One of those days.
Es gab diese Tage, auch im Leben der gutmütigsten Menschen der Welt, zu denen sich Lasse Knutsson selbstredend rechnete und immer schon gerechnet hatte. Tage, die sich bereits Sekunden nach dem Aufwachen falsch anfühlten. Als hätte der Zuchtmeister Schlaf einen in eine andere Welt entlassen als in die, aus der man am Vortag gekommen war und in der man sich heimisch und gut gefühlt hatte. Tage, an denen man sich an der Türschwelle des Schlafzimmers – das vermaledeite Ding hatte man doch schon vor Jahren abhobeln wollen! – den großen Zeh stieß, bis er blau anlief, weil das eigene Schrittmuster vor Schlaftrunkenheit um wenige, aber entscheidende Millimeter vom normalen Gang abwich. Tage, an denen die werte Frau Gemahlin, die bereits zur Frühschicht aufgebrochen war, aus nicht nachvollziehbaren Gründen die Warmhalteplatte der Kaffeemaschine ausgeschaltet hatte. Tage, an denen der Akku des Tablets just in dem Moment schlappmachte, in dem er, zeitgleich mit dem Verzehr einer liebevoll zubereiteten Käse-Kresse-Schnitte, die Nachrichten lesen und die Posts seiner Kumpel im Netz checken wollte. Tage, an denen der Bund der frisch gewaschenen Jeans spannte. Tage, an denen der Barttrimmer nach halb getaner Arbeit den Geist aufgab, weil er mal wieder den Akku nicht rechtzeitig geladen hatte. Tage wie dieser. Er fuhr zur Arbeit. Auf dem Stammsender im Autoradio lief die morgendliche Hörer-Mitmach-Sendung. Wie immer waren nahezu sämtliche Anrufer wütende Senioren, meistens Männer, die an den Fragen der Moderatorin vorbeimonologisierten: Die Jugend von heute, alles ging den Bach hinunter, früher war alles besser. Und so weiter und so fort. Er schaltete das Radio sofort wieder aus. Sein Zeh pochte. Sein Magen kämpfte mit dem etwas zu großzügig portionierten Brie, und sein Hals kratzte unheilvoll, als sei eine Erkältung im Kommen.
Zwei Stunden später stapfte er auf einen der Container am östlichen Waldrand zu, der als provisorisches Hauptquartier des groß angelegten Sucheinsatzes diente. Hier, unweit des Green Village, lagen die Unterkünfte der Polizeieinheiten, die schon längst wieder abgebaut und weggekarrt worden wären, hätten sich die Ereignisse seit dem Gerichtsurteil nicht überschlagen. Auf die Seite des Containers war, offenbar über Nacht, denn am Vortag war Knutsson die Schmiererei nicht aufgefallen, ein riesiges Hakenkreuz gesprayt worden. Wer machte so etwas, fragte er sich, und was sollte das überhaupt aussagen? Waren das die Waldbesetzer gewesen, die glaubten, dass alle Bullen Faschisten waren? Oder Nazis, denen das Verhalten der Polizei gegenüber den Aktivisten nicht weit genug ging? Rechte Spinner, die ernsthaft daran glaubten, dass die Ordnungsmacht die Suche nach der Tochter ihres Gurus nicht mit der nötigen Konsequenz und Kompetenz verfolgte? So oder so, das Werk von Idioten. Vor dem Eingang der mobilen Baracke blieb er abrupt stehen. Irgendein Vollpfosten hatte einen Zettel mit der Aufschrift situation room an die Tür geklebt. Meine Fresse, dachte er, was ist heute bloß los? Situation room? Ernsthaft? Wir sind hier nicht beim FBI und noch weniger im Weißen Haus! Wir haben hier keine Situation, sondern eine Notlage! Situation? Wenn er einen Apfel aß, war das eine Situation. Wenn er seine Angel auswarf, war das eine Situation. Wenn er sich mit der Smålandsposten aufs Scheißhaus zurückzog und dabei siebzehneinhalb Minuten die Eishockeyergebnisse studierte, war das eine gottverfluchte Situation! Aber hier wurde ein Mädchen vermisst, verdammt noch mal! Hier waren zwei Jugendliche und ein Mann ermordet worden, hier gab es ein schwer traumatisiertes Mädchen und einen Verletzten im Koma! Situation room! Er riss den Zettel ab, zerknüllte ihn, öffnete die Tür, die donnernd hinter ihm ins Schloss fiel, und stapfte hinein. An dem langen Tisch saßen dieselben traurigen Gestalten wie bei der Lagebesprechung am Vortag. Ein Wichtigtuer von der Feuerwehr, einer vom Technischen Hilfsdienst, die Vertreterin der Kommune, der Stockholmer Leiter der zu Suchtrupps umfunktionierten Hundertschaften, Polizeichef Erik Edman und ein junges Pickelgesicht von Missing People. Knutsson warf das Papierknäuel quer durch den engen Raum in Richtung eines Papierkorbs, den er allerdings verfehlte. Er zog den einzigen freien Stuhl zurück, setzte sich und rückte an den Tisch, was ein furchtbares Quietschgeräusch auf dem Kunststoffboden erzeugte. Mit knallrotem Kopf verschränkte er die Arme vor der mächtigen Brust. Sein angestoßener Zeh machte ihn wahnsinnig. Edman, der ihm gegenübersaß, tippte vorwurfsvoll auf seine nicht vorhandene Armbanduhr, was Knutsson geflissentlich ignorierte. Bürokratenbande! Während die hohen Tiere hier artig Worthülsen austauschten, hatte er den halben Vormittag bereits mit handfester Polizeiarbeit verbracht und den Hinweis verfolgt, dass ein Mädchen mit Mathildas Aussehen auf einem Campingplatz in Lessebo gesehen worden war, eine Verwechslung, wie sich leider herausgestellt hatte. Er musterte die Mienen im Raum. Die Stimmung wirkte angespannt. Oder vielleicht eher betreten?
