Stina Forss saß an der Hotelbar, legte auf ihrem Smartphone digitale Patiencen und nippte an einem Bier. Sie war mit ihren Gedanken bei den beiden toten Jungen auf der Eichenlichtung. Die Drogen im Blut, die Theaterkostüme, die Masken, der Runenstein. Dazu kam ein neues Detail, das ihr im Zwischenbericht der Spurensicherung aufgefallen war. In unmittelbarer Nähe des Tatorts war eine leere Kühltasche gefunden worden, deren Tragebügel die Fingerabdrücke von Viktor Wijk aufwies. Eine Analyse hatte ergeben, dass sie festes Kohlenstoffdioxid enthalten hatte, besser bekannt als Trockeneis, das man in erster Linie zur Erzeugung von Bühnennebel benutzte. Für Forss waren die Geschehnisse auf der Lichtung bis zu einem gewissen Punkt vorstellbar: Die vier Schüler führen an dem so mystisch wirkenden Ort mithilfe von Kostümen, Masken und künstlichem Nebel eine Vorstellung ohne Publikum auf, ein rauschhaftes, sinnestrunkenes Stück, eine Selbstinszenierung, ein Fest ihrer Jugend und aufblühender Sinnlichkeit. Alkohol, Gras, Ecstasy und Sex, meine Güte, wie oft hatte sie in ihrer Berliner Zeit selbst die Nächte durchgetanzt, gefeiert, gefickt. Da war sie Ende zwanzig, Anfang dreißig gewesen. Wie intensiv musste es sich also für Jugendliche anfühlen, die so etwas vielleicht zum ersten Mal erlebten? Die in einer Umgebung aufwuchsen, die von hoher sozialer Kontrolle, einem anachronistischen Regelwerk und wenig Privatsphäre geprägt war? Den Internatsschülern war ja noch nicht einmal die regelmäßige Nutzung ihrer Smartphones erlaubt. Kein Wunder, dass sie umso mehr aufbegehrten, Grenzen ausloteten und bewusst überschritten. Sie verstand das. Diesen Hunger auf Leben, das innere Feuer. Fire, walk with me. Entgrenzung konnte schieres Glück bedeuten. Aber man konnte sich auch darin verlieren. Für Emil und Viktor hatte der Weg nicht zurückgeführt, Julia stand auf der Kippe, Mathildas Schicksal war ungewiss. Nur dass die vier nicht auf einem ewigen Trip hängen geblieben waren wie die notorischen Zombies in den Berliner Technoclubs, sondern Opfer physischer Gewalt geworden waren – mindestens auf die beiden Jungen traf das uneingeschränkt zu –, die aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von ihnen selbst ausgegangen war. An genau diesem Punkt wurden die Dinge kompliziert. Jemand hatte in das Rollenspiel eingegriffen – von außen. Der Mann mit dem Jagdgewehr? Das war naheliegend, denn Emil war durch einen Schuss aus dieser Waffe getötet worden, wie die ballistische Untersuchung zweifelsfrei bewiesen hatte. Aber es erklärte nicht, warum Viktor auf eine andere Weise ermordet, warum ihm, an einen Baum gefesselt, die Kehle durchtrennt worden war. Es erklärte nicht die beiden Gruben im Waldboden oder die Rolle, die Mikkael Bergfors in diesem Stück spielte, der Lehrer, dem sexueller Missbrauch von schutzbefohlenen Minderjährigen vorgeworfen wurde. War ein Szenario denkbar, in dem er die Schüler zu der orgiastischen Aufführung im Eichenring angestiftet hatte? Um davon selbst sexuell zu profitieren? Ein skrupelloser Manipulator, der mithilfe von Drogen, Charisma und seiner Machtposition als Vertrauensperson vier labile Teenager zu Dingen verleitet hatte, die sie selbst nie gewollt hatten? Julia