Hugo Delgado suchte Tatortfotos heraus, auf denen Viktor und Emil zu sehen waren. Alle vier hatten unmittelbar denselben Eindruck. Die Rüschenhemden der toten Jungen, so blutbefleckt und verschmutzt sie auch waren, wirkten identisch mit dem Exemplar, das an der Wäscheleine im Garten der Familie Adlercreutz hing.

»Sie ist tatsächlich da gewesen.« Forss sprach aus, was kaum noch von der Hand zu weisen war. »Mathilda hat die Nacht überlebt und ist zu Hause in Blekinge gewesen.«

Delgado suchte die Kopie der Quittung des Londoner Kostümladens heraus.

»Drei Hemden, drei Westen, drei Hosen.«

Hjalmarsson blätterte in einem Aktenordner.

»Jan und Josefine Adlercreutz waren in der Tatnacht und am folgenden Tag im Urlaub, eine Woche Wandern in Dalsland. Als das Internat sie informiert hat, sind sie von dort aus direkt nach Växjö gekommen.«

»Wenn ich Ingrid richtig verstanden habe«, sagte Forss, »ist Mathildas Mutter erst vor zwei Tagen nach Blekinge zurückgekehrt. Ihr Vater hält sich noch immer in der Villa eines Parteifreunds hier in der Stadt auf.«

»Ist es möglich«, fragte Knutsson, »dass die Mutter Bescheid weiß, der Vater aber nicht?«

»Oder er zieht seit Tagen die ganz große Show ab«, sagte Delgado. »Dem Typen traue ich alles zu.«

»Zweifellos schlägt er aus der Sache politisch Kapital«, sagte Hjalmarsson. »Aber wenn wir noch mal Mathildas Perspektive einnehmen: Was für ein Dilemma muss sie durchleben. Mit Jan Adlercreutz als Vater kann sie sich nicht outen, ohne die Karriere ihres Alten, ohne die ganze Familie zum Implodieren zu bringen. Es muss furchtbar gewesen sein, so aufzuwachsen. Ein unerträglicher Druck.«

Delgado sah sie an.

»Wie war es für dich? Falls ich das fragen darf?«

»Was? Mein Outing?«

»Ja.«

»Ziemlich okay. Ich glaube, ich wusste irgendwie schon immer, wer ich bin. Und meine Eltern auch. Sie waren nett. Sie sind nett. Irgendwann mit vierzehn hatte ich meine erste Freundin, und damit war es offiziell. In der Schule haben zwei, drei Mitschüler ätzend reagiert, aber das war es dann auch schon. Aber auch jenseits eines wohlgesinnten Umfelds gibt es einen entscheidenden Unterschied: Für mich fühlte sich alles richtig an. Jemand, der trans ist, lebt dagegen im falschen Körper. Der Leidensdruck ist immens, erst recht in der Pubertät. So viel zu Mathildas vermeintlicher Autismusdiagnose.«

Wieder blitzten ihre Augen. Delgado konnte die Wut seiner jungen Kollegin nachvollziehen.

»Ein falsches Leben im Falschem«, sinnierte er. »Frei nach Adorno.«

»Du und deine komischen Musiker«, polterte Knutsson. »Können wir nicht bitte einmal beim Thema bleiben?«

Delgado verkniff sich eine Replik. Die Müdigkeit im Raum lähmte das Denken und ließ sie alle dünnhäutig werden. Trotzdem durften sie jetzt nicht lockerlassen. Mathilda schien am Leben zu sein. Das war gut. Dennoch hatten sie immer noch unzählige lose Fäden in der Hand. Wenn sie jetzt nachließen, würde sich der Knoten vielleicht unentwirrbar zuziehen.

Forss räusperte sich, ihre Stimme war heiser und rau.

»Ob falsch oder richtig – feststeht, dass Mathildas Leben, wie sie es kannte, in jener Nacht ein jähes Ende fand. Zwei ihrer Mitschüler starben, vermutlich direkt vor ihren Augen. Ein paar Stunden später sitzt sie am Steuer des Wagens eines Schwerverbrechers und bricht nach einem Zwischenstopp zu Hause in ein neues Leben auf? Tut mir leid, wenn ich die Spielverderberin gebe, aber dazwischen klafft eine Lücke, mit der ich mich schwertue. Was geschieht mit Magnus Andersson? Welche Rolle spielen Pär Ahlström und Mikkael Bergfors?«

»Okay«, sagte Delgado. »Ein Schritt nach dem anderen.«

Für einige Augenblicke wurde es so still im Raum, dass man das Prasseln der feinen Regentropfen hörte, die der Wind gegen das Fenster drückte.

