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Der Hubschrauber brauchte bis Mariehamn gut zwei Stunden, für Lasse Knutsson fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an, und der Flug bei ruppigem Wind landete in den Top Ten der schlimmsten Erfahrungen seines Lebens. Wahrscheinlich hatte das auch die Pilotin bemerkt, nach mehreren vergeblichen Anläufen zum Small Talk hatte sie ihm, dem bleichen, wortkargen Passagier, der sich an den Griffen festklammerte, beruhigende Fahrstuhlmusik auf den Kopfhörer gespielt, eine Strategie, die insofern erfolgreich gewesen war, als dass ihm die Schmach erspart geblieben war, sich in die Papiertüte auf seinem Schoß übergeben zu müssen. Dabei mochte er Helikopter, schon seit er ein Kind war. Er liebte die Flugeinstellungen aus Magnum oder die eindrucksvollen Filmszenen, in denen ein ganzes Geschwader Militärhubschrauber plötzlich hinter einer Bergkuppe auftauchte. Aber Kindheitserinnerungen und Filme waren das eine, wirklich in so einem Ding mitzufliegen etwas vollkommen anderes. Als sie schließlich gelandet waren, der Rotor zum Stillstand gekommen war und Knutsson sich umständlich am Sicherheitsgurt zu schaffen machte, klopfte ihm die Pilotin auf die Schulter, und er murmelte beim Aussteigen ein Dankeschön in seinen Bart. Während sie den Tank füllte und alles für den Rückflug vorbereitete, wurde er mit einem Streifenwagen vom Flugplatz zur Polizeiwache gefahren. Als er das kleine Gebäude betrat, schwankte es unter seinen Füßen noch immer, als sei er tagelang zur See gefahren, was vielleicht die bessere Idee gewesen wäre. Nach der Begrüßung und einer Tasse stärkenden Kaffees, den er zweifellos genauso gut gebrauchen konnte wie die Schinkenbrötchen, die man ihm anbot – Vegetarismus schön und gut, aber das hier war ein Notfall, hier war Nervennahrung gefragt, und zwar dringend –, führte ihn der Wachhabende zu einer von zwei Arrestzellen.

»Schön ruhig und beschaulich habt ihr es hier.«

Knutsson nickte anerkennend. Fast wehmütig. Er überlegte, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, wenn er es auf einer kleinen Insel wie Faster Åland verbracht hätte. Wo jeder jeden kannte und ein hoppgenommener Alkoholschmuggler das aufreibendste Erlebnis seiner Karriere als Polizist gewesen wäre. Er dachte an Saltkråkan, Möwengeschrei und ewigen Sommer. Nun, er würde es niemals herausfinden. Und im richtigen Leben war auf der Inselgruppe wahrscheinlich auch nicht immer alles heile Welt. Als hätte der finnische Kollege seine Gedanken gelesen, entgegnete er:

»Wir hatten hier im vergangenen Jahr mehr als tausend Straftaten, Verkehrsdelikte nicht mitgerechnet.«

So viel zu Saltkråkan.

Als die Zellentür geöffnet wurde, blickte ihm Latitia Ahlström nicht in die Augen. Sie saß auf der Kante einer Pritsche und schien in die Betrachtung ihrer Fußspitzen versunken. Knutsson fiel erneut der Kontrast auf: Die imposante rot gefärbte Löwenmähne und das verhuscht wirkende Mäusegesicht. Knutsson seufzte, was ebenso wenig eine Reaktion hervorrief wie eine direkte Ansprache. Nach einem weiteren Seufzer, theatralischer als der erste, setzte er sich in gebührendem Abstand zu ihr auf die Pritsche.

