Sara Hjalmarsson hatte sich auf die Kante von Knutssons Schreibtisch gesetzt, ließ die Beine baumeln und hielt ihm einen Blaubeermuffin entgegen. Beherzt griff er zu.
»Die Dinger sind der Knaller«, sagte er kauend zwischen zwei Bissen. »Selbst gebacken?«
Hjalmarsson lachte auf.
»Das einzige und definitiv letzte Mal, dass ich selbst etwas gebacken habe, waren Pfefferkuchen. Ich war neun oder zehn Jahre alt und wollte meine Eltern beeindrucken, aber ich habe den Namen der Plätzchen wohl etwas zu wörtlich genommen. Meine Güte, die Dinger waren ungenießbar. Nach einem Bissen hatte ich Tränen in den Augen. Meine Eltern haben aus Solidarität ein bisschen mitgeknabbert und sich dann halb totgelacht. Nein, die Muffins sind von Anna. Wir waren kürzlich im Wald, Blau- und Preiselbeeren pflücken. Noch einen Kaffee?«
Sie hielt die Kanne hoch.
»Immer doch. Ruhig randvoll. Danke.« Knutsson trank schlürfend, dann räusperte er sich. »Wie macht sich Anna eigentlich?«
Sie musterte ihn einen Augenblick. Die Frage kam überraschend. Derart persönlich hatten sie sich in dem guten Jahr, das sie nun hier war, noch nie unterhalten. War das überhaupt sinnvoll zwischen Kollegen? Sollte man nicht Arbeit und Privates trennen? Dann kamen ihr die Gedanken vom Vorabend in den Sinn. Dass im Team etwas vor sich ging, das sie nicht begriff, das sie nicht begreifen konnte, weil es um Dinge ging, die sich vor ihrer Zeit ereignet hatten. Schlimme Dinge, wie sie vermutete, ein Trauma, gefolgt von Tabus. Hohe Mauern, über die sie nicht hinwegschauen, verschlossene Türen, die sie nicht öffnen konnte. Vielleicht war es ein Anfang, selbst voranzuschreiten. Irgendwo musste sie schließlich anfangen, sonst würde das Gefühl außen vor zu stehen, nicht richtig dazuzugehören, nie vergehen.
»Du meinst, ob sie noch um Healy trauert?«, fragte sie vorsichtig. Knutsson brummte etwas Unverständliches, das nach Bekräftigung klang. »Ein Teil von ihr sicherlich schon«, sagte sie, nachdem sie darüber nachgedacht hatte. »Ich glaube, dass Menschen so sind. Manche Wunden tragen wir ein Leben lang, und das ist vermutlich auch gut. Aber ein größerer Teil von ihr ist ganz im Hier und Jetzt, fröhlich, frei. Vermutlich liegt das an Albert. Kinder sind pure Gegenwart. Der Kleine braucht sie.« Und nach einer kurzen Pause. »Und vielleicht liegt es auch ein kleines bisschen an mir. Das hoffe ich jedenfalls.«
Knutsson nickte bedächtig.
»Weißt du, sie hat schon auf meinem Schoß gesessen, da war sie so klein.« Er hielt seine Hand einen halben Meter über die Tischkante und lächelte versonnen. »Ein kluges, hübsches Kind, immer schon gewesen.«
Sie beobachtete jede Bewegung seiner Gesichtsmuskulatur. Sollte sie ihn darauf ansprechen? War nun der richtige Augenblick gekommen? Während sie noch darüber nachdachte, lösten sich die Wörter wie von allein aus ihrem Mund.
»Was ist eigentlich los zwischen euch? Zwischen Ingrid, Hugo und dir? Was ist euch geschehen, und warum gibt mir gerade die Chefin so deutlich das Gefühl, kein richtiger Teil des Teams zu sein?«
Knutssons Mund stand offen. Baff sah er sie an. Sie konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Er massierte seine Nasenwurzel. Schließlich seufzte er. Er hatte nicht mit der Frage gerechnet, jedenfalls nicht hier und nicht jetzt.
»Okay«, sagte er, »okay. Ich will gar nicht lange um den heißen Brei herumreden, das würde deine Intelligenz beleidigen.« Wieder seufzte er. »Weißt du, bevor du zu uns gestoßen bist …« Das Telefon läutete. Knutsson machte eine Geste des Bedauerns, dann griff er nach dem Hörer. Das Gespräch dauerte keine Minute. Er legte auf und blickte sie erneut an, diesmal mit einem gänzlich anderen Gesichtsausdruck. »Hast du eigentlich meinen Bericht über den gestohlenen Transporter von dem Aufzugservice gelesen? Du erinnerst dich? Der blaue Wagen, in dem ein Zeuge in Ljungby möglicherweise Mathilda am Steuer gesehen haben will, bloß dass sie wie ein Junge ausgesehen haben soll. Das klang alles ziemlich rätselhaft, auch wenn der Augenzeuge insgesamt einen vertrauenserweckenden Eindruck machte.«
Sie ärgerte sich. War es wirklich nötig, ausgerechnet jetzt das Thema zu wechseln? In dem Moment, in dem endlich alle Karten auf den Tisch sollten?
