Die Frau, die Stina Forss im Kafé de Luxe gegenübersaß und nervös an ihrem Tee nippte, nannte sich Katrin, war Mitte zwanzig, trug eine gewollt asymmetrische Frisur und um den Hals ein Lederband, an dem ein Gitarrenplektrum befestigt war. Als sie Forss’ Blick bemerkte, griff sie danach und hielt es einen Augenblick fest.
»Ein Geschenk meiner Mutter, sie schwört Mark und Bein, dass es von Kurt Cobain kommt und sie es auf einem Nirvana- Konzert ergattert hat, bei dem sie in der ersten Reihe stand.«
»Cool«, sagte Forss und musste an einen ziemlich albernen, aber auch witzigen Spielfilm denken, in dem ein Rockmusiker einem magischen Plektrum hinterherjagte. »Spielst du selbst Gitarre?«
Katrin schüttelte den Kopf.
»Ich habe mal damit angefangen, aber es war irgendwie nicht mein Ding.«
Forss kniff ihr Auge zusammen.
»Dein Ding ist, Naturschutzgebiete vor der Abholzung zu schützen.«
»Unter anderem, ja.« Sie lächelte und entblößte einen Schneidezahn, von dem ein Teil abgebrochen war, was sie gleichzeitig verschmitzt und verwegen wirken ließ. »Wenn ich nicht gerade auf Bäumen sitze, studiere ich Biologie in Lund, Schwerpunkt Leben im Wasser.«
»Stadt, Land, Fluss.«
»Wenn man so will.«
»Wale retten und Robbenbabys.«
Katrin lachte auf.
»Mein Interessenschwerpunkt liegt eher auf Algen und anderen Unterwasserpflanzen. Vielleicht sind das die Nahrungsquellen der Zukunft.«
»Als Sushi okay, aber in meinem morgendlichen Müsli? – Nein, Danke!« Forss zog eine Grimasse, dann wurde sie wieder ernst. »Apropos Danke: Ich finde es super, dass du tatsächlich gekommen bist.«
Bevor sie am Vorabend vom Green Village aufgebrochen war, hatte die junge Frau ihr verstohlen einen Zettel mit ihrer Telefonnummer in die Hand gedrückt.
»Wir müssen uns bei dir bedanken. Was du gestern getan hast, war sehr mutig. Ohne dein Eingreifen hätten uns diese Kerle wahrscheinlich massakriert.«
Forss zuckte lapidar die Achseln.
»Feige Arschlöcher. Große Klappe, nichts dahinter.«
Für einige Momente schwiegen beide, tranken von ihrem Tee, musterten sich. Katrin hatte noch mit keinem Wort angedeutet, warum sie den Kontakt zu ihr gesucht hatte. Sicherlich nicht nur, um sich artig für den polizeilichen Schutz zu bedanken. Aktivistinnen wie sie waren der Polizei gegenüber tendenziell eher misstrauisch eingestellt.
»Du warst gestern nicht zum ersten Mal im Camp«, stellte die junge Frau fest.
»Das stimmt.«
»Bist du eine verdeckte Ermittlerin oder so etwas in der Art?«
»Nein, dann hätte ich gestern vermutlich nicht meine Waffe gezogen, sondern in Kauf nehmen müssen, dass wir alle ordentlich Prügel beziehen.«
»Um jeden Preis die Deckung aufrechterhalten.«
»Undercover ist taff.«
»Hast du schon mal so gearbeitet?«
»Vor dem hier«, sie tippte an ihre Augenklappe, »jetzt wäre es offensichtlich ziemlich witzlos.« Sie drehte ihre Tasse um hundertachtzig Grad. »Ich untersuche den Mord an den beiden Schülern, und ich will das vermisste Mädchen aufspüren.«
»Hast du deshalb die Fotos von den zwei Männern herumgehen lassen?«
»Ja.«
»Sind es Tatverdächtige?«
»So weit würde ich nicht gehen. Aber beide tauchen in der Ermittlung auf. Mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Bei deinem ersten Besuch hast du nach den Wilden Luchsen gefragt.«
»Richtig.«
»Der Typ, den du so angemacht hast, heißt Joakim, ein harmloser Junge, der mit den Luchsen nichts zu tun hat.«
»Das habe ich auch nicht vermutet.«
»Du wolltest auf den Busch klopfen und schauen, was geschieht.«
Katrin war nicht auf den Kopf gefallen.