Lihadji hatte ungeschützten Geschlechtsverkehr gehabt, außerdem war auf der Lichtung ein benutztes Kondom gefunden worden, es hatte in der fraglichen Nacht also mindestens zweimal Geschlechtsverkehr stattgefunden, auch wenn noch völlig unklar war, zwischen wem. Der DNA -Abgleich der beiden Spermaproben mit organischem Vergleichsmaterial von Mikkael Bergfors und den toten Jungen war in Arbeit, wurde aber frühestens in einigen Tagen erwartet. Außerdem hatten Örkenruds Leute in Pär Ahlströms Haus Haare samt Wurzel auf einem Kopfkissen und an einem Kamm sichergestellt, die eindeutig nicht der roten Lockenmähne seiner Frau entstammten. Also doch der Jäger? Forss beendete das hirnlose Handyspiel und tippte sich bis zu einem Porträtbild Ahlströms durch, das sie auf der Webseite seines Unternehmens fand. Das professionell gemachte Foto war, wie die meisten dieser Art, vollkommen nichtssagend. Interessanter war, dass der Mann in der Vergangenheit bereits gewalttätig gewesen war. Er hatte seine erste Frau missbraucht und misshandelt. Ihr vermeintlicher Unfalltod auf einer Bergwanderung war angesichts dieser Vorgeschichte mindestens fragwürdig. Das exklusive und extrem teure Hobby Großwildjagd machte ihn nicht unbedingt sympathischer. War sein dokumentierter Hang zu Gewalt der Schlüssel zu diesem Fall? Aber wie und warum war er dann selbst zum Opfer geworden? Weshalb war er mit Gold im Wert von zweihunderttausend Kronen im Wagen in den Lodjurskogen gefahren? Was hatte er dort überhaupt gewollt? Wildschweine oder Rehe erlegen? Dafür brauchte man keinen Afrikaklassiker, sondern eine gebräuchliche Jagdflinte, wie er sie zu Hause in verschiedenen Ausführungen zur Auswahl gehabt hätte. Trotzdem hatte er sich anders entschieden, und dafür musste es eine Erklärung geben. In diesen Breitengraden gab es eigentlich nur einen Grund, ein derartig großkalibriges Gewehr zu benutzen: um möglichst sicher zu töten. Dass er vorhatte, Löcher in Hirsche zu schießen oder Rebhühner zu zerfetzen, war unwahrscheinlich. Blieb also als einzige plausible Möglichkeit, einen Menschen umzubringen. Und genau das war auch geschehen. Sie musste an Emils furchtbar zugerichteten Kopf denken. Wie aber konnte Ahlström von den feiernden Schülern auf der Lichtung gewusst haben? Im Grunde gar nicht. Es sei denn, er und der Lehrer waren Komplizen. Doch das klang nicht sehr wahrscheinlich, dennoch mussten sie untersuchen, ob es zwischen den beiden Männern eine Verbindung gab. Aber wen konnte der Jäger, der ja ganz offenbar mit Tötungsabsicht in den Wald gefahren war, im Visier gehabt haben, wenn es nicht die Teenager gewesen waren? Und wozu das Gold? Die Einzigen, die dort mit Sicherheit anzutreffen gewesen waren, waren die Waldbesetzer. War es das? Hatte Ahlström eine politische Agenda verfolgt? Ein Attentat auf Umweltaktivisten? Über seine politische Haltung und ideologischen Überzeugungen wussten sie bisher nichts, aber dass ein Großwildjäger, der nach Afrika flog, um vom Aussterben bedrohte Tiere zu erlegen, kein großer Fan der Umweltbewegung sein konnte, lag auf der Hand. Forss machte sich eine Notiz: Delgado musste überprüfen, ob sich Ahlström in den sozialen Medien möglicherweise dementsprechend geäußert