Knutssons Hubschrauberflug nach Mariehamn zu organisieren hatte sich als kniffliger und zeitaufwendiger erwiesen, als Delgado im ersten Überschwang der Idee geglaubt hatte, doch nachdem er eine Stunde am Telefon verbracht und mit dem Staatsanwalt, der stellvertretenden Landespolizeichefin und schließlich auch Edman gesprochen hatte, setzte sich die Maschinerie dann doch in Gang. Wozu gab es schließlich eine Flugbereitschaft, wenn nicht für dringende Fälle wie diese? Als hilfreiches Druckmittel diente der Umstand, dass sich der vermeintliche Anschlag auf Ingrid Nyström dank des Handyvideos zweifelsfrei als etwas gänzlich anderes herausgestellt hatte und weder Edman noch die Verantwortlichen in Stockholm ein Interesse daran hatten, die peinliche, von ihnen aufgebauschte Geschichte, die nun in sich zusammengefallen war, an die große Glocke zu hängen. Ebenso lag es in ihrem ureigenen Interesse, das verworrene Drama im Lodjurskogen , das seit Tagen die Schlagzeilen beherrschte, so bald wie möglich aufzuklären. Also bekam Knutsson seinen Hubschrauber, auch wenn er darüber nicht restlos glücklich schien. Sein nach dem Wutausbruch noch knallrotes Gesicht hatte auf dem Weg Richtung Landeplatz auf dem Dach einen sehr blassen Farbton angenommen. Als das Brummen des Helikopters in der Ferne verklang, machte Delgado sich an das, was er eigentlich zu tun hatte: Magnus Andersson und Daniel Lööv zu finden. Draußen dämmerte es bereits, aber in Argentinien war es gerade mal Mittag. Er versuchte es bei der schwedischen Botschaft. Wo er an eine Frauenstimme mit bezauberndem spanischem Akzent geriet. Aber während er noch darüber sinnierte, ob er ebenfalls in seiner Muttersprache parlieren und einen Flirt über zwölftausend Kilometer, den Äquator und fünf Zeitzonen hinweg wagen sollte, wurde er auch schon durchgestellt, an einen älteren Mann namens Kurt-Åke, der einen nicht zu überhörenden Värmland-Zungenschlag besaß, sich geduldig anhörte, was Delgado zu sagen hatte, und versprach, sich so bald wie möglich zurückzumelden. Es dauerte keine Viertelstunde. In den Archiven der Botschaft gab es genau einen Auslandsschweden mit dem Namen Daniel Lööv. Bei seiner Einreise vor sechs Jahren hatte er eine befristete Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die nach drei Jahren aufgrund einer Festanstellung entfristet worden war. Lööv hatte eine Argentinierin geheiratet und war Vater von Zwillingen. Vor sieben Monaten war er bei einem schweren Autounfall auf einer Dienstreise tödlich verunglückt. Auf Wunsch seiner Familie war er in Argentinien bestattet worden. Delgado bedankte sich für die Auskunft, beendete das Gespräch und ging mit den neuen Informationen zu Forss ins Besprechungszimmer, die über ein Arrangement aus Papieren gebeugt war, auf dem sie mit einem Textmarker konzentriert herumkritzelte. Delgado setzte sich zu ihr und berichtete. Kommentarlos reichte sie ihm einen Ausdruck. Es war ein Artikel aus der Lokalzeitung, zwanzig Jahre alt. Geschichtslehrer legt mit Schüler-Projektgruppe vergessenen Runenstein frei. Er überflog den kurzen Text, dabei sagte das Foto schon alles. Fünf Teenager, allesamt mit Heckenscheren oder kleinen Sägen bewehrt, hatten sich vor dem Stein aufgereiht und blickten stolz in die Kamera. Die Bildunterschrift listete die Namen der beteiligten Schüler auf. Daniel Lööv war der Zweite von links.
»Wie hast du das gefunden?«, fragte er.
»Es gibt da dieses neue, brandheiße Ding namens Internet.«
»Wie sicher bist du, dass es sich um unseren Daniel handelt?«
Sie legte ein Zeitungsfoto daneben, das knapp zehn Jahre älter war und den zweiundzwanzigjährigen Einbrecher nach der Verhaftung zeigte. Die Ähnlichkeit war frappant.
»Die Mutter stammt von hier«, sagte sie. »Weggezogen sind sie, als sie ein zweites Mal geheiratet hat. Da war Daniel fünfzehn.«
»Er kannte also die Lichtung im Wald von einem alten Projekt aus seiner Schulzeit.«
Forss nickte.