»Welche Maske hatte Emil noch gleich auf?«, fragte Knutsson schließlich.

»Er war der Luchs«, antwortete Delgado und betrachtete auf einem der Fotos die zerfetzten Latexreste auf dem Schädel des Jungen.

»Latitia Ahlström hat mir auf dem Rückflug von Mariehamn einiges erzählt. Ihr Mann ist in der fraglichen Nacht nach Lodjurskogen gefahren, um einen der Luchse zu schießen, bevor die Rodungsmaschinen loslegen und die Tiere womöglich aus ihrem Habitat verdrängt werden. Sie sagte, er wäre in vielerlei Hinsicht kein Mann gewesen, der Rücksicht auf Gesetze oder seine Mitmenschen genommen hätte. Mit anderen Worten: Er hat sie regelmäßig schwer misshandelt. Als er nicht wieder nach Hause kam, hat sie zunächst nicht gewusst, wie sie sich verhalten soll. Es ist schon vorher vorgekommen, dass er tagelang weg war, ohne sich zu erklären. Wenn er dann schließlich doch wieder nach Hause gekommen war, ging es umso gewalttätiger zur Sache. Sie sagt, sie war wie gelähmt vor Angst und hat darum gebetet, dass er diesmal nicht zurückkehrt. Als ich dann bei ihr aufgetaucht bin und sie verstanden hat, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach tot ist, ist sie überstürzt und kopflos aufgebrochen. Paradoxerweise in dem Moment, in dem sie nichts mehr zu befürchten hatte. Wir kennen ähnliches Verhalten von anderen Missbrauchsopfern.«

»Moment, du meinst Pär Ahlström hat statt eines Luchses versehentlich Emil erschossen?«, fragte Delgado. »Ein erfahrener Jäger wie er?«

»Er war hundertvierzig Meter entfernt, befand sich außerhalb des Eichenrings, was sein Sichtfeld stark beengt haben dürfte«, sagte Forss. »Der Mond schien zwar, aber es war auch vereinzelt wolkig. Die Schüler haben mithilfe von Trockeneis auf der Lichtung künstlichen Nebel erzeugt. Emil befand sich, als der Schuss fiel, auf der vom Schützen aus gesehen anderen Seite des Runensteins. Wenn die drei auf dem Boden saßen – Viktor war zu diesem Zeitpunkt bereits an die Eiche gefesselt –, kann es gut sein, dass Ahlström von seinem Standpunkt aus im Visier seines Zielfernrohrs nur Emils Kopf mit den charakteristischen Luchsohren gesehen hat.«

»Seiner Frau zufolge war er ein notorischer Trinker«, fügte Knutsson an. »Wenn er jagen gegangen ist, waren seine Flachmänner immer dabei.«

»Verdammt«, sagte Hjalmarsson leise. »Ein besoffener Jäger? So trivial?«

»Jagdunfälle passieren«, sagte Knutsson, »selbst nüchternen Jägern und bei Tageslicht. Ich war einmal bei einer Elchjagd dabei, als jemand aus Versehen auf den Jagdhund …«

»Selbst wenn es Emils Tod erklären würde und als Folge davon vielleicht auch Julias Trauma«, unterbrach ihn Delgado, »so sind da immer noch Viktor, Mathilda und ihr Lehrer. Viktor war an einen Baum gefesselt, jemand hat ihm die Kehle durchgeschnitten. Das riecht für mich nach Folter, und es lässt sich nicht mit einem angetrunkenen Jäger wegerklären.«

»Niemand erklärt hier etwas weg«, sagte Knutsson mit Bestimmtheit. »Wir strukturieren und rekonstruieren. Dazu gehört nun mal eine Prise Spekulation, Computermann.«

»Ich mag Fakten«, entgegnete Delgado.

»Na schön, ein Faktum: Irgendwann kommt Magge Andersson ins Spiel«, sagte Hjalmarsson. »Spekulation: vermutlich nach Emils Tod. Er muss auf die Lichtung, um seinen Schatz zu bergen. Nur dass dort mittlerweile der Teufel los ist.«

»Aber ist dort überhaupt der Teufel los?«, fragte Forss. »Versetzt euch in die Schüler hinein. Ihr seid high. Ihr feiert. Ihr fummelt in verschiedenen Konstellationen aneinander herum. Es kommt sogar zum Geschlechtsverkehr. Und plötzlich fällt ein Schuss, und eurem Kumpel direkt neben euch wird in den Kopf geschossen. Wie reagiert ihr?«

Knutsson und Delgado verschränkten gleichzeitig die Arme vor der Brust und lehnten sich in ihren Stühlen zurück.

