17 

Auf dem Schreibtisch ihres Hotelzimmers hatte Stina Forss die Tatortfotografien wie Spielkarten ausgelegt. Wieder und wieder hatte sie versucht, die auf den Bildern eingefangenen Fakten, die forensischen Auswertungen und die Obduktionsprotokolle mit verschiedenen Theorien der Handlungsabläufe auf der Lichtung im Wald in Einklang zu bringen. Doch wie sie ihre Gedanken auch drehte und wendete, wie sie die Variablen verschob und vertauschte: Nie gingen ihre Patiencen auf. Irgendwann war sie im Sitzen eingenickt. Als sich ihr Handy brummend meldete, schrak sie hoch, mit steifem Nacken und eingeschlafenen Beinen, in die langsam das Blut zurückkehrte. Der Rest Bier in der Flasche auf dem Schreibtisch war längst schal und warm geworden, doch ihr Mund war so trocken, dass sie ihn trotzdem trank. Angewidert verzog sie das Gesicht und massierte ihre kribbelnden Beine sowie den steifen Hals. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in dieser unbequemen Haltung geschlafen hatte. Sofort ausziehen, Zähne putzen und ab ins Bett – sie hätte das schon tun sollen, als sie nach dem ungesunden Abendessen an der Theke des Oxgrillen ins Hotelzimmer zurückgekehrt war. Sie hatte bereits die Zahnbürste im Mund, als ihr träge arbeitendes Hirn aufmuckte und das Ins-Bett-Geh-Programm noch einmal abbrach und sie innehalten ließ. Da war doch was gewesen, vorhin am Schreibtisch. Aber was? Brütend blinzelte sie in den viel zu hell beleuchteten Badezimmerspiegel. Weiß gefärbter Speichel rann aus ihrem Mundwinkel, aber sie nahm es kaum wahr. Was zum Teufel …? Dann fiel es ihr wieder ein. Ihr Handysignal hatte sie aufgeweckt. Das war insofern bemerkenswert, als dass sie das Smartphone auf stumm geschaltet hatte. Mit der Ausnahme von drei priorisierten Nummern. Nyström, Delgado und … Sie spuckte ins Waschbecken, wischte sich den Mund ab, legte die Zahnbürste zur Seite, ging zum Schreibtisch zurück und griff nach dem Handy. Sie hatte eine Nachricht empfangen, der Absender war die Nummer, die sie von der jungen Aktivistin bekommen und unter dem Namen Maddy gespeichert hatte. Hektisch entsperrte sie den Bildschirm und öffnete die Nachricht. Kein Text. Der einzige Inhalt war eine kleine Videodatei. Forss holte tief Luft und drückte auf Play. Die Aufnahme war so dunkel und grobkörnig, dass zunächst außer grauen und schwarzen Schatten nichts zu erkennen war. Die Tonspur rauschte, darüber waren deutlich das Ein- und Ausatmen sowie die gedämpften Schritte eines Menschen zu hören. Ein wackeliges Handyvideo, offenbar nachts gefilmt. Der Atemrhythmus und die abrupt auf und ab hüpfenden dunklen Pixel vermittelten den Eindruck, die filmende Person bewege sich rasch vorwärts. Nach vielleicht einer halben Minute hörte man etwas, das wie das Knacken eines durchbrechenden Astes klang, gefolgt von einem leisen Fluch, einem geflüsterten »Mist«, die Stimme einer jungen Frau. Sie schien innezuhalten, das Grau in Schwarz stabilisierte sich, keine Schritte mehr, die Atemfrequenz wurde langsamer. Schließlich wieder einige langsame Schritte. Stopp. Dann ein plötzlicher Schwenk der Kamera. Es tauchte eine weißlich-bläuliche Lichtquelle im Dunkel auf. Ein vages Schimmern. Der Autofokus des Smartphones arbeitete sich vor und zurück, ließ das Hell-Dunkel abwechselnd körnig und glatt werden, die KI konnte mit den Lichtverhältnissen und abstrakten Formen offenbar wenig anfangen. Dann plötzlich wurde das Bild scharf. Was wie formlose Oberfläche gewirkt