»Erinnerst du dich, dass Andersson bei seiner Festnahme verletzt war? Er hat sich beim Aufbrechen der Kasse die Hand verletzt, eine tiefe Wunde, die sich obendrein noch entzündet hat. Wahrscheinlich war er gesundheitlich gar nicht dazu in der Lage, sich mit der Beute abzusetzen. Dazu kommt noch etwas anderes: Ich habe mit einem der Kollegen telefoniert, die damals mit dem Raubmord zu tun hatten. Andersson war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Er war ein notorischer Einbrecher, hatte bereits diverse Strafen abgesessen, und das Ausschalten der komplexen Alarmanlage sowie das Öffnen des hochwertigen Tresors waren eine Art Markenzeichen. Auch wenn sich Lööv damals in der Kneipe nicht um Kopf und Kragen gequatscht und die Ermittler unfreiwillig zu Andersson geführt hätte, hätte die Kripo an der Westküste in den folgenden Monaten trotzdem mehr als ein Auge auf ihn gehabt und ihn auf Schritt und Tritt überwacht. Andersson war clever, sicherlich hat er damit gerechnet und hatte vor, zunächst eine ruhige Kugel zu schieben und zu warten, bis Gras über die Sache gewachsen war. Also hat er seinen jungen Helfer damit beauftragt, die Beute bis auf Weiteres in Sicherheit zu bringen. Das muss geschehen sein, bevor Lööv verhaftet worden ist.«
»Klingt einleuchtend, das gebe ich zu. Aber warum hat Lööv den Schatz nicht ausgegraben, nachdem er seine Haftstrafe verbüßt hatte? Andersson saß doch noch Jahre länger im Knast fest und konnte ihm nichts anhaben.«
»Vielleicht hat er sich nur seinen Anteil geholt. Vielleicht war die Angst vor Kanonen-Magge zu groß. Vielleicht war er einfach ein loyaler Komplize. In den Verhören und während des Prozesses hat er seinen Kumpanen mit keinem Wort belastet. Gaunerehre gibt es selten, aber es gibt sie. Vielleicht wollte er auch einfach mit seinem Gewissen reinen Tisch machen, ein kompletter Neuanfang in einem fernen, fremden Land. Nach dem zu urteilen, was du bei der Botschaft herausgefunden hast, scheint ihm das ja sogar gelungen zu sein, soweit man es aus der Ferne beurteilen kann. Zumindest bis das Schicksal zugeschlagen hat.«
»Karma is a bitch«, murmelte Delgado.
»Bist du jetzt unter die Esoteriker gegangen?«
»Ist nur so ein Spruch, den ich kürzlich irgendwo gelesen habe.« Und zwar als Tätowierung. Auf dem Steißbein einer seiner Dating-Portal-Bekanntschaften. Malin? Marylin? Er seufzte. Es war ja auch völlig egal, außerdem bezweifelte er stark, dass Forss diese Details interessierten. »Auf jeden Fall können wir ausschließen, dass Daniel Lööv, Gott hab ihn selig, in der fraglichen Nacht oder kurz davor oder danach im Lodjurskogen war.«
»Richtig, Andersson ist allein zu Werke gegangen, wie ja auch das Video zeigt. Nun begreife ich auch, warum er zunächst auf der falschen Stelle gegraben hat. Schau!« Sie nahm eines ihrer Papiere, es war eine Skizze des Tatorts auf der Eichenlichtung. »Die beiden Gruben liegen einander genau gegenüber, dazwischen der Runenstein.« Sie raffte Tatortfotos zusammen und fächerte sie auf. »Beide liegen in etwa zweieinhalb Metern Abstand zu den beiden deutlich kleinsten Eichen des Baumkreises. Andersson hatte Löövs Beschreibung, vielleicht hatte er sogar eine Art Schatzkarte, aber die Gegebenheiten vor Ort waren einander dann so ähnlich, dass Andersson erst bei seinem zweiten Versuch Erfolg hatte. Er musste also in der folgenden Nacht noch einmal zur Lichtung zurückkommen.«
»Wo er dann auf die Jugendlichen traf.«
»Und wahrscheinlich auch auf Pär Ahlström.« Sie schüttelte den Kopf. »Trotzdem bekomme ich die Puzzlestücke nicht richtig zusammen. Was macht die Suche nach Andersson?«
Delgado verwendete ein selbst geschriebenes Programm, das sich tiefer und nach anderen Parametern ins Netz fraß als Google und Co. Dass Forss schneller auf den alten Zeitungsartikel über den Runenstein gestoßen war, wurmte ihn ein wenig.
»Ich habe die Maschine mit allem gefüttert, was wir über Magge Andersson haben«, entgegnete er und gähnte. Sein Nacken war steif und seine Schultermuskulatur verkrampft. Sein Körper zollte dem wenigen Schlaf der vergangenen Tage Tribut. »Nun arbeitet sie. So lange könnte ich mir eigentlich ein Nickerchen gönnen.«
Er schielte Richtung Sofa. Forss schüttelte erneut den Kopf.
»Wage es nicht, überhaupt daran zu denken.«
Delgado kniff die Augen zusammen, klappte den Kragen seines Polohemdes hoch und mimte den taffen Privatdetektiv eines Film noir.
»Was machen Sie überhaupt noch hier, Madame Kommissar? Hat sich Ihr Fall nicht längst von allein gelöst?«
»Von wegen allein.« Forss kratzte sich unter der Augenklappe. »Aber klar, wenn ich mich beeile, bekomme ich noch den letzten Zug nach Stockholm.«
»Verdammtes Hauptstadtpack!« Knutssons Stimme zu imitieren gehörte zu seinem Standardrepertoire, dazu schüttelte er die Fäuste wie ein wütender Orang-Utan. Sie mussten beide lachen. Gleichzeitig verspürte Delgado einen Stich. Vielleicht weil es in diesem unbeschwerten Moment fast wie früher war. Damals, als sie ein richtiges Team gewesen waren. Bevor Ingrid Nyström in seinem Beisein einen Mörder mit einem aufgesetzten Kopfschuss getötet und sich alles für immer geändert hatte. Er war selten sentimental, aber jetzt traf es ihn mit Wucht. Die Gedanken an Anette Hultin kamen, ohne dass er sie verscheuchen konnte. Fast zeitgleich mit Forss hatte sie das Team und die Stadt verlassen. Sie hatte sich für ein anderes Leben entschieden. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte das nichts mit Nyström, sondern ganz allein mit ihm zu tun. »Bleib um Himmels willen hier«, sagte er mit einer Stimme, die nun nicht mehr Knutsson parodierte, sondern unfreiwillig rau geworden war.