»Abhauen«, sagte Hjalmarsson. »Ich würde aufspringen und davonlaufen. Am Ende sind wir tief in uns alle noch Tiere, Flucht gehört zu unseren Grundinstinkten.«

Sprach die Pferdefrau. Wahrscheinlich hat sie recht, dachte Delgado.

Knutsson nickte.

»Aber was ist mit Viktor?«, fragte Delgado.

»Viktor kann nicht fliehen«, sagte Forss.

»Aber warum sollten die anderen drei Viktor überhaupt fesseln?«, fragte Delgado, der jetzt die Rolle des Skeptikers einnahm. Was gut war. Jede Theorie taugte nur so viel, wie sie kritischen Fragen standhielt.

»Flaschendrehen?«, schlug Hjalmarsson vor. »Wahrheit oder Pflicht? Fesselspielchen?«

Knutsson nagte an seinem Daumennagel.

»Ahlström schießt, Emil stirbt, die Mädchen rennen um ihr Leben, aber Viktor kann nicht weg«, sagte er. »Ahlström merkt spätestens jetzt, was er angerichtet hat. In dem Moment betritt Andersson die Lichtung. Der Schuss hat ihn alarmiert. Er findet einen toten Jungen vor, ein weiterer steht da an einen Baum gefesselt, brüllt oder wimmert und starrt ihn in Todesangst an. Was macht Andersson? Er will seinen Schatz. Was er nicht will, ist ein Zeuge, der ihn für den Mörder seines Freundes hält. Der sich irgendwann losmachen und die Polizei alarmieren kann. Er steht unter Zeitdruck, ist wahnsinnig angespannt. Nachdem er in der Nacht zuvor gescheitert ist, weil er an der falschen Stelle gegraben hat, ist dies der Moment, in dem sich sein weiteres Leben entscheidet. Aber irgendwo in unmittelbarer Nähe versteckt sich ein bewaffneter Unbekannter im Wald. Was tut er? Ein Mann, der schon mindestens einmal einen Menschen getötet hat, der ihm im Weg stand.«

»Skrupellos wie er ist, durchtrennt er dem Jungen die Kehle«, sagte Forss. »Für ihn ist es ein Fragezeichen weniger. Dann gräbt er seine Taschen aus, die so schwer sind, dass er sie nicht auf einmal zu seinem Auto schleppen kann, was heißt, dass jeweils ein Teil seiner Beute unbeaufsichtigt bleibt. Ahlström, der durch den Wald stolpert, stößt entweder auf dem Parkplatz, auf dem sein Wagen und vermutlich auch Anderssons Transporter steht, oder auf der Lichtung auf eine Tasche voller Schmuck und teurer Uhren und erkennt seine Chance. Doch bevor er mit seiner Beute wegfahren kann, erwischt ihn Andersson, tötet ihn und verbrennt ihn in seinem Auto. Der Goldklumpen in dem ausgebrannten Wagen? Ein Schmuckstück, das Andersson übersehen hat.«

»Was ist mit dem Lehrer?«, fragte Delgado.

»Der ist wieder aufgewacht und sucht seine Schüler«, sagte Hjalmarsson. »Der Schuss gibt ihm einen räumlichen Anhaltspunkt. Er findet die Waffe, die Ahlström irgendwo fallen gelassen hat, und hebt sie auf. So kommen seine Fingerabdrücke darauf. Er geht weiter, bis er auf den Jäger oder auf Andersson trifft. Es kommt zu einem Handgemenge, in dem Bergfors das Gewehr entrissen und er damit niedergeschlagen wird.«

Delgado nickte anerkennend.