»Die Dillpizza.«
Fast widerwillig stieß sie die Worte aus.
»Genau! Die war ziemlich gut, allein deshalb hatte sich der Ausflug nach Ljungby gelohnt, auch wenn das Geraune des Kerls von Geistern und Hermaphroditen wahrscheinlich nur heiße Luft war. Jedenfalls ist das Auto wieder aufgetaucht und steht wohl schon seit Tagen auf einem Supermarktparkplatz am Hafen von Trelleborg.«
Obwohl sie kaum zugehört hatte, fingen die Worte ihr Interesse. Ein Gedanke verhakte sich. Die große Aussprache musste warten.
»Von dort gehen die Fähren zum Kontinent.«
»Von dort gehen die Fähren zum Kontinent«, wiederholte Knutsson nachdenklich. »Das muss natürlich nichts heißen, aber merkwürdig ist es schon. Ein Wagen wird in Mittelschweden gestohlen, taucht in einem Gewerbegebiet in Småland auf, rund fünfzig Kilometer von dem Wald entfernt, in dem Mathilda spurlos verschwindet, und steht nun zurückgelassen auf einem Parkplatz an der schonischen Küste.«
»Eine Bewegungsachse«, sagte Hjalmarsson, »von Norden nach Süden. Aber ob das etwas mit unserem Fall zu tun …«
Wieder wurden sie vom Läuten des Telefons unterbrochen, wieder nahm Knutsson achselzuckend ab. Dieses Mal dauerte das Gespräch länger, er stellte knappe Zwischenfragen, nickte mehrmals und kritzelte etwas auf die Schreibtischunterlage. Als er auflegte, blickte er Hjalmarsson bedeutungsvoll an.
»Womöglich trägt die öffentliche Fahndung nach Latitia Ahlström Früchte. Nachdem sie gestern Abend Geld aus einem Automaten in Stockholm gezogen hat, wurde sie dort vor einer halben Stunde beim Betreten der Fähre nach Mariehamn von einem Angestellten identifiziert. Der Mann ist ehemaliger Polizist und für die Security des Fährterminals zuständig. Er ist sich seiner Sache ziemlich sicher und hat sie sofort überprüft. Die Frau hat ihr Ticket allerdings unter einem anderen Namen gebucht und beim Einchecken entsprechende Papiere vorgelegt. Er glaubt trotzdem, dass es sich um Latitia Ahlström handelt.«
»Vielleicht hat sie … darf ich?« Hjalmarsson glitt vom Schreibtisch, schnappte sich Delgados Drehstuhl, rollte neben Knutsson und machte sich am Rechner zu schaffen. Keine zwei Minuten später hatte sie gefunden, wonach sie gesucht hatte.
Knutsson pfiff anerkennend.
»Wir brauchen Computermann gar nicht, wir haben ja dich.«
»Na ja«, wiegelte Hjalmarsson ab, »das sind öffentlich zugängliche Daten, ein Kinderspiel, das jeder Zehnjährige …« Zu spät biss sie sich auf die Unterlippe.
»Schon gut«, winkte Knutsson ab. »Ich weiß es ja selbst. Hauptsache, wir sind einen Schritt weitergekommen. Deinetwegen.« Er klopfte ihr auf die Schulter. Sie war ihm dankbar für seinen Mangel an Eitelkeit. Gemeinsam blickten sie auf den Monitor. Ahlström hatte unter einem Alias eingecheckt, das sich aus ihrem zweiten Vornamen und ihrem Mädchennamen zusammensetzte. »Vermutlich hat sie einen alten Pass oder Führerschein benutzt. So lange liegt die Heirat mit Ahlström ja noch nicht zurück. Jedenfalls legt das Schiff gerade ab und erreicht die finnische Insel am frühen Abend.«
Hjalmarsson pustete sich Ponyfransen aus der Stirn.
»Bist du eigentlich gläubig, Lasse?«
Knutsson gab einen vagen Brummton von sich, der von einer noch vageren Handbewegung begleitet wurde.
»Warum fragst du?«
»Weil ich deine Gefühle nicht verletzen möchte.«
»Da brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«
»Jesus holy fucking Christ«, sagte sie lächelnd und betonte jede Silbe. »Zweimal Fähren ins Ausland, und wir entdecken beides innerhalb von fünf Minuten? Merkwürdige Koinzidenz.«
»Im ersten Fall wissen wir nicht, ob der Wagendieb überhaupt eine Fähre genommen hat, geschweige denn, ob dieser Transporter irgendetwas mit Mathilda zu tun hat«, wandte Knutsson ein und kraulte seinen Bart. »Aber: Auffällig sind die Parallelen schon.« Sie sah ihn erwartungsvoll an und erkannte ein Feuer in seinen Augen, das ihr vorher noch nie an ihm aufgefallen war. »Also gut, Sara, ladies first, Trelleborg oder Mariehamn? Du hast die Wahl.«