hatte. Auch der Bericht der Spurensicherung, die im Augenblick das Haus der Ahlströms in Alvesta unter die Lupe nahm, war diesbezüglich interessant. Etwas an der Überlegung hakte sich in ihrem Kopf fest. Wenn der Mann tatsächlich in den Lodjurskogen gefahren war, um ein Attentat auf Umweltschützer zu verüben, warum hatte er dann nicht im Green Village zugeschlagen, sondern auf der anderen Seite des Walds, wo er dann anscheinend zufällig auf die Schüler gestoßen war? In dem schwer zugänglichen westlichen Teil des Gebiets hatten sich schließlich überhaupt keine Aktivisten aufgehalten. Wobei: Das stimmte nicht. Die Luchse hatten ihr kleines Zeltlager gerade einmal hundert Meter vom Tatort entfernt aufgeschlagen. Mit der als militant geltenden Aktivistengruppe, Nyströms geplanter Gefährderansprache und ihrem Sturz in die Grube hatte ja im Grunde alles angefangen. Bisher waren sie in allen ihren Überlegungen wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass sich die Wilden Luchse nach Nyströms Unfall und ihrer spektakulären Bergung per Hubschrauber auf und davon gemacht hatten. Was aber, wenn das gar nicht stimmte? Was, wenn sie in der Nähe geblieben waren? War es denkbar, dass sie viel tiefer in die Geschehnisse auf der Eichenlichtung verwickelt waren, als die Ermittler angenommen hatten? Aber um von der Gruppe und ihrem Aufenthaltsort zu wissen, hätte Ahlström Zugang zu geheimdienstlichen Erkenntnissen haben müssen. War es das? War der Jäger ein Agent, ein Auftragsmörder oder zumindest ein Informant der Staatssicherheit? Das alles klang absurd, an den Haaren herbeigezogen, aber nachdem Forss gemeinsam mit Nyström die Mordverschwörung gegen Olof Palme aufgedeckt hatte, gab es wenig, was sie einzelnen Leuten innerhalb des Staatsschutzes nicht zutraute. Die Säpo mit ihren Aufklärungsdrohnen und Hintergrundinformationen zu den Luchsen war schließlich definitiv vor Ort und in die Überwachung der Proteste im Wald maßgeblich eingebunden gewesen. Sicher, das waren niedrige Dienstränge. Aber es gab keine Garantie dafür, dass sie nicht in Verbindung zu Kräften innerhalb des Sicherheitsapparats standen, die ganz anderen Kalibers waren. Wozu diese Menschen fähig waren, hatte sie am eigenen Leib erfahren, und es grenzte an ein Wunder, dass sie überhaupt noch am Leben war. Mord war für diese Leute eine legitime Option, wenn es ihren Zielen diente. Was sie unweigerlich zu einem weiteren losen Ende führte. Auch Ahlström war schließlich getötet und der Leichnam mitsamt dem Auto verbrannt worden. Wer war dafür verantwortlich? Und wer würde überhaupt von einem Massaker im Wald profitieren, wohlgemerkt ausgerechnet in der Nacht vor dem entscheidenden Gerichtsurteil? Jemand, der Chaos wollte, politische Instabilität? Forss nippte an ihrem Bier. Auf all diese Fragen fand sie keine Antworten. Was sie rastlos werden ließ. Nein, das stimmte nicht, Rastlosigkeit war ihr Normalzustand. Jetzt war es mehr als das. Ihr gesamter Körper kribbelte, unter der Augenklappte juckte es. So erschöpft und müde sie auch war, sie wusste, dass sie keine Ruhe finden würde. Also schob sie ihr zur Hälfte ausgetrunkenes Bierglas beiseite, holte sich ihren Dufflecoat aus dem Hotelzimmer und machte sich auf den Weg.
