Die Rektorin begleitete Sara Hjalmarsson in Mathildas Zimmer, was der jungen Ermittlerin nicht gefiel, aber sie konnte es Ankarberg nicht verbieten, denn trotz des gerichtlichen Durchsuchungsbeschlusses hatte die Internatsleiterin immer noch das Hausrecht. Steif und mit verkniffenem Mund setzte sie sich auf das einzige Bett im Raum, das mit militärischer Präzision zurechtgemacht war.

»Keine Zimmergenossin? Sagtest du nicht, Doppelzimmer seien Teil des pädagogischen Konzepts, Stichwort Rücksichtnahme, Kooperation, Persönlichkeitsbildung?«

»Das hat sich in Mathildas Fall so ergeben«, antwortete die Rektorin wie aus der Pistole geschossen. »Eine ungerade Zahl Schülerinnen, da bleibt nach Adam Riese eine übrig.«

Hjalmarsson musterte ihr Gegenüber mit schmalen Augen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass Ankarberg noch immer nicht alle Karten auf den Tisch legte. Die Frau spürte eine Verpflichtung, die über das Wohl des vermissten Mädchens hinausging. Statt die Suche und die Ermittlung kompromisslos zu unterstützen, warf sie der Polizei immer wieder Knüppel zwischen die Beine. Dieses Mal hatte Hjalmarsson mit Delgados Hilfe jedoch ihre Hausaufgaben gemacht. Sokrates gehörte zu Platon, einem der größten Bildungskonzerne des Landes. Dass steuerfinanzierte Schulen überhaupt in privater Hand sein durften, die dann wirtschaftliche Gewinne ohne Obergrenze abschöpfen konnten, war weltweit eine schwedische Besonderheit. Die Zahl der privaten Bildungsanbieter vom Kindergarten bis zum Abitur stieg unaufhaltsam, und auf diese Weise landeten jährlich viele Steuermilliarden bei Aktionären und Risikoinvestoren. Die Standorte der Privatschulen lagen nahezu immer in Gegenden, in denen mit einer Schülerschaft aus ökonomisch starken Elternhäusern zu rechnen war, die Wartelisten waren oft derart lang, dass viele Eltern ihre Kinder schon direkt nach der Geburt anmeldeten. Wer Geld hatte, blieb gern unter sich und seinesgleichen. Dabei waren die privaten Schulen keineswegs besser. Jeder Schüler Schwedens brachte der Schule, auf die er ging, denselben staatlich finanzierten Geldbetrag ein. Eine kommunale Schule steckte den gesamten Betrag in die Ausbildung der Schüler. Eine private Schule, wenn sie nicht wie wenige Ausnahmen von einer pädagogischen Leitidee wie zum Beispiel Waldorf getragen war, wollte Gewinn machen. Also investierte man viel Geld in Marketing und PR , versorgte die Schüler mit schicken neuen Gratislaptops und sparte dafür rigide an anderen Stellen, wie zum Beispiel Unterrichtsmaterialien oder Lehrergehältern, was dazu führte, dass die meisten guten Lehrer an die kommunalen Schulen gingen, wo sie besser bezahlt und auch dringender gebraucht wurden. Denn auch das war eine Folge der zunehmenden Privatisierung: Die sogenannten Freischulen nahmen den herkömmlichen Schulen Schüler weg. Dank des Wartelistensystems und des Umstands, dass sie sich die Schüler handverlesen aussuchen durften, blieben die schwächeren, ärmeren, krankeren, kurz ressourcenintensiven Kinder auf den kommunalen Schulen zurück. Die wegen der sinkenden Schülerzahlen und der in der Folge immer weiter schrumpfenden Budgets nach und nach ausbluteten. Was vor drei Jahrzehnten als gut gemeinte Initiative für mehr pädagogische Vielfalt begonnen hatte, war zu einem marktradikalen Irrsinn mutiert, der bis auf die Aktionäre der großen Schulkonzerne und die Privatschüler, die von der Noteninflation der Freischulen profitierten und sich so den Zugang zu Studiengängen sicherten, für die sie sich sonst nie qualifiziert hätten, eigentlich nur Verlierer kannte. Sokrates war in diesem steuerfinanzierten System insofern eine Ausnahme, als dass die Mehrkosten, die ein nach englischem Vorbild geführtes Privatinternat mit sich brachte, wie Unterkunft, Essen, kostenintensive Freizeitgestaltung der Schüler und der höhere Personalaufwand, von Eltern getragen wurden, die es sich leisten konnten. Hjalmarsson und Delgado hatten herausgefunden, dass nicht nur Jan Adlercreutz viel Kapital in den Platon- Konzern investiert hatte, sondern auch der Ehemann der Rektorin. Für Ankarberg stand also mehr auf dem Spiel als ihre Anstellung.

