Die Ärztin hatte Ingrid Nyström bei der morgendlichen Visite gefragt, wie es ihr gehe. Besser, hatte sie geantwortet und irgendwie ein Lächeln zustande gebracht. Beides war gelogen gewesen, beides Kalkül. Das Zeitfenster war klein. Anna hatte sich für den frühen Vormittag angekündigt, Anders am Mittag. Dazu kam das Pflegepersonal, das sich in engem Takt um Nyströms Zimmergenossinnen kümmerte. Mutter und Tochter, die bei einem Wohnungsbrand beide schwere Verbrennungen erlitten hatten. Es musste also schnell gehen und erforderte ein präzises Timing. Nachdem Anna gegangen war, wartete sie die nächste Versorgungsrunde ihrer stark sedierten Mitpatientinnen ab, zog sich dann vorsichtig die Verweilkanüle aus dem Arm, befestigte die Klettverschlüsse der Fußorthese, stand auf, nahm die Sauerstoffsonde vom Finger und klemmte sie ihrer Bettnachbarin an, schnappte sich ihren Lederbeutel und eine Tasche mit frischer Wechselkleidung, die sie ihre ahnungslose Tochter hatte packen und mitbringen lassen, und humpelte in einem unbeobachteten Augenblick rasch durch den Flur in die Besuchertoilette. Dort zog sie sich an, spähte erneut in den Korridor und verschwand in einem günstigen Augenblick, so schnell es die Krücke zuließ, im Aufzug. Das Taxi, das sie bestellt hatte, wartete bereits im Leerlauf an einem der Hintereingänge des Gebäudes. Bevor der Fahrer Gas gab, wies er sie darauf hin, dass allein die Hinfahrt gute anderthalb Stunden dauern würde und sie mit einem entsprechend hohen Preis zu rechnen habe. Kommentarlos reichte sie ihm ihre Kreditkarte, der komfortable Mercedes fuhr an, und sie wühlte in den Tiefen ihres Beutels, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Sie schluckte zwei Tabletten auf einmal, und als die Wirkung endlich, endlich einsetzte, fühlte sie sich fast wie neugeboren. Die Sechzigerjahrehits, die der Oldiesender ununterbrochen spielte, katapultierten sie in eine Reise in die Vergangenheit. Simon & Garfunkel, Cat Stevens, die Stones . Sie musste an das Zeltlager der evangelischen Jugend in Umeå denken, 1976 war das gewesen, dort hatte sie Anders kennengelernt, zwei Monate später, bei einem weiteren Jugendlager, dieses Mal in Borlänge, hatten sie das erste Mal miteinander geschlafen. Sie lächelte in sich hinein: Seine Haare waren schon damals länger als ihre gewesen, etwas, das sich seitdem nicht verändert hatte. Sie hatte diese Ehe keinen Tag ihres Lebens bereut. Bis auf einen einzigen, kopflosen, für sie selbst völlig überraschend kommenden Ausrutscher vor einigen Jahren war sie ihm immer treu gewesen, hatte ihn nie belogen. Sogar die Todsünde, die selbstgerechte Hinrichtung von Healys Mörder, hatte sie ihm gestanden, wohl wissend, dass sie für immer gegangen wäre, wenn er sie darum gebeten hätte. Er hatte geschwiegen, und sie hatte ihn in dem kleinen Hotelzimmer auf Kreta allein gelassen und den längsten Spaziergang ihres Lebens gemacht, bei ihrer Rückkehr aufs Schlimmste gefasst. Doch statt sie von sich zu stoßen, hatte er sie in den Arm genommen und an sich gedrückt. Sie hatten seither kein einziges weiteres Wort darüber verloren, und sie würde ihm bis zum Ende ihres Lebens dankbar dafür sein. Auch deshalb fühlte es sich schlecht an, jetzt erneut ihn und alle zu hintergehen, die ihr etwas bedeuteten. Doch es musste sein. Gedankenverloren blickte sie aus dem Seitenfenster. Die småländischen Wälder wurden lichter, gaben den Blick frei auf die hügeligen Äcker Blekinges. In der Ferne drehten sich Windkraftrotoren. Die Buchenwälder, die sie passierten, präsentierten ihre Kronen immer noch in stolzem Grün, obwohl nur hundert Kilometer südlich vom Lodjurskogen gelegen, ließ der Herbst hier noch auf sich warten. Nach einem Joan-Baez-Stück, das sie mitgesummt hatte, kamen die Nachrichten. Der Regierungssprecher teilte mit, dass die Steuergruppe des Hochgeschwindigkeitsbahnbaus auf einen Gerichtsgang in die nächste Instanz verzichtete und stattdessen in den kommenden Monaten eine alternative Streckenführung vorstellen werde. Dem Fahrer, der in der vergangenen Stunde stoisch geschwiegen hatte, entfuhr ein grunzender Lacher.

»Was denn?«, fragte Nyström.

Er warf ihr einen kurzen Seitenblick zu.

»Wenn dieses Milliardengrab in zwanzig oder dreißig Jahren tatsächlich irgendwann einmal fertig sein sollte, ist die Welt doch eh längst über den Jordan. Mit der Eisenbahn durch die Apokalypse, ganz toll, das wird wie in diesem koreanischen Science-Fiction-Film.«

Nyström fiel keine Entgegnung ein, mit dystopischen Filmen, noch dazu koreanischen, kannte sie sich nicht aus. Also schwieg sie, sie brauchte die wenige Kraft, die ihr geblieben war, für etwas Wichtigeres. Als nach der Wetterprognose wieder die Musik einsetzte, war sie dafür genauso dankbar wie der Fahrer neben ihr wahrscheinlich auch.