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Ingrid Nyström fuhr aus dem Schlaf. Ihr Herz raste. Traumbilder hallten in ihr nach. Wald. Feuer. Regen. Ein Tier? Nein, eine Maske. Darunter das bleiche Gesicht Mathildas, die Augen geschlossen, tot. Nyström brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren. Über ihrem Kopf leuchteten schwach zwei Punkte in der Dunkelheit, ein roter und ein weißer. Neben ihr summte eine Maschine. Sie lag nicht zu Hause in ihrem Bett neben Anders, sondern sie befand sich im Krankenhaus. Dann fiel ihr alles wieder ein. Die Ohnmacht, die besorgten Gesichter ihrer Kollegen, die Fahrt im Krankenwagen mit Knutsson an ihrer Seite, die Untersuchungen, die atemberaubenden Schmerzen, als die Verbände gewechselt wurden, der Besuch der Familie. Ihre Lieben waren längst wieder gegangen, aber die Schmerzen waren geblieben, wenn auch gedämpft. Dafür schien ihr ganzer Körper zu kribbeln, die Haut spannte unangenehm, und ihre Glieder waren schwer wie während einer Grippe. Die Ärztin hatte sie darauf vorbereitet, cold turkey, denn die Opiate waren augenblicklich abgesetzt und gegen ein anderes Schmerzmittel ausgetauscht worden. Kaum zu glauben, welche Entzugserscheinungen der Körper bereits nach einer Woche entwickelte, auch wenn die Medizinerin prognostiziert hatte, dass sie davon schon am nächsten Tag nichts mehr spüren würde. Sie tastete nach dem Handy. 23.07 Uhr, bis zum Morgen war es noch eine halbe Ewigkeit. Auch wenn sie sich völlig erschöpft fühlte, war sie sich sicher, so bald nicht wieder einschlafen zu können. Nicht bei dem Affen, den sie schob. Meine Güte, wie musste es erst echten Junkies nach jahrelangem Heroinkonsum beim Entzug gehen? Sie schaltete die Nachttischlampe an und richtete mit der Fernbedienung den Kopfteil des Bettes auf. Noch einmal blitzte Mathildas leichenblasses Gesicht vor ihrem inneren Auge auf. Gab es eine realistische Chance, dass das Mädchen entgegen aller Wahrscheinlichkeit noch lebte? Die Frage war schlichtweg nicht zu beantworten. Doch wenn Mathilda tatsächlich noch am Leben war, dann befand sie sich nicht mehr im Lodjurskogen, das sagte ihre fünfunddreißigjährige Berufserfahrung, das sagte der gesunde Menschenverstand. So bitter es für die Angehörigen sein musste und so weh es ihr selbst tat: Die groß angelegte Suche im Wald abzubrechen war die richtige Entscheidung, auch wenn es Nyström rasend machen konnte, dass Edman und Co. sie nicht in die Entscheidung eingebunden hatten. Sie nahm ihr Smartphone und sah sich eine Aufzeichnung der Pressekonferenz an, die ihr Vorgesetzter vor einigen Stunden gegeben hatte. Dass sie nicht zu einer Katastrophe geworden war, war allein Rosanna Lukassons professionellem Geschick zu verdanken. Als das Video geendet hatte, fiel ihr siedend heiß etwas ein: Nach ihrem plötzlichen Blackout kurz vor der Pressekonferenz, die eigentlich sie hatte leiten sollen, hatte vermutlich niemand Mathildas Eltern benachrichtigt. Edman jedenfalls war der Letzte, der an solche Dinge dachte, und ihre Kollegen waren wahrscheinlich davon ausgegangen, dass sie sich längst um die undankbare Aufgabe gekümmert hatte, was sie auch vorgehabt, aber immer wieder hinausgezögert hatte. Verdammt! Das war eine Nachlässigkeit, die nicht wiedergutzumachen war. Sie brauchte keine fünf Sekunden, bis sie die entsprechenden Schlagzeilen gegoogelt hatte. Suche nach der vermissten Schülerin eingestellt – Vater und Politiker Jan Adlercreutz: »Wir erfuhren es zwischen Tür und Angel.