Lasse Knutsson kippelte auf seinem Stuhl und nagte gedankenverloren am Radiergummiende eines Bleistifts. Er hatte den halben Nachmittag mit Telefonaten verbracht, ohne wirklich weitergekommen zu sein. Die Sache war nämlich durchaus knifflig. In anderthalb Stunden würde die Fähre, auf der sich Latitia Ahlström befand, in Mariehamn anlegen. Die Stadt auf der Insel Fasta Åland im Botnischen Meerbusen lag auf halbem Weg zwischen Finnland und Schweden, hatte etwas mehr als zehntausend Einwohner und gehörte zu Finnland, obwohl dort überwiegend Schwedisch gesprochen wurde. Knutsson hatte bereits mit dem diensthabenden Beamten vor Ort telefoniert. Im Rahmen des gängigen Amtshilfeverfahrens reichte der schwedische Haftbefehl, um die Verdächtige festzunehmen. Doch wie ging es dann weiter? Das beschauliche Inselstädtchen hatte schlichtweg keine Personalressourcen, um die Frau auf der nächsten Fähre zurück nach Stockholm zu geleiten. Der finnische Kollege hatte Knutsson vorgerechnet, dass eine solche Aktion mit Hin- und Rückfahrt für einen seiner beiden zur Verfügung stehenden Männer einen zwanzigstündigen Einsatz bedeuten würde. Überstunden, die er anschließend mit zwei dienstfreien Tagen kompensieren müsste, Arbeitsrecht sei Arbeitsrecht, sprich, ein Drittel seiner dreiköpfigen Truppe würde wegen der Häftlingseskorte für zweiundsiebzig Stunden ausfallen. Mit anderen Worten: Amtshilfe in allen Ehren, aber das war unmöglich. Also musste irgendein Stockholmer Kollege die nächste Fähre Richtung Osten besteigen und Ahlström wieder gen Heimat geleiten, wonach sie dann in der Hauptstadt wäre, aber längst noch nicht in Växjö, wo sie dringend verhört werden musste. Aber ein Schritt nach dem anderen, hatte Knutsson gedacht, und Dienststellen abtelefoniert, eine nach der anderen. Die Stockholmer Hochnäsigkeit und Arroganz waren leider kein bloßes Vorurteil. Man blockte ab, hatte Wichtigeres zu tun, es stand kein Personal zur Verfügung, man werde die Anfrage prüfen und sich später melden, Zuständigkeiten wurden verleugnet, es wurde an andere Ansprechpartner verwiesen. In seiner Verzweiflung versuchte er es mehrfach bei dem Stockholmer Einsatzleiter Frederik Hector, der vermutlich bereits auf der Rückreise in die Hauptstadt war – ohne Resultat, der Mann nahm nicht ab. Genauso wenig wie Polizeichef Edman. Das durfte doch alles nicht wahr sein! Bis zum Vortag hatten Hundertschaften nach Mathilda gesucht, und nun gab es angeblich keinen einzigen freien Cop, der eine Verdächtige aus Mariehamn zurück auf schwedischen Boden geleiten konnte? Nach anderthalb Stunden fortwährender Erniedrigungen und einem frustrierenden Gespräch mit einem besonders eitlen Burschen, der ihm ziemlich unverhohlen zu verstehen gab, dass er Småländer für depperte Hinterwäldler hielt, feuerte Knutsson das Telefon in einem Wutanfall an die Wand.
Verdammte Stockholmer, verdammtes Hauptstadtpack!
Als Forss und Delgado mit fragenden und gleichsam besorgten Mienen zu ihm hereinstürmten, saß er schwer atmend, durchgeschwitzt und zitternd auf seinem Schreibtischstuhl. Dabei hatte ihn der Arzt gewarnt: Genau dieser Stress war es, der für sein Herz reines Gift war. Vielleicht war er dem Ganzen einfach nicht mehr gewachsen, vielleicht war es endgültig Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Er schielte auf die Schreibtischschublade, in der sein unausgefüllter Antrag auf Frühpension lag. Forss fühlte seinen Puls und hielt ihm die Hand auf die krebsrote Stirn, Delgado klaubte die Reste des zerbrochenen Telefons vom Boden auf. Irgendwann hatte Knutsson sie davon überzeugt, dass er keinen akuten Herzinfarkt erlitten hatte. Auch wenn es vermutlich kurz davor gewesen war. Er erklärte den beiden das Dilemma mit Ahlström.
»Was ist denn mit deinen Stockholmer Kontakten?«, fragte Delgado Forss.
»Die Landesmordgruppe?« Sie lachte auf, es klang bitter. »Das kann ich dir sagen: Wir haben Besseres zu tun, als eine entlaufene Hausfrau aus Mariehamn abzuholen.«
Delgado warf die aufgesammelten Kunststoff- und Elektroteile in den Papierkorb.
»Wir brauchen ein anderes Narrativ«, sagte er.
»Was soll das denn sein?«, brummte Knutsson, dessen Blutdruck sich langsam wieder senkte.
»Latitia Ahlström ist keine Hausfrau auf der Durchreise, sondern eine Verdächtige in einem Mordfall, wenn nicht sogar in mehreren.« Delgado kniff die Augen zusammen und blickte seine Kollegen abwechselnd an. »Sie hat die Polizei belogen und ist auf der Flucht. Ihre Aussage kann dazu beitragen, ein seit sechs Tagen verschollenes Mädchen zu finden. Womöglich ist sie selbst in das Verschwinden involviert. Sie hat Zugang zu Schusswaffen, und im ausgebrannten Auto ihres ermordeten Manns wurden Teile der Beute eines zwölf Jahre zurückliegenden Raubmords gefunden.«
Forss führte aus, was sie über Magnus Andersson herausgefunden hatten.
»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Knutsson schließlich. »Aber …«
»Trotz Kanonen-Magge ist Ahlström eine Schlüsselfigur dieses Falls«, stieß Delgado mit feurigen Augen hervor, er schien sich an seinen eigenen Worten zu berauschen. »Wir brauchen sie, so schnell es irgendwie geht, in unserem Verhörraum.«
»Das finden wir auch«, sagte Forss. »Aber du hast Lasse ja gehört. Worauf willst du also hinaus?«
Delgado strahlte nun übers ganze Gesicht.
»Hubschraubereinsatz!«