»Wie lange hat Mathilda schon ein Einzelzimmer?«

»Seit mehr als einem Jahr.«

»Weil es im vergangenen Schuljahr ebenfalls eine ungerade Zahl an Schülerinnen gegeben hat?«

»Richtig.«

Man konnte der Rektorin ansehen, wie sie sich innerlich wand.

»Was ist mit Sascha Lacko-Grilic? Hat sie die Schule nicht erst vor einigen Wochen verlassen? Bevor sie ging, müsste die Zahl der Schülerinnen doch gerade gewesen sein.« Sie lächelte breit. »Nach Adam Riese.«

Ankarbergs Mimik entgleiste in dem Moment, in dem Hjalmarsson den Namen der Schülerin aussprach. Das Lächeln der jungen Polizistin wurde noch eine Spur breiter. Sie hatte ihr Gegenüber gleich mehrerer Lügen überführt. Ankarberg stand mit dem Rücken zur Wand. Für alles Weitere war das eine gute Ausgangssituation.

»Richtig«, entgegnete die Schulleiterin schließlich, »Sascha. An sie habe ich tatsächlich nicht gedacht. Ein Sonderfall.«

»Ein Spezi «, warf Hjalmarsson ein.

Langsam begann das Gespräch, ihr Spaß zu machen.

»Richtig«, wiederholte sich Ankarberg, und ihr gelang das Kunststück, gleichzeitig falsch und verlegen zu lächeln. »Ein Sonderfall, wie gesagt. Sascha hatte ebenfalls ein Einzelzimmer, allerdings aus pädagogischen Gründen.«

Ankarbergs Taktik war leicht zu durchschauen. Lügen wurden durch weitere Lügen gestützt. Die nicht an Ort und Stelle zu überprüfen waren.

»Aus pädagogischen Gründen? Oder haben die Lacko-Grilics für Saschas Einzelzimmer und Fahrkarte in ein bürgerliches Leben womöglich mehr bezahlt als das offizielle Schulgeld?«

Das war zugegebenermaßen ein Schuss ins Blaue.

Doch der entsetzte Gesichtsausdruck ihres Gegenübers zeigte deutlich, dass sie einen weiteren Wirkungstreffer erzielt hatte.

»Wir …«

Die Ermittlerin schüttelte angeekelt den Kopf. Das alles wurde immer schmutziger.

»Als der Nachname unschöne Schlagzeilen machte, flog das Mädchen in hohem Bogen von der Schule, finanzielle Extrazuwendungen hin oder her, schließlich hat Sokrates einen Ruf zu verlieren, nicht wahr? Es ist schließlich Platons Aushängeschild, das Kronjuwel des Unternehmens.« Ankarberg blickte betreten zu Boden. Für weitere Lügen fehlte ihr offenbar die Kraft. Ihre Körperhaltung war die eines kleinen Schulmädchens, das wegen nicht gemachter Hausaufgaben getadelt wird. »Ich will sämtliche Kontaktdaten Saschas, und ich will hier in Ruhe meine Arbeit machen. Allein.«