»Ja«, gab Forss zu. »Was auch funktioniert hat, nur war ich leider nicht schnell genug.«
»Hm.« Die junge Frau trank einen weiteren Schluck und taxierte sie über den Rand ihrer Teetasse hinweg. »Glaubst du, die Luchse haben die beiden Jungen ermordet und das Mädchen entführt?«
»Nein.«
»Aber?«
»Jemand aus der Gruppe könnte etwas gesehen haben, was uns weiterhilft.«
»Wie das?«
»Ihr Zeltlager lag in der Nähe des Tatorts.«
Katrin zog eine Augenbraue hoch. Natürlich war sich Forss der Merkwürdigkeit der Situation bewusst. Eigentlich sollte sie diejenige sein, die hier die Fragen stellte und ihr Gegenüber ausquetschte, nicht umgekehrt. Trotzdem ließ sie der untypischen Vernehmung ihren Lauf. Sie hatte eine Ahnung bekommen, worauf Katrin hinauswollte, und wenn sie damit recht behielt, war es das allemal wert, dafür einige Informationen aus der Hand zu geben.
»Woher wisst ihr überhaupt, wo deren Lager war?«
»Der böse Überwachungsstaat hat seine Augen überall.«
»Aber leider nicht dort, wo die Schüler überfallen wurden.«
Katrin hatte Forss’ sarkastischen Kommentar gekonnt gekontert. Die Frau wurde ihr zusehends sympathischer.
»Zugegebenermaßen nicht.«
Die beiden Frauen sahen einander in die Augen. Beiden war klar, dass es nun überflüssig war, das Gespräch noch weiter in die Länge zu ziehen. Für Katrin war der Zeitpunkt gekommen, um eine Entscheidung zu treffen. Sie war hier, weil sie etwas hatte, das Forss unter Umständen helfen konnte. Die Frage war, ob sie genügend Vertrauen gefasst hatte, um es aus der Hand zu geben. Mach schon, dachte Forss, it’s now or never .
»Rein hypothetisch: Wenn du jemanden aus der Luchs -Gruppe treffen würdest, was hätten sie dann zu befürchten?«
»Rein hypothetisch: nichts.«
»Weil?«
»Weil es mich einen Scheißdreck interessiert, ob diese Leute Pandabären befreien oder Fabrikhallen abfackeln.«
»Habt ihr Bullen nicht so eine Art Pflicht, jeder Gesetzeswidrigkeit nachzugehen, von der ihr erfahrt?«
Forss zuckte erneut die Achseln.
»Du hast mein Wort. Mehr kann ich dir nicht anbieten.«
Ein letztes Mal maßen sich ihre Blicke.
»Gut«, sagte Katrin, »nun gut.« Sie griff nach ihrer Umhängetasche, klaubte ein Buch heraus, klappte es auf, entnahm ihm einen kleinen gelben Zettel und reichte ihn Forss. »Ich teile die politischen Ziele der Luchse, aber ich finde ihre Mittel nicht richtig. Trotzdem würde ich sie niemals ans Messer liefern. Unter der Telefonnummer erreichst du vielleicht eine Frau, die sich Maddy nennen wird. Erkläre ihr, was du willst, aber sag auf keinen Fall, von wem du die Nummer hast! Ob sie dir hilft oder überhaupt mit dir spricht? Keine Ahnung.« Sie stand abrupt auf und warf sich ihre Tasche über die Schulter. »Wer immer die Jugendlichen getötet hat, gehört hinter Gitter. Wirst du den Täter finden?«
»Mörder zu fassen ist überhaupt das Einzige, was ich kann«, entgegnete Forss und lächelte leise. »Aber darin bin ich ziemlich gut.« Als die Tür des Cafés hinter Katrin zufiel, hatte Forss noch immer den würzigen, nicht unangenehmen Geruch der jungen Frau in der Nase. Smells like Teen Spirit, dachte sie.