« Nyström biss sich auf die Unterlippe, bis sie Blut schmeckte. Mit der schlechten Presse und den Vorwürfen eines kühl kalkulierenden Demagogen konnte sie leben. Was ihr dagegen unter die Haut ging, waren die Gedanken an Mathildas Mutter. Wie musste es der armen Frau gehen? Die Ungewissheit, die Hoffnung, der Schmerz. Und vor allem erbarmungslose Angst. Nyström sah die vor Sorge verhärmten Gesichtszüge der kleinen, unscheinbaren Frau vor sich. Josefine Adlercreutz hatte etwas Besseres verdient als Edmans Phrasen und Nyströms Aufschieberitis. Rückgängig machen konnte sie ihren Fehler nicht, aber sie konnte sich wenigstens dafür entschuldigen. Auch wenn es bereits auf Mitternacht zuging: Sie war sich sicher, dass Mathildas Mutter noch wach war. Angst um das eigene Kind war das stärkste Aufputschmittel der Welt. Doch unter der Handynummer sprang nur eine Mailbox an. Nyström verzog das Gesicht. Hartnäckigkeit war eine ihrer prägnantesten Charaktereigenschaften. Sie loggte sich in die Fallakte ein und tippte und wischte, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Die Festnetznummer der Familie Adlercreutz stand aus nachvollziehbaren Gründen in keinem öffentlichen Verzeichnis. Nach dem zweiten Freizeichen nahm Josefine Adlercreutz den Hörer ab. Sie befand sich also nicht mehr in Växjö, sondern war in ihr Haus in Blekinge zurückgekehrt. Ihre Stimme war leise und klang gleichzeitig aufgekratzt. Nyström kam ohne Umschweife zur Sache. Sie bat für die ausgebliebene Benachrichtigung um Verzeihung, erklärte ihr Fehlen auf der Pressekonferenz, erläuterte so sachlich wie möglich den Beschluss, die Suche im Waldgebiet einzustellen, betonte mit Nachdruck, dass die polizeilichen Möglichkeiten, Mathilda zu finden, damit keineswegs ausgeschöpft waren, sondern dass mit großem Einsatz nach Mathildas Aufenthaltsort gefahndet wurde und es weiterhin Hoffnung gab, sie lebend zu finden. Josefine Adlercreutz hörte ihr geduldig zu, stellte keine Zwischenfragen, erhob keine Vorwürfe, bedankte sich für den Anruf, beendete schließlich höflich das Gespräch und legte auf. Durchaus verwundert blickte Nyström aufs dunkle Display. Das Telefonat hatte keine fünf Minuten gedauert. Die Frau, die sie vor zwei Tagen spät abends vor dem Präsidium abgefangen hatte, um sie anzuflehen, alles dafür zu tun, um das Leben ihrer Tochter zu retten, hatte nun so emotionslos gewirkt, als hätten sie sich über das Wetter unterhalten. War das die Folge von Hoffnungslosigkeit und endgültiger Gebrochenheit? Der Stolz eines gekränkten Menschen? Die Wirkung starker Beruhigungsmittel? Was auch immer, niemand würde es der Frau verdenken. Jeder Mensch hatte einen eigenen Weg, mit schweren Traumata umzugehen. Dennoch war Nyström einigermaßen ratlos. Sie ließ das kurze Gespräch mehrmals Revue passieren. Irgendetwas irritierte sie. Aber sie kam nicht darauf, was es war. Vielleicht lag es nur an ihr selbst, an ihrer tiefen Erschöpfung und dem unsichtbaren Affen auf den Schultern. Resigniert legte sie das Smartphone beiseite, löschte das Licht und wartete vergeblich auf erlösenden Schlaf.