Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit saß Sara Hjalmarsson der Schulleiterin gegenüber. Die Ereignisse der vergangenen Tage hatten bei Ankarberg deutliche Spuren hinterlassen, Erscheinung und Habitus hatten sich verändert. Die Rektorin war blass, um ihre Augen zeichneten sich Krähenfüße ab, aus ihrem stramm gebundenen Pferdeschwanz hatte sich eine Strähne gelöst und hing verloren neben ihrem schmalen Gesicht, dessen Züge tapfer um Haltung und Kontrolle kämpften. Auf dem Revers ihres Jacketts war ein kleiner, aber deutlich zu erkennender Fleck, der vermutlich von der Schminke stammte, mit der Ankarberg sich für einen weiteren furchtbaren Tag im Internat gewappnet hatte. Kriegsbemalung. Sie wirkt wie eine Frau, dachte Hjalmarsson, die ihre Felle davonschwimmen sieht und nichts dagegen unternehmen kann. Was die junge Ermittlerin über die wenigen schwedischen Internate wusste, war zwar nicht viel, aber ihre Fantasie reichte aus, um sich vorzustellen, dass der Ruf des Sokrates, das nun seit Tagen im Mittelpunkt des nationalen Medieninteresses stand, auf lange Zeit schwer beschädigt sein würde. Wer wollte schon sein Kind auf eine teure Privatschule schicken, deren Schüler während eines Ausflugs ermordet oder schwer traumatisiert wurden beziehungsweise spurlos verschwanden. Die schweren, wenn auch bislang unbewiesenen Anschuldigungen gegen eine verantwortliche Lehrperson hatten die öffentliche Meinung gegen die Schule und damit auch gegen ihre Leitung gewendet, nahezu alle Schlagzeilen stießen ins gleiche Horn, und das Internet vibrierte. Anonyme Kommentare schlugen bereits in offenen Hass um, von der Art, die Bälger reicher Schnösel hätten bekommen, was sie verdienten. Bei der Vorbereitung auf das Gespräch mit Ankarberg war Hjalmarsson auf etwas Interessantes gestoßen. Sie hatte den Namen Sascha Lacko-Grilic überprüft, der, wie es schien, sowohl von der Schulleiterin als auch der Klassenlehrerin bewusst verschwiegen worden war. Überraschung Nummer eins: Hjalmarsson war nach dem Gespräch mit den Schülern davon ausgegangen, dass Sascha ein Junge war, aber es handelte sich um ein Mädchen. Sie hatte die Unterhaltung, soweit sie sich erinnerte, Revue passieren lassen. Es stimmte, dass niemand explizit gesagt hatte, dass Sascha ein Junge wäre. Die Worte auf dicke Hose gemacht waren gefallen, aber im übertragenen Sinn passte das natürlich genauso gut auf ein Mädchen. Überraschung Nummer zwei: Vor sieben Wochen war ein gewisser Enis Lacko-Grilic, belgischer Staatsbürger, wegen Fälschung und Betrugs in Stockholm festgenommen worden. Es war um Diamantenduplikate gegangen, und der Fall hatte landesweit Schlagzeilen gemacht. Der Mann war Saschas Onkel. Wenn die Zeitangabe der Schüler stimmte, war Sascha kurz nach seiner Verhaftung der Schule verwiesen worden. Hjalmarsson glaubte nicht an einen Zufall.
»Wir müssen dringend über die Handys sprechen«, sagte die junge Polizistin, nachdem sie kurze Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht hatten. Sie hatte lange über all die Dinge gegrübelt, die ihr die drei offenherzigen Schüler am Vortag auf dem Schulhof anvertraut hatten.