»Was habe ich verpasst?«, blökte er in die unangenehme Stille hinein. Das klang patzig und war auch genau so gemeint.
Edman wand sich auf seinem Stuhl.
Die Frau von der Kommune betrachtete ihre ausgestreckten Fingerspitzen.
Der Feuerwehrheini schien die Wand anzustarren.
Es war Frederik Hector, der Einsatzleiter aus Stockholm, der sich schließlich räusperte und den Mund aufmachte.
»Es sieht nicht gut aus, Lasse. Die Suche mit der Wärmebildkamera hat auch in der vergangenen Nacht nichts ergeben. Meine Männer sind mit nahezu allen Planquadraten durch. Missing People und andere freiwillige Helfer sind bestimmte kritische Gebiete doppelt abgegangen. Die Spürhunde finden keine ergiebigen Fährten. Die zwei Waldseen, die es gibt, sind von Tauchern durchkämmt worden. Wir sind jetzt bei über hundert Stunden und haben nicht die geringste Spur von dem Mädchen. Was das höchstwahrscheinlich bedeutet, weißt du selbst am besten.«
Natürlich wusste er das. Aber etwas in ihm bäumte sich auf. Vielleicht lag es an seinem pochenden Zeh, vielleicht lag es an der seltsamen Apathie im Raum, die ihn provozierte.
»Das heißt?«
Edman übernahm.
»Wenn in den nächsten Stunden kein Wunder geschieht, wird Ingrid heute Nachmittag vor die Presse treten und das offizielle Ende der Suche bekannt geben.«
»Weiß sie das schon?«, bellte Knutsson. Warum sollte er sich Mühe geben, die Wut zu unterdrücken? Er fühlte sich wie ein brodelnder Vulkan.
»Ich habe sie heute morgen noch nicht erreicht, ich dachte, das könntest du möglicherweise …«
Du feige, kleine Memme, dachte er.
»Missing People suchen natürlich weiter«, piepste das Bürschchen mit dem Pickelgesicht. »It ain’t over, ‘til it’s over, nicht wahr?«
Knutsson warf auch ihm einen finsteren Blick zu. Beknackte Amateure! Kalenderweisheiten halfen Mathilda auch nicht weiter. Er atmete tief ein und aus. Nicht um sich zu beruhigen. Eher wie eine Dampflok, die langsam auf Betriebstemperatur kommt. In der rechten Brustseite zog und kniff ihn etwas, ein ungutes Gefühl, das in letzter Zeit immer häufiger auftauchte. Der Stress war Gift für ihn, das wusste er. Aber hier ging es nicht um ihn, hier ging es nicht um einen alten Sack, der in Siebenmeilenstiefeln auf die Pensionierung zumarschierte. Und erst recht nicht um einen Tisch voller lethargischer Kronleuchter. Es ging um ein siebzehnjähriges Mädchen, das nahezu ihr ganzes Leben noch vor sich hatte. Falls sie noch lebte. Dabei war es nicht so, dass er sich den Argumenten der Kollegen völlig verschloss. Theoretisch stimmte alles, was sie sagten. Es sah schlecht aus. Schlechter als schlecht. Er kannte die Statistiken. Der Faktor Zeit war ein Killer ohne Gewissen. Und es war viel Zeit vergangen, viel zu viel Zeit. Die Chance, dass Mathilda noch lebte, war verschwindend gering. Er biss sich auf die Lippen. Kämmte mit den Fingern seinen Bart. Massierte seinen Kinnwulst. Dann wuchtete er seine hundertsechsunddreißig Kilo überraschend agil aus dem Schalensitz des Stuhls, stützte beide Fäuste auf dem Tisch ab und sah einem nach dem anderen mit Zornesfalte auf der Stirn an.
»Sie lebt«, grollte er. Seine Stimme bebte. »Sie lebt, verdammt noch mal, und wir werden sie auch finden!«