Nachdem sich die junge Frau verabschiedet hatte, blieb Stina Forss in dem Café sitzen und wählte die Telefonnummer, die sie von der Aktivistin zugesteckt bekommen hatte. Niemand nahm ab. Sie versuchte es noch einmal, diesmal mit unterdrückter Rufnummer, aber auch das blieb erfolglos. Nachdenklich tastete sie mit der Zungenspitze die Zahnzwischenräume ab. Links oben hatte sich ein Teeblatt hartnäckig festgesetzt. Sollte sie eine SMS schreiben und sich und die Situation erklären? Sie arbeitete mit der Zunge, saugte und drückte, doch das Blatt blieb, wo es war. Ihr kam eine Idee, die so naheliegend war, dass sie sofort hätte darauf kommen müssen. Sie rief Delgado an und gab die Nummer durch. Eine Minute später hatte sie Gewissheit: Es handelte sich leider nicht um einen Vertragsanschluss, sondern um eine Prepaidkarte. Was natürlich ebenso naheliegend war. Also entschied sie sich, doch eine SMS zu schicken. Noch bevor sie den ersten Satz geschrieben hatte, klingelte sie jemand an, die Nummer erkannte sie nicht. War das die Luchs -Frau, die sich von einem anderen Telefon aus meldete? Sie nahm das Gespräch an. Es war die Ärztin, die Julia behandelte. Forss musste unweigerlich an die mit Obst verzierten Gummiclogs denken.

»Kannst du vorbeikommen? Ich denke, hier gibt es etwas, das du dir ansehen solltest.«

»Können wir das nicht am Telefon klären?«

»Ich weiß nicht, wie die Polizei in solchen Fällen vorgeht, aber mein Gefühl sagt mir, dass du es dir wirklich mit eigenen Augen ansehen solltest.« Sie hielt einen Moment inne. »Entschuldigung, mit eigenem Auge, meine ich natürlich.«

»Gib mir eine halbe Stunde.«

Sie schrieb ihre Nachricht zu Ende. Knappe, sachliche Sätze. Die Frau, die sich Maddy nannte, würde sich melden oder eben nicht. Rhetorische Kniffe oder psychologische Spielchen halfen da wahrscheinlich eh nicht. Achtundzwanzig Minuten später stand sie verschwitzt im Eingangsbereich der Klinik. Ein Pfleger brachte sie zu Julias Station. Die Ärztin, die gerade Mittagspause machte, legte ihren angeknabberten Apfel zur Seite und führte Forss in einen Gemeinschaftsraum, der wie eine Mischung aus Malatelier und Holz- und Tonwerkstatt eingerichtet war. An vier der acht Arbeitstische saßen Patienten, darunter Julia. Ihre Mutter war nicht anwesend. Die kleine Gruppe wurde von einem Therapeuten betreut, der einen Kittel und ebenfalls Plastikclogs trug, allerdings ohne Obstsalat. Er befand sich in einem leisen Gespräch mit einem älteren Mann, der einen großen Bogen Papier mit einem Wachsmalstift nahezu vollständig blau angemalt hatte. Sie gingen zu Julias Tisch. Das Mädchen sah kurz zu ihnen auf. Dieses Mal war Forss sich sicher, dass Julia sie wiedererkannt hatte. Etwas war in ihren Augen aufgeblitzt, eine Erinnerung, ein Echo. Das Mädchen wandte sich rasch wieder ihrem Ton zu.

»Wir töpfern«, erklärte die Ärztin, was ein sowohl ziemlich überflüssiger wie eigentlich nicht zutreffender Kommentar war, denn die Einzige, die töpferte, war Julia. Wahrscheinlich steckte dahinter der Versuch, den Raum für ein Gespräch zu öffnen, Kontakt herzustellen und eine Bindung aufzubauen. Die Psychiaterin hatte Forss bereits auf dem kurzen Weg vom Pausenraum hierher berichtet, dass das Mädchen noch immer kein Wort gesprochen hatte. Die Siebzehnjährige bearbeitete mit beiden Daumen energisch einen faustgroßen Tonklumpen. Die Dynamik der konzentrierten Bewegungen stand in einem merkwürdigen Gegensatz zu ihrem verschlossenen Gesicht. Forss fragte sich noch immer, weshalb sie unbedingt hatte herkommen sollen. Solange Julia stumm blieb, war sie für die Ermittlung wertlos. Das klang hart, entsprach aber den Tatsachen. Natürlich wünschte sie dem Mädchen eine baldige Genesung, unabhängig von ihrem Wert als Zeugin, bis es jedoch so weit war, verschwendete sie hier ihre Zeit.

»Toll«, sagte sie und gab sich wenig Mühe, ihren Sarkasmus zu entschärfen.

»Wir haben auch gestern Nachmittag bereits getöpfert, nicht wahr?«

Julia reagierte nicht, dafür regte sich der Kunsttherapeut, als habe er nur auf das Stichwort gewartet.