Eine knappe Stunde später betrat sie das Green Village. Der Dauerregen der vergangenen anderthalb Tage hatte die Bewohner des Camps offenbar leichtsinnig werden lassen, oder möglicherweise war es auch eine kindische Form des Protests gegen die behördlichen Auflagen, ironischerweise also gegen jene, denen viele immer noch vorwarfen, den Waldbrand absichtlich gelegt zu haben, denn rund dreißig Bewohner des Camps saßen im Kreis um ein Lagerfeuer versammelt, das fröhlich Funken in die Nacht stieben ließ. Ein Typ mit Bart spielte, na klar, Gitarre und einige andere sangen den, na klar, Dylan-Song lauthals mit. Sie kam näher und hockte sich auf einen freien Platz zwischen zwei Frauen. Sie bemerkte an einzelnen verstohlenen Blicken, die man ihr zuwarf, dass einige sie wiedererkannten und sich an die denkwürdige Szene erinnerten, die sie hier vor zwei Tagen abgeliefert hatte. Dennoch machte niemand Anstalten, in irgendeiner Weise auf ihre Anwesenheit zu reagieren, was ihren früheren Eindruck bestätigte, dass es im Camp sicherlich einen harten Kern gab, aber auch viel Kommen und Gehen. Blowin’ In The Wind klang aus, und Like A Rolling Stone begann. In der Ferne brummte der Hubschrauber, die Suche nach Mathilda wurde mithilfe einer Wärmebildkamera auch in der Nacht fortgesetzt. Kinder rösteten am Feuer Stockbrot. Eine junge Frau stillte ihren Säugling. Ein älterer Mann im Schneidersitz strickte. Die ganze Situation wirkte derart klischeebeladen, dass es wehtat. Trotzdem musste Forss sich nach einigen Minuten eingestehen, dass von dem Feuer, der Musik, ja, dem harmonisch wirkenden Gemeinschaftsgefühl eine durchaus wohltuende Ruhe ausging. Die Frau, die links neben ihr saß, hielt ihr fragend eine Blechtasse mit Rotwein hin. Sie nickte, nahm den Wein entgegen, tat einen langen Schluck und reichte die Tasse zurück. Nachdem Mr. Tambourine Man durch war und Just Like A Woman angestimmt wurde, nahm sie ihr Handy aus der Tasche, rief das Porträtfoto Pär Ahlströms auf und reichte das Smartphone an die Frau mit dem Wein weiter. Die musterte das Display und schüttelte den Kopf. Forss bedeutete ihr mit dem Kinn, das Handy weiterzugeben, was die Frau auch tat. So wanderte das Foto des Jägers von einem zum Nächsten, während Forss die vom Feuer illuminierten Gesichter beobachtete. Die Reaktion war bei jedem die gleiche, niemand schien den Mann wiederzuerkennen. Als It Ain’t Me, Baby ausklang, hatte ihr Smartphone das Feuer in einem Halbkreis umrundet, und sie fragte sich, ob sie anschließend noch einmal dasselbe mit einem Bild Mikkael Bergfors’ versuchen sollte.
Dann geschah etwas Unerwartetes. Hinter ihr gellten Rufe und eine Art Kriegsgeheul durch die Nacht, gefolgt von einem Rumpeln, und als Gitarrenspiel und Gesang abrupt abrissen, konnte man trotz des weichen, federnden Waldbodens die Schritte sich rasch nähernder Menschen vernehmen. Forss drehte sich im Sitzen um. Etwa zehn Meter von ihr entfernt schälte sich aus der Dunkelheit ein Trupp von etwa zehn Männern. Einige hatten sich einen Schal oder ein Tuch über die untere Gesichtshälfte gebunden, die meisten hielten eine Schlagwaffe in der Hand, Eisenrohre, Teleskopschlagstöcke, Baseballschläger. Sie waren überwiegend dunkel gekleidet, einige hatten sich Kapuzen über den Kopf gezogen, auf einem Sweatshirt prangten SS -Runen. Rechte Hooligans, ging ihr durch den Kopf, ein Schlägertrupp, der durch Jan Adlercreutz’ Hetze mobilisiert worden war. Fünf Meter vor ihnen blieb der Anführer der Horde stehen, und die anderen taten es ihm nach. Für einen Augenblick war es vollkommen still, nur das Knacken des Feuers war zu hören. Der große Mann mit breitem Kreuz, Mitte vierzig, Kurzhaarfrisur, hatte sein Gesicht nicht verborgen. Sie erkannte ihn auf Anhieb wieder. Vor fünf oder sechs Jahren war er in einen Fall von Drogenhandel und Körperverletzung im Umfeld einer Rockerbande verwickelt gewesen, damals arbeitete er in seinem bürgerlichen Beruf als Bademeister, worüber sich Delgado damals wochenlang belustigt hatte, er hatte sogar eine eigene Webseite gebaut, auf der Bademeisterwitze gesammelt wurden. Der Delinquent war vor Gericht letztlich mit einer Bewährungsstrafe davongekommen. Seitdem hatte sie nicht mehr an ihn gedacht. Er schien sie nicht wiederzuerkennen, zu der Zeit hatte sie noch zwei intakte Augen gehabt und ihr Haar anders getragen, außerdem vermutete er inmitten der hippiehaften Lagerfeuerrunde wohl kaum eine Kriminalbeamtin.