»Und Mathilda?«

»Die einzige Erklärung, die mir einleuchtet, ist folgende«, sagte Forss. »Julia und … – ich bleibe der Einfachheit halber mal beim sie  – verlieren sich, falls sie nicht schon direkt in verschiedene Richtungen weggelaufen sind. Mathildas Flucht führt sie schließlich auf den Parkplatz, auf dem Andersson und wahrscheinlich auch Ahlströms Autos stehen, vermutlich ist sie einfach irgendeinem der Pfade gefolgt. Ob aus Tollkühnheit, Naivität, Intuition oder schierer Verzweiflung: Sie versteckt sich im Laderaum von Anderssons Transporter.«

»Die Einrichtung im Laderaum des Sprinters gibt das her«, fügte Hjalmarsson an. »Auf beiden Seiten sind Regale montiert, unter die man kriechen kann. Ich meine, mich auch an eine Decke oder Malervlies oder etwas in der Art zu erinnern. Ich habe Fotos gemacht, Moment.« Sie holte ihr Handy hervor, suchte die Aufnahme und zeigte sie herum. »Mathilda ist klein. Außerdem ist die Innenbeleuchtung defekt.«

»Andersson fährt mit seinem blinden Passagier an Bord zu seinem Unterschlupf im Industriegebiet in Ljungby«, sagte Forss. »Als er die Tür zum Laderaum öffnet, erwartet ihn die Überraschung seines Lebens.«

»Er bekommt mit einem der Werkzeuge eins übergezogen«, schlug Hjalmarsson vor und lächelte leise vor sich hin.

»Und da steht Mathilda dann in irgendeiner heruntergekommenen Garage«, fuhr Forss fort. »Andersson ist außer Gefecht gesetzt, bewusstlos geschlagen oder tot. Die Gruppe, in der sie endlich etwas Halt gefunden hat, gibt es nicht mehr. Zwei ihrer Freunde sind tot. Sogar sie selbst hat möglicherweise getötet, wenn auch aus Notwehr. Sie steht unter Schock. Ihr erster Impuls führt sie nach Hause. Der Wagen hat eine Automatikschaltung, auch wenn sie kaum Auto gefahren ist, bekommt sie das hin. Sie ist wie in Trance, alles geschieht wie von allein. Aber spätestens in dem leeren Haus dämmert ihr etwas. Was für ein Zuhause ist das überhaupt? Eins, aus dem sie schon vor langer Zeit geflohen oder weggeschickt worden ist, vielleicht stimmt beides. Eins, in dem sie nie der sein kann, der sie ist. Sie zögert einen oder zwei Tage, vielleicht sogar drei. Doch langsam öffnet sich im Bewusstsein eine Tür. Was wäre wenn …? Vor der Tür steht ein Auto, beladen mit kiloweise Schmuck, und ihre Freundin Sascha hat gewisse Verbindungen. Die Welt hält sie mittlerweile für verschollen oder tot. In den Nachrichten sieht sie, wie ihr Vater sich aufplustert. Sogar die Suche nach ihr beutet er für seine Hassbotschaften aus. Es widert sie an. Aus einer Idee wird eine Entscheidung. Es gibt die Chance auf ein anderes, auf ein richtiges, echtes Leben. In dem sie sein kann, wer sie ist. Aber nicht in Schweden, wo sie für immer das Kind eines bekannten Rechtsaußen sein wird. Man wird sie ins Scheinwerferlicht zerren. Auf ewig das Mädchen, das überlebt hat. Dabei ist sie noch nicht einmal ein Mädchen. Sie muss hier weg. Nur für ihre Mutter tut es ihr leid. Sie hinterlässt ihr in der Wäsche ein Lebenszeichen. Dann begibt sie sich auf die Reise in ein neues Leben.«

»Und sie wird zu ihm«, sagte Hjalmarsson.

»Sie wird zu ihm«, bekräftigte Knutsson, und auch Delgado wiederholte den Satz.

 

 

 

 