hatte, bekam nun Tiefe. Ein klar konturiertes Sujet schälte sich aus dem Unkonkreten. Forss erkannte die Eichenlichtung, die aus einiger Entfernung von schräg oben herab gefilmt wurde. Maddy oder wer auch immer musste sich auf der Anhöhe hinter dem Eichenring aufhalten. Innerhalb des Ringes befand sich die Lichtquelle, eine Art Scheinwerfer, der schräge, scharfe, lange Schatten warf und zwischen den Ästen der Bäume eine Gestalt illuminierte. Das scherenschnittartige, spukartige Panorama ließ Forss an alte Tim-Burton-Filme denken. Die Gestalt hatte einen breiten, kräftigen Rücken, offenbar handelte es sich um einen Mann. Er bewegte sich auf der Stelle. Was tat der da? Der Zoom tastete sich an das gespenstische Szenario heran. Das Bild wackelte jetzt kaum noch, wahrscheinlich wurde das Handy mit beiden Händen festgehalten oder auf einem Felsvorsprung abgestützt, und die unbekannte Filmerin hatte sich hingekniet. Sie atmete jetzt langsamer und gleichmäßig. Für das an- und abschwellende Hintergrundrauschen war vermutlich der Wind verantwortlich. Doch man hörte jetzt auch etwas anderes. Harte, helle Schläge, wie wenn Metall mit großer Kraft auf Stein schlägt. Nun konnte Forss die Bewegungsabläufe des Manns deuten. Mit einem Spaten, vielleicht auch unter Zuhilfenahme einer Spitzhacke, hob er eine Grube aus. Das Loch, in das Ingrid Nyström gefallen war. Der Zoom holte das Geschehen noch näher heran. Für einen kurzen Moment erfasste es den Mann scharf im Profil. Forss hatte das Gesicht noch nie zuvor gesehen. Dann bekam der Autofokus erneut Probleme, und das Bild löste sich wieder in körnige Pixel auf, bevor das Video nach insgesamt knapp anderthalb Minuten endete. Forss sah es sich viermal hintereinander an, bevor sie sich sicher war, nichts Wesentliches übersehen oder überhört zu haben. Die Schlussfolgerungen lagen auf der Hand: Das Filmmaterial hatte Maddy ihr deshalb zugespielt, weil sie damit beweisen wollte, dass die Luchse nichts mit der Grube auf der Lichtung zu tun hatten. Das Loch war, wie Forss von Anfang an vermutet hatte, keine Fallgrube, um sich anrückender Polizisten zu erwehren, sondern etwas anderes. Ein ausgesprochen kräftiger, großer, mittelalter Mann hatte es ausgehoben, höchstwahrscheinlich in der Nacht vor Nyströms folgenreichem Sturz. Warum Maddy überhaupt gefilmt hatte? Forss konnte nur mutmaßen. Die Luchse hatten ihr gut getarntes Zeltlager in kaum mehr als hundert Meter Entfernung zur Lichtung aufgeschlagen. Die hallenden Schläge, die entstanden, wenn der Gräber auf Steine stieß, musste die Aktivistengruppe aufgeschreckt haben. Natürlich wollten sie in Erfahrung bringen, was da im nächtlichen Wald in ihrer unmittelbaren Nähe los war. Begannen die Abholztrupps etwa schon heimlich und illegal mit ihrer schändlichen Arbeit? Wollten sie vor der Verkündung des Gerichtsurteils Fakten schaffen? Klar, dass die Luchse dokumentieren wollten, was da vor sich ging. Begriffen hatten sie das merkwürdige Treiben vermutlich nicht. Forss ging es nicht besser, obwohl oder gerade weil auf der Lichtung seitdem so viel geschehen war. Wer war der Mann? Es handelte sich bei ihm weder um Mikkael Bergfors noch um Pär Ahlström, da war sie sich hundertprozentig sicher. Wer aber war er dann? Und mit welcher Absicht hatte er sich an die mühsame Arbeit gemacht? Ratlos blickte sie vom Handydisplay auf die ausgebreiteten Tatortfotos. Wie sollte die Patience jemals aufgehen, wenn dauernd neue Karten ins Spiel kamen?