»Du hast mich ziemlich hinters Licht geführt, Latitia, Respekt. Doch ich fürchte, dass wir dieses Mal nicht um die Wahrheit herumkommen.« Er machte eine Pause, ließ die Worte wirken. »Aber das besprechen wir nicht hier zwischen Tür und Angel, sondern ganz in Ruhe.« Sie nickte fast unmerklich. »Okay.« Ächzend stand er auf. Der Zustand seiner Knie war ein Albtraum, kurz schwankte der Raum um ihn herum wieder bedrohlich, doch nach einem Moment verging das unangenehme Gefühl. Er drehte sich zu ihr und hielt ihr die Hand hin. Sie griff danach und ließ sich von ihm hochziehen. Wie weich ihre Haut war. Endlich hatten sie Blickkontakt. Ihr Gesichtsausdruck wirkte unendlich traurig.

»Wir fliegen nach Hause«, sagte er.

 

 

 

 

Im Rückblick war der Moment von Matts Outing gegenüber Julia und seinen Klassenkameraden untrennbar mit dem Würfel verbunden, den Sascha ihnen im Anschluss präsentiert hatte. Der Würfel war kein einfacher Würfel, sondern Teil eines Plans, eines Projekts, ja, eines Manifestes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Sascha zur Anführerin und die anderen drei zu Jüngern, die ihr folgten. Matt tat das schon seit Langem, bedingungslos. Sascha würde auf ewig der Mensch bleiben, der ihn befreit hatte. Die anderen empfanden es sicherlich ähnlich. Sie formte aus einer Handvoll Verlierern eine verschworene Gruppe. Das, was sie ihnen bot, das, womit sie ihre Rolle als spirituelle Führerin legitimierte, war nichts weniger als eine Verheißung. Die Schule, das Internatsleben, die strebsamen Mitschüler, die nicht früh genug erwachsen werden und endlich Geld verdienen wollten, ihre beschissenen Karriereeltern, die Lehrer – mit Ausnahme von Renée –, das ganze verdammte Schweinesystem war »Die Maschine«. Wer der Maschine entkommen wollte, musste sich gegen sie erheben, sie unterlaufen, sie sabotieren. Die Wahl der Mittel blieb jedem Einzelnen überlassen, der Grundsatz lautete, alles ist erlaubt, denn sie waren von nun an Vogelfreie, Guerillas im Kampf gegen das Große und Ganze. Ihr Auftrag lautete Rebellion, und Sascha war ihr Che Guevara. Sie erzog sie um. Sie schulte sie. Sie säuselte und schrie sie an. Sie war eine lebende Propagandamaschine. Sie eröffnete ihnen Horizonte. Vor allem zeigte sie ihnen Filme. Alte Filme. Ferris macht blau. The Breakfast Club. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Das große Fressen. Fear and Loathing in Las Vegas. Peter Pan. Fight Club – »Die erste Regel des Fight Club? – Es gibt keinen Fight Club!« Sie spielte ihnen Pink Floyd vor und Rage Against The Machine. Sie verteilte Essays über Rausch und Hedonismus, Gedichte von François Villon und Novalis, Theaterstücke von Strindberg und Brecht. Matt, der sich immer für einen schnellen Leser gehalten hatte, schaffte mit Mühe ein Viertel der Textmenge, die anderen drei nicht mehr als Bruchteile. Aber darauf kam es auch nicht an. Was Sascha ihnen schenkte, war ein Gefühl. Eine Überzeugung. Ein Versprechen. Die Maschine war der Feind. Die Maschine war Geld und materieller Konsum. Die Maschine war Unterdrückung, Autorität und Faschismus. Um die Maschine zu bekämpfen, musste man sich von ihr befreien. Um sich zu befreien, brauchte es gesellschaftliche Dekonstruktion. Dekonstruktion gelang durch die Orgie und den Rausch. Darauf lief Saschas großer Plan hinaus. Deshalb blieben alle am Ball, deshalb schworen alle auf den Würfel und später auch auf den Wein, denn sie waren die Symbole des Schicksals und der Ausschweifung, die Banner ihrer Befreiung, Tyche und Dionysos, die Göttin der Fügung und der Gott des Genusses. Der Würfel würde fallen, und Wein würde fließen, und sie alle, auch Sascha, würden sich dem Ritual unterwerfen.