»Wir wollen das Mädchen!«, bellte er in die Stille hinein. Forss konnte die Angst der Campbewohner förmlich riechen. Kein Wunder, das Drohpotenzial der testosteronstrotzenden Bulldozer war enorm. Sie strahlten aus jeder Pore Gewalt aus. Forss tastete unter ihrer Lodenjacke nach dem Brustholster der Sig Sauer und öffnete ihn. Ein junger Mann mit Bart, der neben dem Gitarrenspieler saß, stand auf.
»Welches Mädchen?«, fragte er und schien tatsächlich nicht zu begreifen, worauf der Wortführer des Schlägertrupps hinauswollte. Es war ja auch absurd. Glaubten sie ernsthaft an den Blödsinn, der so fleißig in rechten Netzwerken geteilt und diskutiert wurde, wonach die vermisste Schülerin von Ökoterroristen entführt oder gar ermordet worden war?
»Wo ist Mathilda?« Offenbar schon. Drohend hob der Mistkerl die Eisenstange in seiner Hand. »Ich gebe euch eine verfickte Minute, dann schlagen wir hier alles kurz und klein, euch eingeschlossen.«
Hinter ihm zustimmendes Gemurmel.
»Aber wir …«
Der Satz des jungen Manns ertrank in einem Meer von Furcht, und wer wollte es ihm verübeln? Ein Kind fing an zu weinen, eine junge Frau schluchzte. Der junge Mann setzte sich wieder hin, wie ein Kaninchenjunges, dachte sie, bedrängt von einem Rudel Kampfhunde. Sie seufzte. Zeit für ihren Auftritt. In einer einzigen fließenden Bewegung stand sie auf, zog die Waffe, drehte sich gänzlich um, entsicherte sie und zielte mit durchgestreckten Armen auf das versteinerte Gesicht des Alphamännchens.
»Mathilda ist nicht hier«, sagte sie leise, aber laut genug, dass alle Anwesenden es verstehen konnten. »Und apropos verfickte Minuten: Ich gebe euch eine halbe, um euch zu verpissen.« In seinem vom Feuer beschienenen Gesicht begann es zu arbeiten. Ihm dämmerte jetzt, wer ihm da gegenüberstand. Der eine Mundwinkel zuckte. Wenn das ein verächtliches Grinsen sein soll, dann üb das besser noch einmal zu Hause vor dem Spiegel, du Armleuchter, dachte sie.
»Die Tussi schießt im Leben nicht«, rief ein vermummter Typ, der ganz außen stand und Sandquarzhandschuhe trug. Sie war auch einäugig noch eine ausgezeichnete Schützin. Mit Worten und allerletzten Warnungen kam man bei Arschlöchern dieses Kalibers nicht weit. Sie schwenkte ihre Arme ein Stück nach rechts, zielte kurz und drückte ab. Das Projektil schlug in den Stamm einer Kiefer ein, die einen Meter neben dem Kerl stand, und abgesplitterte Rinde spritzte ihm ins Gesicht, sodass er schmerzverzerrt aufschrie. Du kleine Pussy, dachte sie.
»Noch dreizehn Sekunden«, sagte sie, den Blick längst wieder auf den Obermacker geheftet. Er zog lautstark Schleim im Hals hoch, dann rotzte er auf den Boden. So ähnlich hatte sie das an nahezu derselben Stelle vor zwei Tagen auch gemacht.
»Wir ziehen ab, Männer«, grunzte er schließlich, »und kommen später wieder.« Er zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf sie. »Dann mache ich dich fertig, du dumme Fotze.«
Das klang lahm, und das wusste er auch, aber was blieb ihm anderes übrig, als den Schwanz einzuziehen und den Rückzug anzutreten?
»Immer wieder gerne«, rief sie ihm und den murrend abziehenden Typen hinterher. Die Waffe senkte sie erst, als von den Dumpfbacken nichts mehr zu sehen und zu hören war. Schließlich wandte sie sich wieder dem Feuer zu. »Wie wäre es mit All Along The Watchtower?«, fragte sie und spürte erst jetzt, wie heftig ihr Herz pochte.