Einer für alle, alle für einen. Nachdem sich Emil verletzt hatte, ließ Sascha keinen Zweifel daran aufkommen, dass sie das Ritual gemeinsam verschieben würden, so ärgerlich es auch war. Viktor murrte ein wenig, und auch Julia sah man die Enttäuschung an, vielleicht aber auch ein kleines bisschen Erleichterung. Die allgemeine Vorfreude, aber auch Anspannung war in den vergangenen Tagen deutlich zu spüren gewesen. Matt ging es selbst nicht anders. Keine Frage, ohne Emil konnten sie die Sache nicht durchziehen. Und zeigte es nicht, dass sie innerhalb eines halben Jahres zu einem verschworenen Haufen zusammengewachsen waren? Lag in der gegenseitigen Solidarität und in dem Gemeinschaftsgefühl nicht der eigentliche Akt der Selbstermächtigung und Befreiung? Er jedenfalls war nicht nur Sascha, sondern jedem Einzelnen dankbar. Bei ihnen durfte er Matt sein und Mathilda wie eine zu eng gewordene Haut abstreifen. Bei ihnen war er bei sich selbst. Sicher hatte er sich auf das Festritual gefreut, wenn auch nicht ganz ohne Hintergedanken Julia betreffend. Dass sie und Viktor sich getrennt hatten, freute ihn heimlich und ließ eine gewisse Hoffnung aufkeimen, was er aber niemals zugegeben hätte. Er konnte sich zwar immer noch nicht vorstellen, dass er in Julias Augen jemals mehr sein würde als ein guter Freund, aber seine Gefühle ihr gegenüber waren unleugbar echt, und das gemeinsame Reittraining war der Höhepunkt jeder einzelnen Woche. Drehte sich Saschas Wirbel nicht am Ende vor allem darum, ehrlich gegenüber sich und der Welt zu sein? Würde er im Rahmen des Fests seine Hemmungen so weit fallen lassen, dass er ihr seine Empfindungen eingestand? Würde er sie berühren dürfen? Sie in den Arm nehmen? Sie küssen? Bei den Gedanken daran wurde ihm schwindelig. Am letzten Schultag verabschiedeten sie sich voneinander. Die Antiklimax war nicht zu leugnen.

»Aufgeschoben ist nicht aufgehoben«, sagte Sascha, aber es klang ein wenig lahm, für ihre Verhältnisse sogar verdrossen. »Ich überlege mir während der Ferien einen Plan B. Versprochen!« Sie blinzelte Matt zu. »Und vergiss nicht, was du mir versprochen hast, Tiger.«

Die folgenden acht Wochen vergingen quälend langsam und waren die reine Hölle. Mutters ewige Migräneanfälle schaukelten sich zu neuen Rekorden auf. Sie hatte immer schon feine Antennen für die Großwetterlage im Haus gehabt, und in diesem verregneten Sommer bewegten sich zwei Gewitterfronten langsam, aber kontinuierlich aufeinander zu. Die Spannungen zwischen Vater und ihm hatten sich entwickelt, seit er mit zwölf oder dreizehn die ersten Ansätze eines politischen Bewusstseins entwickelt hatte, und es wurde Jahr für Jahr schlimmer. Aus seiner Sicht war nicht er es, der sich radikalisierte, sondern Vater. Dessen Skepsis gegenüber allem, was ihm nicht schwedisch oder abendländisch genug war, sondern irgendwie fremd, links, feministisch, islamisch, jüdisch, queer, dunkelhäutig, modern oder auch nur originell, hatte sich schleichend in offenen Hass verwandelt. Ideologischen Giftmüll, den er kübelweise ungefiltert in die sozialen Netzwerke schüttete, wo er sich unkontrolliert verbreitete und am Köcheln gehalten wurde, auf dass sie irgendwann losbrechen würde, die große nationalistische Revolution. Matt lebte im Haus eines Manns, der für alles stand, was er verachtete, für alles, was Sascha prosaisch »Die Maschine« nannte. Vater war ein Hass-Fabrikant, ein Lieferant tödlicher geistiger Waffen.

Ja, Matt hatte Sascha versprochen, seinen Eltern endlich zu erklären, dass sie keine Tochter hatten, sondern einen Sohn. Aber in diesen Wochen begriff er, warum er das unbewusst seit Jahren hinauszögerte. Weil der Mann, der sein Vater war, ihn für immer verbannen würde, aus Angst davor, sein Lebenswerk kollabieren zu sehen. Womit Matt leben konnte. Aber seine Mutter konnte das nicht. Es würde die Farce, die sie Familie nannte, vernichten. Es würde ihr das Herz zerreißen. Alles, was ihr wichtig war, würde zerstört. Er brachte es nicht über sich. Jeden zweiten Tag rief er Sascha an, die den Sommer über in Südeuropa unterwegs war, und flüsterte seine Verzweiflung ins Telefon. SUPERGIRL konnte ziemlich viel, aber einen Nazivater zu läutern und eine Familie zu heilen stand außerhalb ihrer Macht.

»Seine Familie«, sagte sie, »sucht man sich nicht aus. Das Wichtige ist doch, dass deine Freunde, dass wir wissen, wer du bist.«

»Aber was ist mit meiner Mutter? Ich kann sie doch nicht ihr ganzes Leben lang belügen. Gleichzeitig bringe ich es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen.«

Sascha seufzte.