 

 

 

 

Es wurde Winter, und es wurde Frühling, ohne dass Matt sein Versprechen eingelöst hatte. »Trau dich«, hämmerte SUPERGIRL ihm regelmäßig ein, »trau dich und mach es.«

Er wollte ja, er wollte es wirklich. Aber im Gegensatz zu Sascha war er kein Superheld. Sie dagegen hätte eine eigene Marvel-Serie verdient gehabt. Sie war mutig, er hatte Angst. Sie war selbstbewusst, er war eine Maus. Sie handelte mit Bestimmtheit, er erstickte an seiner Scham.

»Wie lange soll es so noch weitergehen?«, fragte sie.

»Bald«, sagte er. »Bald.«

Matt hielt sie hin, und beide wussten es.

»Wenn du es nicht tust«, sagte sie, »wirst du sterben. Du wirst dich selbst vergiften. An dir ersticken. Von innen verdorren.«

Sie hatte recht, natürlich hatte sie das.

»Die Politik der kleinen Schritte«, sagte sie eines Tages.

»Wie meinst du das?«

»Du fängst in kleinem Rahmen an. Das hast du bereits. Ich bin Schritt Nummer eins. Die Klasse ist Nummer zwei.«

Saschas grüne Augen funkelten wie Smaragde.

»Ich soll Julia und den Jungs …?«

Emil und Viktor waren eine Sache, doch beim Gedanken, es Julia gegenüber zu gestehen, verspürte er einen Stich. Nein, es waren eher tausend Stiche. Wie würde sie reagieren?

»Warum nicht? Du bist doch sonst moralisch so stringent. Nur bei dieser einen Sache nicht.«

»Weil ich …«

Matt vollendete den Satz nicht. Er vollendete ihn nie.

»Ich gebe dir eine Woche Zeit«, sagte sie und lächelte ihr Gaunerlächeln. »Sonst mache ich es.«

Er wusste, dass sie nicht bluffte. SUPERGIRL bluffte nie. Vielleicht brauchte er wirklich einen kleinen Stoß. Wie ein Zehnjähriger auf dem Dreimeterbrett.

Am nächsten Tag in der ersten kleinen Pause war es so weit. Renée war nicht im Klassenraum, weil sie irgendetwas fotokopieren musste. Da tat er es. Er tat es einfach. Er erklärte es ihnen. Es dauerte keine Minute, dann war alles raus. Er war nicht Mathilda, er war Matt. Einige Momente danach war es vollkommen still.

»Cool«, sagte Viktor dann. »Cool, Mann.«

Emil gab ihm einen Klaps auf die Schulter.

»Brotherhood.«

Julia schenkte ihm eine lange Umarmung.

Alles kribbelte.

Er wusste nicht, wie ihm geschah.

»Siehste«, sagte Sascha und grinste. »War doch gar nicht so schwer. Und jetzt, da die Katze aus dem Sack ist, können wir uns endlich den wichtigen Dingen zuwenden.«

»Wie meinst du das?«, fragte er. Sein Herz raste, der Kopf glühte. Gleichzeitig fühlte er sich frei und leicht, stark und sicher. Wie ein Raubvogel. Wie ein Habicht. Das innere Bild gefiel ihm.

»Ich meine dies hier«, sagte sie mit übertrieben geheimnisvoller Stimme und fischte einen kleinen Gegenstand aus der Hosentasche. Neugierig machten alle vier einen Schritt auf sie zu. Das, was auf ihrer offenen Handfläche lag, sah aus wie ein Würfel.