Doch bevor es so weit war, brauchte es viel Vorbereitung. Sie benötigten den richtigen Ort, mythisch und alt musste er sein, abgelegen und geheimnisvoll. Sie benötigten die richtigen Zutaten: Alkohol und Gras natürlich, aber auch Ecstasy, Speed oder besser noch Kokain, und irgendetwas Halluzinogenes. Manches konnte Sascha besorgen, aber nicht alles. Julia kannte eine Schülerin aus dem Abschlussjahrgang, die angeblich einen Freund außerhalb des Internats hatte, der so ziemlich alles verdealte. Geld spielte keine Rolle, Viktor hatte Kohle satt und keine Hemmungen, den Geldhahn aufzudrehen. Der richtige Zeitpunkt war schnell gefunden. Im straff getakteten Internatsleben gab es eigentlich keine Lücken, die groß genug waren, um den Plan in die Tat umzusetzen. Mit einer Ausnahme: der letzte Schultag vor den Sommerferien, an dem sich das Sokrates alljährlich in einen chaotischen Taubenschlag verwandelte. Die meisten Schüler reisten im Laufe des unterrichtsfreien Nachmittags ab, Elternautos, Taxis und Busse fuhren vor, sammelten Zöglinge und Koffer ein und verschwanden mit ihnen in den mehr oder weniger verheißungsvollen Sommer. Es gab aber jedes Jahr ein gutes Dutzend Schüler, die aus familienorganisatorischen Gründen ein oder zwei Tage länger blieben. Die Besetzung des Internats wurde dann auf ein Minimum hinuntergefahren, außer der Köchin und dem Hausmeister, der angeblich sehr stolz darauf war, seit vierzehn Jahren nicht mehr außerhalb des Gebäudes genächtigt zu haben, wurde meistens nur irgendein Hilfslehrer zum Bleiben verdonnert, um den Schein pädagogischer Betreuung auch an diesen sogenannten Arme-Schweine-Tagen zu wahren. Kurzum: Die Nacht vom letzten Schul- auf den ersten Ferientag war für die Pläne der Verruchten Fünf oder Diener Tyches, wie sie sich untereinander scherzhaft nannten, ideal. Jeder von ihnen brauchte nicht mehr als einen plausiblen Vorwand, warum er einen Tag später nach Hause kommen würde, was niemandem ernsthafte Probleme bereitete. Selbst Emils Mutter, seiner Schilderung zufolge der misstrauischste Mensch der Welt, schluckte die Geschichte einer Klassenparty zum Schuljahresabschluss, was ja genau genommen nicht einmal gelogen war. Ihre Planungen liefen auf Hochtouren, und sie arbeiteten die Liste mit Erledigungen konsequent ab. Sie hatten den Alkohol und die Drogen. Die Sache mit den Masken und Kostümen war Julias Idee gewesen. Viktor übernahm auch diesen teuren Posten großzügig, auch wenn zu spüren war, dass sich zwischen den beiden seit einigen Wochen etwas verändert hatte und abgekühlt war, was aber, wie beide auf Saschas kritische Nachfragen hin beteuerten und sogar feierlich schworen, das Fest, mit allem, was es beinhaltete, nicht verkomplizieren würde. Vielleicht war es sogar einfacher, wenn die beiden kein Paar mehr waren. Tyche und Dionysos ließen keine Eifersüchteleien zu, was Sascha ihnen allen wieder und wieder eingebläut hatte. Sie hatte mittlerweile auch den perfekten Ort ausgekundschaftet, den überwucherten Friedhof einer verlassenen Kirche, die zwanzig Kilometer entfernt im Nirgendwo lag und mit Fahrrädern in etwas mehr als einer Stunde zu erreichen war. Alles lief nach Plan, bis Emil eine knappe Woche vor Tag X in einer Sportprüfung am Barren unglücklich abrutschte und sich das Schlüsselbein brach.