«
»Pär Ahlströms Gewehr.«
»Was ist damit?«
»Wir konnten Fingerabdrücke sicherstellen.«
»Von Ahlström?«
»Richtig.«
An der Art, wie er das sagte, hörte sie, dass das noch nicht alles war.
»Nun sag schon.«
»Auf dem Jagdgewehr befinden sich ebenfalls Abdrücke von Mikkael Bergfors.«
Verdammt.
Sie stöhnte auf.
»Danke, Bo.«
Sie legte auf. Als Filmfigur hätte sie jetzt das ewige Wollknäuel und eine Schere aus der Schublade nehmen müssen, überlegte sie, und das Bild eines Goldklumpens. Was für ein Glück, dass sie in Wirklichkeit keine Pinnwand, sondern ein Whiteboard benutzte. Ein Stift war um so vieles praktischer als diese vermaledeiten Bindfäden.
Sie brütete eine Stunde über dem immer weiter auswuchernden Diagramm, ohne dass sie dabei zu neuen Erkenntnissen gekommen wäre. Der Lehrer und das Gewehr? Gold im Wagen des Jägers? Nichts davon ergab einen Sinn. Schließlich gab sie auf, rief Anders an, um ihn zu bitten, sie abzuholen, und humpelte aus dem Präsidium, um nach den zwölf Stunden, die sie in geschlossenen und schlecht klimatisierten Räumen verbracht hatte, an der frischen Luft auf ihn zu warten. Die Tür war kaum hinter ihr ins Schloss gefallen, als eine Gestalt auf sie zutrat. Im weißbläulichen Licht der Straßenbeleuchtung, das harte Schatten warf, wirkte das vor Sorge verhärmte Gesicht von Mathildas Mutter Josefine Adlercreutz wie eine rituelle Maske, wie aus Holz geschnitzt. Außer einer Begrüßungsfloskel, die Nyström erwiderte, brachte sie kein Wort heraus. Das war auch nicht nötig, die versteinerte Mimik, der in sich zusammengesunkene schmale Körper, der flehende Blick sagten alles, was nötig war. Ihre ganze Gestalt war eine einzige simple Frage: Gibt es noch irgendeine Chance, dass meine Tochter lebend gefunden wird? Nyström räusperte sich, Hals und Mund waren rau und trocken wie Sandpapier. Sie dachte an die Hundertschaften, die das Waldgebiet seit Tagen durchkämmten. An die Spürhunde und die Schar freiwilliger Helfer. An den Hubschrauber mit der Wärmebildkamera, der nahezu ununterbrochen im Einsatz war. An die Einheit, die in der verbrannten Zone nach Mathildas Leichnam suchte. Aber auch an die Trottel, die, angestachelt von der Belohnung, die Jan Adlercreutz ausgesetzt hatte, kreuz und quer durch den Wald stapften, mögliche Spuren zerstörten und sich im schlimmsten Fall verirrten und selbst in Gefahr brachten. An die Flut idiotischer Hinweise, die wichtige Ressourcen band. An die Hetze und den Hass in den sozialen Netzwerken. Gerade als sie etwas sagen wollte, machte Josefine Adlercreutz doch noch den Mund auf.
»Mathilda lebt. Ich spüre das. Ganz tief in mir spüre ich das.«
Ihr Blick war unstet und flackerte in dem unwirklichen Licht der Straßenlaternen. Nyström wählte ihre Worte mit Bedacht. Der Impuls, die Frau zu trösten, stand im Gegensatz zu dem unerbittlichen Realismus, den ihre berufliche Position verlangte.
»Es gibt noch eine Chance, Mathilda zu finden, doch sie wird zunehmend geringer. Dein Mann muss damit aufhören, unsere Arbeit zu unterlaufen. Er muss die ausgesetzte Belohnung zurücknehmen, sie hilft nicht, sondern schadet der Suche nur.«
»Das verstehe ich«, sagte die kleine, schmale Frau schließlich mit leiser Stimme. »Ich werde dafür sorgen.«
Ein, zwei Augenblicke später war sie bereits wieder in dem Schatten verschwunden, aus dem sie getreten war, und als kurz darauf Anders’ Audi am Straßenrand hielt, hätte Nyström selbst unter Eid nicht mehr mit hundertprozentiger Gewissheit sagen können, ob es diese Szene zwischen Mathildas Mutter und ihr tatsächlich gegeben oder ob sie sich nur in ihrer Fantasie abgespielt hatte. Auch dafür waren wahrscheinlich die Schmerzmittel und die Übermüdung verantwortlich. Später im Auto, das wie ein Raumschiff durch die Nacht zu gleiten schien, tastete sie in dem Lederbeutel, der ihr seit Jahren als Handtasche diente, nach dem Tablettenstreifen und zählte sechs leere Kammern in dem Zehnerstreifen, den sie am Morgen angebrochen hatte. Die Tageshöchstdosis lag bei vier. Aus den Augenwinkeln sah sie die Reflektoren der Leitpfosten vorbeifliegen und Schweife hinter sich herziehen. In ihrer Magengrube breitete sich eine wunderbare Wärme aus. Zum ersten Mal, seit sie in die Grube gestolpert war, mit der alles angefangen hatte, fühlte sie sich eins mit sich und allem, was sie umgab. Sanft und voller Dankbarkeit legte sie ihre Hand auf den Arm ihres Manns, und wie aus dem Nichts streifte sie die Erinnerung an ein fernes Lied, an eine Melodie und Textzeile. Lautlos formte sie die Worte und spürte ihnen nach, so als würde sie sie wie einen Wein verkosten: Too die by your side, is such a heavenly way to die.