Ohne ein Widerwort stand Ankarberg auf. Als sie an Hjalmarsson vorbeiging, stockte sie kurz, als wollte sie doch noch etwas einwenden, aber dann war der Augenblick vorüber, und sie verließ mit hängenden Schultern das Zimmer. Hjalmarsson warf hinter ihr die Tür zu und atmete tief durch. Dass Mathilda nur zufällig ein Einzelzimmer bekommen hatte, glaubte sie keine Sekunde, viel naheliegender war der Einfluss des Vaters. Sie machte sich an die Durchsuchung des spartanisch eingerichteten Raums. Hatten die Zimmer von Emil, Viktor und Julia trotz der normierten Ausstattung noch gewisse Rückschlüsse auf seine Bewohner ziehen lassen, wirkte Mathildas Raum so karg und unterkühlt wie eine Klosterzelle. Auf der obligatorischen Pinnwand neben den obligatorischen Hausregeln zwischen den obligatorischen Impressionisten hing eine einzige Karte, ein Geburtstagsgruß mit der goldgefassten Ziffer 17. Sie nahm die Karte ab und las, was auf der Rückseite stand. Alles Gute zum Geburtstag wünschen dir deine Mutter und dein Vater . Kopfschüttelnd befestigte sie die Karte wieder an der Pinnwand. Als Nächstes durchsuchte sie gründlich den Schreibtisch. Überwiegend Schulmaterialien, Bücher, Ordner, Hefte. Einen Laptop oder ein Tablet gab es nicht, auch das gehörte zur digital detox policy der Schule. Meine Güte, sie hätte sich in Mathildas Alter eher aus dem Fenster geworfen, als in einer solchen Einrichtung aufzuwachsen. Oder mit solchen Eltern. Dann erschrak sie vor dem Gedanken. Was, wenn das Mädchen sich … Diese Option hatten sie bisher noch gar nicht in Erwägung gezogen. Warum eigentlich nicht? In Mathildas Schulakte waren die psychischen Probleme doch gut dokumentiert. Sicher, eine Autismus-Spektrum-Störung bedeutete natürlich nicht zwangsläufig, dass Mathilda unter Depressionen, Angstzuständen oder gar Selbstmordgedanken gelitten hatte, aber eine solche Diagnose, immer vorausgesetzt dass sie überhaupt zutraf, erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines Suizids gerade bei jungen Menschen signifikant. Hjalmarsson suchte weiter. In einer Schublade fand sie eine kaputte Sonnenbrille, ein Feuerzeug, eine halb volle Schachtel Zigaretten, Einwegrasierer, Kopfhörer, Rasierschaum, Aftershave, drei verschiedene Tablettendöschen aus weißem Kunststoff, von denen die Etiketten sorgfältig entfernt worden waren, und einen leeren Flachmann aus Edelstahl, den sie ebenso wie die Medikamente in ihre Tasche steckte. Der Inhalt des Kleiderschranks war unauffällig. Jeans, T-Shirts, Sweatshirts, Kapuzenpullover. Keine Kleider, kein Rock, keine Bluse. Schlichter, zeitlos jugendlicher Look. Die Unterwäsche war eher sportlich als chic oder gar sexy. Nichts mit Bordüren, keine Spitze. Dafür etwas Merkwürdiges. War das ein Suspensorium? Sie hatte männliche Reiterkollegen, die einen Tiefschutz benutzten, scherzhaft Eierbecher genannt. Aber als Frau? Neugierig geworden nahm sie Handy aus der Tasche und googelte. Tatsächlich. Tiefschutz für Frauen. Zielgruppe Kampfsportlerinnen. Ergab ja auch Sinn. Ein Tritt in die Weichteile war extrem schmerzhaft, diese Erfahrung hatte sie bei den Nahkampfkursen in der Ausbildung mehrmals machen müssen. Dass Mathilda offenbar einen Kampfsport ausgeübt hatte, war interessant. War es denkbar, dass sie ihre Fähigkeiten in der fraglichen Nacht gegen den Angreifer eingesetzt hatte? Hatte es ihr womöglich das Leben gerettet? Hjalmarsson nahm sich vor, diesen Hinweis später unbedingt weiterzuverfolgen. In einem Regal standen Romane und philosophische Fachbücher. Sie wandte sich dem Nachttisch zu, auf dem eine Leselampe stand, beides waren die gleichen Modelle wie in den anderen Zimmern. Trotzdem fiel ihr etwas auf. Das Kabel der Nachttischlampe war schwarz. Das Kabel, das von der Steckdose hinter den Nachttisch führte, war weiß. Sie trat näher und rückte den Nachttisch ein Stück von der Wand weg. Das weiße Stromkabel verschwand in einem Loch in der Rückwand des Möbels, das schwarze auch. Sie kniete sich hin und öffnete die Nachttischklappe. Eine kleine Wand aus weiteren Bücherrücken. Sie zog so viele heraus, wie sie mit einer Hand fassen konnte. Dahinter befanden sich ein Mehrfachstecker, ein Ladekabel und das dazugehörige Smartphone.