»Vielleicht weiß sie es längst.«

Saschas Worte hallten nach. Wenn Mutter keine Migräne hatte, übten sie gemeinsam Autofahren. Ein Ritual, dass die meisten Siebzehnjährigen mit ihren Vätern vollzogen. Doch im Hause Adlercreutz lagen die Dinge aus bekannten Gründen anders, was Vater wurmte. Demonstrativ verwehrte er ihnen den Schlüssel seines großen BMW -Automatik, der in jeder Hinsicht für einen Fahranfänger das sicherere und leichter zu fahrende Auto gewesen wäre. Stattdessen saßen sie in Mutters betagtem kleinen Fiat mit Handschaltung und steuerten mal ein Café, mal eine Sehenswürdigkeit an. Einmal fuhren sie bis nach Kalmar hinauf, besichtigten das Schloss und saßen anschließend bei Kaffee und Kuchen zusammen. Als Matt irgendwann von seinem veganen Möhrenkuchen aufsah, blickte ihn Mutter auf eine seltsame Weise an. Er musste an Worte denken. Vielleicht war hier und jetzt, auf der verglasten Aussichtsterrasse mit den beschlagenen Fenstern, auf die der Regen klopfte, der richtige Augenblick, um ihr die Wahrheit zu sagen? Aber auch diesen Moment ließ er ungenutzt verstreichen.

Zwei Wochen vor Ende der Ferien präsentierte ihm Sascha am Telefon den neuen Plan. Er fußte auf einer Exkursion in den Luchswald, die ihre Biologielehrerin Maja bereits im vergangenen Schuljahr angekündigt hatte. Irgendetwas mit Mottenfangen, das eine Übernachtung in Zelten nötig machte. Majas Falter- und Outdoorbegeisterung war internatsintern berüchtigt, manche nannten sie die Mottenfrau. Eine perfekte Begleitung wäre ihr Theaterlehrer Mikkael, der in der Schülerschaft das Image eines Lebemanns hatte, der gern feiern ging. Wahrscheinlich hatte irgendjemand einen uralten Beitrag aus der Stockholmer Klatschpresse ausgegraben, jedenfalls gingen die Gerüchte auf seine wilde Zeit als Schauspielstar und Rampensau zurück. Was, so Saschas Überlegung, wenn man geschickt dabei nachhalf, beide Lehrer in einen wirklich sehr tiefen und festen Schlaf zu versetzen, und sich dadurch eine Nacht ohne jede Aufsicht im Wald ertrickste? Sie hatte sich bei anderen Schülern erkundigt. Die beiden Stellen, an denen Maja Schuljahr für Schuljahr ihre Mottenfallen und die Zelte aufbaute, lagen nicht weit von einem Runengrab entfernt, das von einem Ring aus Eichen umgeben war. Eine altertümliche Kultstätte, wie genial war das denn, bitte schön? Stammte zwar nicht aus der griechischen Antike, aber immerhin aus der Wikingerzeit. In ihrer Chatgruppe diskutierten die fünf das Für und Wider. Am meisten Bedenken gab es hinsichtlich der Idee, die Lehrer mithilfe von Alkohol und K.-o.-Tropfen außer Gefecht zu setzen. Was, wenn man die Dosis falsch berechnete? Was, wenn Maja und Mikkael zu viel oder zu wenig davon tranken? Besonders Julia und Emil zögerten. Sein Veto einzulegen, traute sich Emil jedoch nicht, wegen ihm war die ganze Sache schließlich überhaupt nur verschoben worden. Ohne ihn stand Julia auf verlorenem Posten und gab ihren Widerstand ebenfalls ziemlich bald auf. Wie so oft wirkte Sascha wie eine Marionettenspielerin. Sie bekam die Menschen dazu zu tun, was sie wollte. Sie beschwor Julias Mut und erinnerte an das Gelübde, das sie alle gegenüber Tyche und Dionysos abgelegt hatten. Wer wagte es schon, sich mit uralten Gottheiten zu überwerfen? Als das neue Schuljahr begann, belatscherte sie die Lehrer mit dem Vorschlag, im Wald nicht nur Motten zu bestimmen, sondern auch eine Szene aus Brechts Dreigroschenoper aufzuführen. So schaffte sie es, statt Renée, die bekennende Antialkoholikerin mit großem Sendungsbewusstsein war, Mikkael zu rekrutieren, was ein unverzichtbarer Baustein des Plans war, denn wenn die begleitenden Lehrer keinen Alkohol tranken, würde das Ganze wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Die Schulleitung nickte das Projekt routinemäßig ab. Exkursionen machten sich in der Außendarstellung und auf Elternabenden immer gut. Außerschulische Lernorte waren tolle Gratiswerbung für das teure Internat. Sogar Matts Vater, der im Aufsichtsrat des Schulkonzerns saß, konnte sich wahrscheinlich für gute, alte Zeltlager Marke Hitlerjugend begeistern. Die Vorstellung fachte seine Wut auf ihn erneut an, und er ließ die letzten moralischen Skrupel fallen, die er in Hinsicht auf den manipulierten Tiefschlaf der Lehrer gehegt hatte. Manchmal musste der Zweck eben doch die Mittel heiligen, Che und Fidel hatten die kubanische Revolution bestimmt nicht zum Sieg geführt, weil sie so nette und rücksichtsvolle Kerle waren. Die siebte Regel des Fight Club: »Die Kämpfe dauern so lange, wie sie dauern müssen.« Damit war die Sache für ihn endgültig geklärt.

