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Stina Forss und Hugo Delgado saßen im Besprechungsraum. Sie hatte sich aus seinem persönlichen Vorrat an Energydrinks bedient, es schmeckte furchtbar, aber das Koffein tat seine Wirkung. Sie diskutierten Anderssons Abtauchen. Dadurch dass er nach der Entlassung aus dem Gefängnis nicht bei seinem Bewährungshelfer erschienen war, hatte er die juristischen Auflagen verletzt, was im Fall eines verurteilten Mörders zwangsläufig eine Rücknahme der Strafaussetzung zur Folge hatte. Sprich, wenn Andersson aufgegriffen würde, bedeutete das für ihn erneute Haft, dieses Mal dann ohne Aussicht auf eine vorzeitige Entlassung. Er ging also ein enormes Risiko ein. Dafür gab es im Grunde nur eine plausible Erklärung: Er fürchtete, vermutlich zu Recht, dass er in der ersten Zeit unter engmaschiger Beobachtung stehen würde. Weder sein Kompagnon Lööv noch er hatten den Ermittlern oder der Justiz jemals das Versteck des geraubten Schmucks und der wertvollen Uhren verraten, obwohl sie dadurch ihr Strafmaß hätten abmildern können. Was eigentlich nur bedeuten konnte, dass Andersson schon seit seiner Verhaftung vorgehabt hatte, seine Beute nach verbüßter Haft zu bergen. Also hatte er sich so bald wie möglich polizeilicher Überwachung entzogen, um den Preis, sich fortan inkognito bewegen zu müssen, was anstrengender und auch teurer, aber keinesfalls unmöglich war, erst recht nicht, wenn der Zeitraum begrenzt und der Fahndungsdruck vermutlich überschaubar gewesen war. Die hohe Arbeitsbelastung der Polizei war seit Jahren ein Politikum, die knappen personellen Ressourcen mussten nach Dringlichkeit eingeteilt werden. Ein Fall wie der von Kanonen-Magge und dem Schatz aus einem zwölf Jahre zurückliegenden Raub lag auf der Prioritätenliste nicht besonders weit oben, zudem er die Haftstrafe ja bereits abgesessen hatte. Zumindest nicht, bis sich seine Wege auf fatale Weise mit der Schulexkursion von vier Teenagern, ihrem Lehrer und einem Großwildjäger gekreuzt hatten, auch wenn Forss noch immer nicht verstand, wie genau was und wo und in welcher Reihenfolge geschehen war. Fest standen nur die Fakten: zwei ermordete Jungen, der bis zur Unkenntlichkeit verbrannte Leichnam eines Jägers, ein traumatisiertes Mädchen, ein Lehrer im Koma und die verschwundene Mathilda Adlercreutz. Delgado schob Forss einen weiteren Energydrink über den Tisch, Geschmacksrichtung Ingwer-Himbeere. Wer dachte sich so etwas eigentlich aus? Stirnrunzelnd öffnete sie die Dose und schnupperte daran.

»Wollen wir?«, fragte er.

Sie gingen in sein Büro, er machte sich an seinem Rechner zu schaffen, und sie zog einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Was sein Programm aus den Tiefen des Internets gefischt hatte, war auf den ersten Blick mehr Beifang als Beute.

Das Schwarz-Weiß-Foto eines Autos an einer Tankstelle.

Ein Videoschnipsel in Weitwinkeloptik, der Menschen in einem Supermarkt zeigte.

Ein amtlicher Grundbucheintrag.

Delgado ließ die Tastatur klappern. Sie warf ihm einen Blick zu. Diesen speziellen trancehaften Gesichtsausdruck hatte er immer, wenn er sich konzentrierte.

Auf dem Bildschirm lief in einer Schleife die Videosequenz, die kaum länger als drei Sekunden war. Delgado vergrößerte sie, bis sie den ganzen Monitor ausfüllte. Das Bild löste sich in grobe Pixel auf, und alles darauf kippte ins Abstrakte und verlor seine Wiedererkennbarkeit. Er justierte nach, verkleinerte, spielte mit Farbwerten und Kontrasten. In dem Moment, in dem er zufrieden gluckste, erkannte sie einen der Menschen auf dem Filmausschnitt. Magnus Andersson mit einem Einkaufskorb in der Hand.