Er brauchte mehrere Wochen, um es zu bemerken, und einige weitere, um es sich einzugestehen, aber er kam schließlich nicht umhin festzustellen, dass er das erste Mal seit sehr, sehr langer Zeit gern zum Unterricht ging. Renée war eine gute Lehrerin. Streng, hartnäckig, unnachgiebig. Aber auch offen, geduldig, einfühlsam. Eine stimmige Balance. Und sie wusste, was sie tat. Jede und jeder der fünf »Spezis« – so nannten sie sich mittlerweile selbst, nachdem Viktor einmal vor allen das Wort »Mongos« rausgerutscht war, woraufhin Renée einen Wutanfall bekommen, ihn an die Wand genagelt und einen Vortrag über Framing und die Macht der Sprache gehalten hatte –, hatten eine andere Macke, manche mit Diagnose, manche ohne, aber Renée knackte jeden Einzelnen von ihnen, fand Zugang zu ihren verrammelten Köpfen und waidwunden Herzen. Viktor war hibbelig und rastlos, ein ADHS -Fall wie aus dem Lehrbuch. In ruhigen Arbeitsphasen pumpte sein rechtes Bein, als würde er eine mechanische Nähmaschine zum Laufen bringen, dabei hätte seine überschüssige Energie wahrscheinlich auch für zwei oder drei solcher altmodischer Geräte gereicht. Wenn er sich gestresst oder überfordert fühlte, also fast immer, flog sein Blick wie ein hakenschlagender Hase auf der Flucht durch den engen Klassenraum. Der peinliche Versuch, seine Unsicherheit unter extrem teuren Klamotten zu verstecken, scheiterte täglich auf dramatische Weise, dennoch gelang es Renée innerhalb weniger Wochen, ihm Strategien aufzuzeigen, mit seinem mangelnden Konzentrationsvermögen und seiner impulsiven Art umzugehen. Wenn die anderen vier an ihren Aufgaben arbeiteten, setzte sie sich oft lange neben ihn und ging die Arbeitsschritte geduldig mit ihm durch. Sie schlug ihm vor, mit der Hockey-AG vorläufig aufzuhören, und überredete ihn dazu, es eine Zeit lang mit Schlagzeugunterricht bei einem Musiktherapeuten zu versuchen. Natürlich wurde aus Viktor nicht über Nacht ein neuer Mensch, aber es war deutlich zu spüren, dass er mehr innere Ruhe fand, über längere Strecken den Fokus behalten konnte und selbstbewusster auftrat. Er hatte ihn zu Anfang als reiche Flachpfeife abgestempelt, wie es sie auf dem Sokrates zuhauf gab, aber es zeigte sich, dass Viktor eigentlich ganz in Ordnung war. Einmal, als wegen eines erkrankten Lehrers kurzfristig der Physikunterricht ausfiel, fragte Viktor ihn, ob er Lust auf eine Partie Badminton habe. Er hatte seit Jahren keinen Schläger mehr angefasst, er war in sämtlichen Ballspielen ungeschickt, was er Viktor auch mitteilte. Der sagte, das mache ihm nichts, und er könne ihm gern die Grundtechnik des Spiels zeigen. Er blockte reflexhaft ab, wie er es eigentlich immer tat. Was wollte Viktor? Ihn auflaufen lassen? Zeigen, wie sportlich und toll er war? Aber Viktor blieb beharrlich, und schließlich gab er seinen Widerstand auf. In der Turnhalle zeigte Viktor ihm, wo das Netz verwahrt wurde und wie man es aufbaute. Er erklärte die Linien, die das Spielfeld begrenzten, und die wichtigsten Regeln, dann brachte er ihm bei, wie man den Schläger hielt und wo man sich am besten im Spielfeld positionierte. Der Rest, erklärte er, kommt von allein. Und damit behielt Viktor recht. Trotz des Monsters, in dem er gefangen war, trotz seiner Unbeweglichkeit und seines Ungeschicks machte das Spielen ihm Spaß. Viktor war ein guter Trainer. Er spielte die Bälle so, dass sie für ihn weder unerreichbar waren noch kinderleicht zu returnieren. Nach einer Dreiviertelstunde war er klitschnass geschwitzt und völlig erledigt. Sein Atem flog, sein Herz wummerte. Als er unter der Dusche stand, geschah etwas Unerwartetes. Sein Körper, das Monster, von Endorphinen geflutet, fühlte sich just in diesem Augenblick ausnahmsweise einmal gut und richtig an.