Es waren noch zweieinhalb Wochen bis zum neuen Tag X, als die absolute Katastrophe über sie hineinbrach. Sascha wurde von einem Tag auf den anderen der Schule verwiesen. Die Begründung war lächerlich. Ja, sie war beim Kiffen erwischt worden. Aber das war vier Monate her und hatte außer einer Verwarnung und einem Eintrag in die Schulakte keine Konsequenzen gehabt und ernsthaft gejuckt. Aber als ihr Gauner-Onkel nun wegen eines aufsehenerregenden Schmuckfälschungscoups verhaftet und angeklagt wurde, was durch alle Medien ging, hatte man mit Saschas kleinem Drogendelikt den perfekten Grund zur Hand, um sie vor die Tür zu setzen. Der Morgen, an dem sie sich zerknirscht von ihnen verabschiedete, war einer der schwärzesten Momente in Matts Leben. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten. Sie kannten sich erst seit acht Monaten, aber Sascha war der beste Freund, den er je gehabt hatte. Er wusste nicht, ob er ohne sie überhaupt noch leben würde.

»Heulsuse«, flüsterte sie zärtlich und drückte ihn an sich. »Bringt das Ding hier ohne mich zu Ende, okay?«

Er nickte, natürlich tat er das.

»Sehen wir uns irgendwann wieder?«, fragte er.

Sie lächelte.

»Irgendwie, irgendwo, irgendwann.«

Saschas unfreiwilliger Abgang war der Super-GAU . Eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Die Zerstörung war total. Das, was sie im vergangenen Dreivierteljahr aufgebaut hatten, der Zusammenhalt, der innere Tempel, die Befreiung, der Widerstand gegen die Maschine – all das lag in Trümmern. Es war bitter, aber wahr: Ohne Sascha waren sie nichts als ein Häuflein Verlierer. Vier Loser im Quadrat. Ein matter Pummel mit Ödipuskomplex, ein verpickeltes Rich Kid auf Ritalin, eine verunsicherte Bulimiekranke und nicht zuletzt er, ein feiger Transjunge. Der große Plan, die Revolution, der Glaube und die Hingabe an den Würfel und den Rausch, an die Fügung und den Exzess? Ohne ihre Anführerin war alle Magie dahin. Ein Zaubertrick, so genial er auch sein mag, ist ohne den Zauberer eben nichts als ein Trick. Sie alle vier saßen in den folgenden Tagen wie Zombies im Unterricht. Ernüchtert, desillusioniert, orientierungslos. Renée warf sich mächtig ins Zeug, um sie wieder aufzurichten, sie zu trösten und das alte Feuer wieder zu entfachen. Aber am Ende des Tages war sie doch nur eine Lehrerin, die ihren Job machte. Von den wahren Vorgängen, von der echten Glut und den Flammen, die Sascha in ihnen zum Lodern gebracht hatte, hatte sie keine Ahnung. Wie sollte sie auch? Die erste Regel des Fight Club? »Ihr verliert kein Wort über den Fight Club!«