»Wann und wo ist das?«

»Vor zehn Tagen in einem ICA -Supermarkt in Ljungby.«

»Ljungby? In Ljungby hat Lasses Augenzeuge den gestohlenen Transporter gesehen.«

»Zweimal«, präzisierte Delgado. »Das erste Mal mit einem mittelalten Mann am Steuer, das zweite Mal mit, nun ja, angeblich Mathilda. Mit Bart.«

»Wie kommst du an das Bildmaterial?«

Er zuckte lapidar die Achseln.

»Viele private Überwachungskameras sind gehackt. Die Sicherheitsprotokolle solcher Anlagen sind ein Witz. Schwieriger ist es, an hochwertige Gesichtserkennungssoftware zu kommen und die endlosen digitalen Bildströme, die ihren Weg ins Netz finden, damit zu filtern. Nahezu unmöglich. Deshalb habe ich die Suchparameter recht eng auf Südschweden eingegrenzt.« Er zog einen Mundwinkel nach oben. »Und frag jetzt bitte nicht, ob das legal ist.«

Nun war es an ihr, mit den schmalen Schultern zu zucken.

»Sagen wir so: Ich habe immer schon ergebnisorientiert gearbeitet.«

Er grinste.

»Die Untertreibung des Jahres.«

»Was ist mit dem Foto? Ist das die Rückseite des Transporters?«

»Genau. Hier wurde Andersson das Nummernschild zum Verhängnis.« Die Tastatur klapperte. »Das Bild ist einen Tag nach dem Supermarktbesuch aufgenommen worden, ebenfalls in Ljungby.«

»Er hat von dort aus operiert.«

»Hier sehen wir, warum.«

Delgado vergrößerte das Dokument. Forss las und fasste zusammen.

»Vor zwei Jahren hat ein gewisser Jorge Diaz-Nordbeck in Ljungby ein Mehrfamilienhaus gekauft. Baujahr 1954, vier Wohnungen mit jeweils achtzig Quadratmetern, für 1,4 Millionen. Schnäppchenpreis, selbst für Ljungbyer Verhältnisse. Wahrscheinlich eine ziemliche Bruchbude. Aber wer ist dieser Diaz-Nordbeck?«

Delgado klopfte auf Anderssons Akte.

»Magges Knastbruder. Die beiden haben sich fünfeinhalb Jahre lang die Zelle geteilt.«

Forss pfiff anerkennend und hielt ihm die Faust entgegen. Fist bump. Lächelnd ging er darauf ein. Es fühlte sich fast an wie früher, dachte Forss. Dann war der Augenblick vorüber. Gestern war gestern, und heute ist heute. Delgados flinke Finger flitzten wieder über die Tastatur.

»Unter der Adresse sind zwei Familien und Diaz-Nordbeck selbst gemeldet. Die vierte Wohnung steht also offiziell leer.« Sie tauschten Blicke. »Ich wette fünf zu eins, dass es sich dabei um Anderssons Unterschlupf handelt.«

»Lausige Quote, aber sie reicht mir.« Sie stand auf. »Schnappen wir uns den Mistkerl.«

Delgados Stirn legte sich in Falten, er zögerte.

Sie wusste, was in ihm vorging. Bewaffnete Einsätze waren noch nie sein Ding gewesen. Dass er vor zwei Jahren unfreiwillig Zeuge von Nyströms Kontrollverlust geworden war, hatte es wahrscheinlich nicht besser gemacht.

»Ich …«

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Es ist okay, Hugo«, sagte sie, »wirklich. Ich verstehe das. Ich verstehe dich.« Sie lächelte ihr schiefes Lächeln. »Irgendwo hier im Hause werde ich schon ein, zwei actiongeile Desperados auftreiben.« Sie deutete mit dem Kinn Richtung Bildschirm. »Das war ausgezeichnete Arbeit.«

Er nickte knapp.

»Seit Anette und du weggegangen seid …« Auch dieser Satz havarierte. »Jedenfalls schön, dass du hier bist, Stina.« Handyklingeln unterbrach ihn. Er sah aufs Display. »Das ist Sara«, sagte er und nahm das Gespräch an.