Emil war in vielerlei Hinsicht das Gegenteil von Viktor. Ein gedrungener, dicklicher Junge, der oft verträumt und phlegmatisch wirkte und kaum einmal ein Wort über die Lippen brachte. Gerüchteweise war er in seiner vorherigen Klasse ein Opfer anhaltenden Mobbings gewesen, was sicherlich stimmte, fiese Spitznamen für Emil wie »Fatty McFatface« geisterten schon seit Langem über den Schulhof, und wer, wenn nicht er selbst, wusste, wozu Mitschüler in der Lage waren. Emils Lebensdrama wurde noch drastisch durch den Umstand verschlimmert, dass seine Eltern beide erfolgreiche Profisportler gewesen waren, sein Vater hatte sogar an den Olympischen Spielen teilgenommen und führte nun eine Agentur für Nachwuchsprofis, während seine Mutter eigene Trainingsvideos auf Youtube hochlud und so eine Art Influencerin für sportaffine Frauen über vierzig war. Was für ein Pech die beiden hatten, ausgerechnet so einen trägen Pummel zum Sohn zu haben. Da parkte man ihn doch gern auf einem Internat, bevor er einem die Klienten vergraulte oder die Follower abschreckte. Aber Renée knackte auch den Emil-Code. Schritt für Schritt lockte sie ihn aus der Ecke heraus, in der er sich seit Langem versteckte. Sie lobte, unterstützte, forderte und neckte ihn auf eine liebevolle Art, sodass Emil mehr und mehr Sicherheit bekam und Seiten von sich zeigte, die er vielleicht selbst noch nicht gekannt hatte. Er hatte einen feinen Sinn für Humor, war gut darin, irgendwelche Promis oder auch seine Mitschüler auf sehr witzige Weise zu imitieren, und entpuppte sich im Schwedischunterricht als poetisch begabt.
Am meisten Mitgefühl brachte er selbst jedoch Julia entgegen. An Bulimie zu leiden, den eigenen Körper mit Nahrungsentzug, Fressattacken, anschließendem Erbrechen und exzessivem Sport zu malträtieren, stellte er sich furchtbar vor. Vielleicht konnte er sich deshalb in sie hineinversetzen, weil sie beide Gefangene des eigenen Körpers waren, weil sie beide mit den Dämonen des Selbsthasses rangen; wütend, ängstlich, verzweifelt, rasend, voller Ekel und verletzlich bis ins Mark. Manchmal trafen sich ihre Blicke im Klassenraum, und in Julias Augen fand er einen Abgrund, der ihm auf beklemmende Weise bekannt vorkam. Nietzsche sagte, wer mit Ungeheuern kämpfte, müsse aufpassen, nicht selbst zu einem zu werden, und wenn man zu lange in den Abgrund blicke, blicke irgendwann auch der Abgrund in einen zurück. Es war dieser unsichtbare Draht zwischen ihnen, der ihn dazu brachte, Julia zu fragen, ob sie ihn nicht zum Reiten begleiten wolle. Er hatte im neuen Halbjahr wieder damit begonnen, und Julia hatte in irgendeinem Zusammenhang erwähnt, dass sie als Kind viel geritten war. Sie sagte spontan zu, und von da an verbrachten sie jeden Donnerstagnachmittag zwei Stunden gemeinsam auf dem nahen Reiterhof. Sie mochten einander, aber vielleicht mochte er sie ein kleines bisschen mehr als umgekehrt, auch wenn er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Er war erleichtert, dass Julia nie ihre Bulimie ansprach, denn so fühlte er sich nicht bedrängt, sein eigenes Geheimnis zu lüften.