»Was ist mit den Handys?«
Hjalmarsson seufzte. Spielte Ankarberg noch immer die Naive? Warum legte sie nicht endlich alle Karten offen auf den Tisch? Wem wollte sie denn noch etwas vormachen? Über den Zeitpunkt, an dem es um den Ruf des Internats und die berufliche Zukunft der Rektorin gegangen war, waren sie längst hinaus. Es ging um das Leben eines siebzehnjährigen Mädchens und die Aufklärung eines schweren Gewaltverbrechens. Alles andere war dem nachgeordnet.
»Die Smartphones der gesamten Schülerschaft, die konfisziert sind.«
Ankarberg sah aus, als würde sie die Nase rümpfen, wahrscheinlich nicht um Missbilligung auszudrücken, sondern weil sie ihre Gesichtsmuskulatur nicht mehr unter Kontrolle hatte. Ihre Augenlider flatterten. Sie wirkte wie ein Mensch kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Konfiszierung ist das falsche Wort. Es ist richtig, dass wir bei Sokrates eine restriktive digital policy verfolgen. Die sozialen Medien nur eine Stunde täglich zu nutzen ist eine Selbstverpflichtung der Schüler, die wir erwarten und die unser Elternrat vor einigen Jahren angestoßen hat. Wir fahren damit ausgezeichnet, und unseren Eleven kommt das digital detoxing …«
»Das ist mir ehrlich gesagt völlig egal!« Hjalmarsson war über ihren Ausbruch selbst überrascht. Verstand die Rektorin denn nicht, worauf sie hinauswollte? »Von unserem ersten Gespräch an hieß es, die Handys der vier seien hier in der Schule geblieben.«
»Waren sie ja auch. Bis du sie mitgenommen hast.«
Grundgütiger, wie begriffsstutzig konnte man sein?
»Ja, natürlich habe ich die offiziellen Handys mitgenommen!« Sie zeichnete gestisch Anführungszeichen in die Luft, als säße sie einer Idiotin gegenüber. »Wir haben sie natürlich untersucht. Die Ergebnisse waren ebenso nichtssagend wie die Auftritte der vier in den sozialen Medien. Blass, unpersönlich. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass es hier irgendjemanden an der Schule gibt, der keinen heimlichen Ersatz besitzt und im Netz unter einem Pseudonym auftritt, damit die eigentliche Identität und die wirklichen Interessen diesem repressiven Saftladen hier nicht auf dem Silbertablett serviert werden?«
Die Rektorin starrte sie mit offenem Mund an.
»Aber …«
»Wir reden hier über Teenager. Im einundzwanzigsten Jahrhundert. In einem der am meisten digitalisierten Länder der Welt.«
»Aber …«
Ankarbergs linker Mundwinkel zuckte.
»Das bedeutet, das wir auf der Suche nach den Schülern von unserem wertvollsten Fahndungsinstrument, der GPS - beziehungsweise der Funksignalortung keinen Gebrauch gemacht haben, weil uns der Eindruck vermittelt worden ist, die vier Jugendlichen hätten ihre Handys nicht mit auf die Exkursion nehmen dürfen. Wären wir von dir jedoch über diese verdammte digital policy informiert worden, die eben nicht nur für Exkursionen und Ähnliches gilt, sondern allgemein, dann hätten wir natürlich nach den mit Sicherheit existierenden Zweithandys fahnden können!«
»Aber …«
»Ich will Mathildas Zimmer sehen, jetzt und auf der Stelle!«
»Wie ich gestern bereits sagte, ohne die Zustimmung der Eltern … Ihr Vater hat sich ausdrücklich verbeten, dass …«
Die Augen der Rektorin schimmerten. Das Kartenhaus ihrer Karriere war kurz davor einzustürzen, und sie war sich dessen bewusst.
Hjalmarsson tat, was sie schon vor fünf Minuten hätte tun sollen. Ungeduldig öffnete sie ihre Handtasche, zerrte den Durchsuchungsbeschluss heraus und klatschte ihn auf den Schreibtisch der Rektorin.
»Jetzt«, wiederholte sie, »und auf der Stelle!«