»Das ist richtig«, sagte er und stand auf, wobei er dem betagten Yves-Klein-Epigonen, der konzentriert weiterarbeitete, ermutigend den Rücken tätschelte. »Dabei ist uns eine wunderbare Arbeit gelungen, nicht wahr, Julia?«

Das kollektivierende Wir schien in der Klinik ebenso verbreitet wie Aussagesätze, die als Fragen verkleidet wurden. Aber geschenkt. Dies war kein Linguistikseminar, sondern eine Mordermittlung.

»Toll«, wiederholte sie.

Die Ärztin und ihr Kollege schienen nun endlich zu bemerken, dass es mit ihrer Geduld nicht weit her war.

»Schauen wir uns Julias Arbeit also an«, sagte der Therapeut und wies auf einen Nebenraum, auf den Forss bisher nicht geachtet hatte. »Ich habe ihre Töpferarbeit zusammen mit den Kunstwerken anderer Patienten über Nacht bereits gebrannt.« Er lächelte, was sich vermutlich auf den Ausdruck Kunstwerke bezog. »Der Brennofen frisst eine Menge Strom, kein Wunder, er fährt ja bis zu tausendzweihundert Grad hoch, und Strom ist nachts deutlich billiger. Außerdem ist der Ofen dann am nächsten Vormittag wieder so weit abgekühlt, dass man ihn öffnen und die Objekte entnehmen kann.«

»Ganz toll.«

»Nicht wahr?« Er lächelte erneut. »Vielleicht hätten wir dich bereits am Vortag informieren sollen, aber Linda«, er warf der Ärztin einen Blick zu, »hatte keinen Dienst, und ich wollte mir von ihr als Verantwortliche das Okay geben lassen.«

Die Angesprochene nickte.

»Genau wie die Polizei haben auch wir unsere Routinen und Dienstwege, und ob es überhaupt hilfreich ist …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. »Ich habe es selbst auch noch nicht gesehen, aber so wie Jon es beschrieben hat …«

»Eine ausdrucksstarke, eine spannende Arbeit!«

Forss begriff den Heckmeck, den das medizinische Personal hier entfachte, noch immer nicht. Sie ärgerte sich. Die Ärztin hatte bisher nicht mehr als vage Andeutungen gemacht. Unter dieser Prämisse hätte Forss gar nicht erst herkommen sollen. Wozu sollte sie sich eine dämliche Vase ansehen? Oder einen selbst getöpferten Aschenbecher? Heutzutage rauchte eh niemand mehr. Und wäre nicht Julias Mutter die richtige Adressatin solcher Sentimentalitäten oder meinetwegen sogar Therapieerfolge? Vielleicht würde sie verzückt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen ob der formgewordenen Fortschritte und des kreativen Potenzials ihrer Tochter, nachdem die Eltern sich in den vergangenen Jahren offenbar nicht allzu sehr um ihre Kinder gekümmert hatten. Aber wer war sie schon, um über die Bindungen und Beziehungen anderer Menschen zu richten, sie, die ungekrönte Königin der einsamen Wölfe?

Das Quietschen der Kunststoffclogs auf dem Kachelboden der Werkstatträumlichkeiten trieb sie in den Wahnsinn. Wie konnten Leute so arbeiten? Endlich standen sie vor dem Brennofen. Der Kunsttherapeut zog sich zwei bereitliegende Ofenhandschuhe an, blickte aufs Thermometer, brummte zufrieden und drehte an einem tellergroßen Rad, das die Tür des wuchtigen, hohen Metallkastens verschloss, und zog sie auf. Forss machte intuitiv einen Schritt zurück, dennoch spürte sie auf dem Gesicht die Hitze, die ihr entgegenkam.

Der Mann griff mit beiden Händen beherzt in den Ofen und drehte sich mit einer gewissen Theatralik zu den beiden Frauen hinter ihm um.

»Vorsicht, heiß!«

Was er wie eine kostbare Krone auf den beiden Ofenhandschuhen hielt, war tatsächlich ein kleines Kunstwerk. Der apfelgroße, nahezu naturalistisch dargestellte Kopf eines Luchses. Sogar die charakteristischen Haarbüschel an den spitzen Ohren waren detailliert herausgearbeitet worden. Das Maul war weit geöffnet, sodass vier große Reißzähne zur Geltung kamen. Ein fauchendes, angriffslustiges Tier. Wäre da nicht die klaffende Schusswunde in der Augenhöhle gewesen, sowie der überaus irritierende Umstand, dass sich die Nase des Luchses in etwas verlängerte, was wie ein erigierter Penis aussah.

»Holy shit« , entfuhr es Forss.

Auch die Ärztin starrte gebannt auf die kleine Skulptur.

»Ich bin weiß Gott keine Freudianerin«, sagte sie, »aber … darf ich?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sie beidhändig nach dem Kopf, hob ihn kurz an, schrie vor Schmerz auf und ließ ihn auf den Boden fallen, wo er in tausend Stücke zersprang.