Der einzige Mensch, der darüber Bescheid wusste, war SUPERGIRL . Dass er es überhaupt gewagt hatte, jemandem die Wahrheit über sich anzuvertrauen, noch dazu jemandem, den er erst seit wenigen Wochen kannte, kam einem Wunder gleich. Bis dahin hatte er sich nicht einmal vorstellen können, jemals mit einem anderen Menschen darüber zu sprechen. Er hatte es sich verboten. Weil es eine Tür öffnete, die er womöglich nie wieder schließen könnte. Weil durch diesen Türspalt ein Lichtstrahl in seine ewige Dunkelheit fallen könnte. Weil die Wärme und Helligkeit dieses Lichtstrahls einen Samen zum Keimen bringen könnten, den er, so tief es nur ging, in sich vergraben hatte. Weil aus diesem Samenkorn etwas sprießen könnte, ein Gewächs, zunächst nur zart und klein. Was aber, wenn es weiterwuchs? Wenn die Wurzeln sich ausbreiteten? Wenn es mit Macht in die Höhe schoss und die Äste ausladend wurden und sich Raum verschafften? Es würde sein wie in dem Märchen von Hans und der Bohnenranke. Es würde kein Ende nehmen, und er würde früher oder später die Kontrolle verlieren. Er würde sich für immer verändern. Er würde endlich er selbst sein. Doch genau das durfte unter keinen Umständen geschehen.
Er tat das Undenkbare, er erzählte es ihr trotzdem. Weil sie anders war als alle, die er kannte. Weil sie diese Magie hatte, Menschen zu öffnen. Weil sie SUPERGIRL war. Er erlebte etwas, das er noch nie zuvor erlebt hatte. Wahre Freundschaft. Er traute sich nicht, es sich selbst einzugestehen, aber er brach seine eigenen Versprechen. Er liebte sie. Er liebte die Klarheit ihrer Gedanken. Er liebte ihr Lachen. Er liebte ihre Radikalität. Er liebte ihre sprühende Lebensfreude. Er liebte, dass ihr vollkommen egal war, was andere über sie dachten. Dennoch war es eine Liebe ohne Begehren.
In freien Stunden verschwanden sie gemeinsam ins Naherholungsgebiet auf Hissö. Sie suchten sich eine Stelle am Ufer des Helgasees, blickten aufs Wasser und sahen der Natur beim Erwachen aus dem Winterschlaf zu. Ein- oder zweimal kifften sie und waren albern, aber meistens saßen sie einfach so da, spuckten die Hüllen von Sonnenblumenkernen ins Wasser und quatschten über Gott und die Welt. SUPERGIRL und er waren gleich alt, aber ihm kam es vor, als ob seine Freundin eine uralte Seele hatte. Wenn es nicht so komisch geklungen hätte, hätte er gesagt, sie sei weise. Wenn sie von ihrer Kindheit erzählte, wurde er auf magische Weise in eine vergangene, abenteuerliche und ihm fremde Welt hineingesogen. Ihr weit verzweigter Familienstammbaum – allein schon der Name regte die Fantasie an – erinnerte ihn an alte Adelsgeschlechter, die Anekdoten ferner und längst verstorbener Verwandter hätten Märchenbücher füllen können. Manchmal glaubte er, SUPERGIRL dachte sich diese Geschichten einfach aus, was für ihn keinen Unterschied machte, er hörte ihr wahnsinnig gern zu, sie war eine talentierte Erzählerin und würde eines Tages, davon war er überzeugt, einmal eine bekannte Schriftstellerin werden. Doch sie schwor beim Grab ihrer Mutter, dass das alles wahr war: die Geschichten von steinreichen Urgroßonkeln, Duellen im Morgengrauen, edlen Pferden und tanzenden Bären.
Wie konnte er jemanden, der ihn an die Hand nahm und in diese großartige Welt eintauchen ließ, so dreist belügen, wie er alle anderen belog? Er konnte es nicht. Also offenbarte er sich ihr. Er war darauf vorbereitet, dass sie sich entsetzt und angeekelt für immer von ihm abwenden würde. Stattdessen nahm sie ihn in die Arme und drückte ihn auf eine Weise an sich, wie er noch nie gedrückt worden war. Er weinte lange, und sie streichelte ihm übers Haar. Irgendwann nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und sah ihn durchdringend an.
»Du kannst so nicht weiterleben«, sagte sie. »Du musst damit aufhören, hörst du?«
Er nickte schluchzend.