Matt tat, was er immer getan hatte, er zog sich zurück. Wenigstens hatte er in diesem Schuljahr ein Einzelzimmer. Seine Zimmergenossin, André, the Giant, die eigentlich Veronica hieß, hatte im Sommer das Internat gewechselt, und bisher hatte die Schulleitung ihm keine neue Mitbewohnerin zugeteilt, ein Luxus, der ihm wahrscheinlich in den Schoß fiel, weil Vater im Aufsichtsrat saß. Zum Lesen von Literatur fehlte es ihm an Konzentration, also verdaddelte er seine freie Zeit motivationslos im Internet. Auf den Politikseiten ging es viel um die Proteste gegen die Rodung in Lodjurskogen. Er hatte vorher schon hier und da mal etwas vom sich zuspitzenden Konflikt, dem Protestcamp und dem lang erwarteten Gerichtsurteil gehört, aber dass das umkämpfte Stück Natur zu demselben Waldgebiet gehörte, in das die Motten- und Theaterexkursion gehen sollte, war irgendwie an ihm vorbeigegangen. Kurz flackerte sein politisches Bewusstsein auf. Wäre es nicht wichtig, den seiner Meinung nach völlig legitimen und wichtigen Protest zu unterstützen? Lebte er nicht in Zeiten, in denen politischer Aktivismus eine zwingende moralische Pflicht war? Ergab es nicht viel mehr Sinn, die Maschine durch konkretes Handeln zu bekämpfen, wie es die Waldbesetzer taten, statt durch innere Befreiung, Drogenkonsum und eskapistischen Hedonismus? Der Klimawandel ließ sich nicht wegsaufen. Die Katastrophe verschwand nicht dadurch, dass man das Leben feierte und antiken Gottheiten huldigte. Vielleicht hatte sich Sascha, vielleicht hatten sie sich alle in etwas verrannt. Pathos, schöne Worte, die verdeckten, dass es im Grunde nur ein Tanz um das Goldene Kalb des Individualismus war, während die Welt um einen herum vor die Hunde ging. Matt grübelte. Aus dem Grübeln wuchs Wut. Auf die Maschine. Auf alle, auch auf Sascha und ihre falschen Prioritäten. Nein, eigentlich war es Wut auf sich selbst. Und vielleicht hätte er sich am kommenden Wochenende selbstständig auf den Weg ins Protestcamp gemacht, wenn er nicht am nächsten Tag Saschas Brief erhalten hätte. Eigentlich war es noch nicht einmal ein richtiger Brief, sondern nur ein Post-it-Zettel in einem gepolsterten Umschlag.

»Denk an dein Versprechen, Tiger«

Dabei lag Saschas Würfel.

Fünfzehn Tage später fuhren sie mit dem internatseigenen VW -Bus Richtung Lodjurskogen. Emil, Viktor, Julia, die beiden Lehrer und er. Der Würfel war in seiner Tasche. Sie hatten alles verstaut. Die Campingausrüstung, die Kostüme, die Masken, den präparierten Wein, die Drogen und den Wodka. Viktor hatte sogar eine Minikühltasche mit Trockeneis besorgt. Matt fühlte sich ein wenig beklommen, aber auch erwartungsvoll erregt. Sie taten es. Sie zogen die Sache durch, auch ohne Sascha. Und eins war sicher, dachte er, während der Van den gewundenen Weg entlangrumpelte: Was immer auch geschehen würde, sie würden in zwei Tagen als andere, veränderte, neue Menschen aus dem Wald herauskommen.

Es war ein milder Spätsommernachmittag. In der Nacht würde es zwar frisch werden, aber das kümmerte sie wenig. Mit großen Rucksäcken bepackt marschierten sie zwischen hohen Laub- und Nadelbäumen hindurch und bauten die Zelte auf einem der ausgewiesenen Übernachtungsplätze auf. Dort gab es eine betonierte Feuerstelle samt Grillgitter, ein Karee einfacher Sitzbänke aus grob behauenen Baumstämmen und eine flache Notübernachtungshütte, die nach vorn hin offen war und in der Brennholz bereitlag. Schade, dass es wegen des sehr trockenen Sommers ein Feuerverbot gab und sie einen Gaskocher benutzen mussten. Als die Zelte standen, bereiteten sie ein Stück weiter die Mottenfalle vor, die aus einer Lampe mit ultraviolettem Licht und einem ausgedienten weißen Bettlaken bestand, das auf dem Boden ausgebreitet wurde. Während sich Maja und Mikkael um das Abendessen kümmerten, probten Matt und die anderen drei ihre Texte für die Theaterprüfung am nächsten Tag, eine Szene aus der Dreigroschenoper, was natürlich Saschas Idee gewesen war. Sie waren so aufgeregt, dass sie sich kaum auf ihre Rollen konzentrieren konnten. Zum Abendessen gab es Gemüsesuppe und Baguette. In der anschließenden Dämmerung setzten sie sich neben die Mottenfalle und begannen mit der Bestimmung der angelockten Falter. Wäre Matt weniger angespannt gewesen, hätte es vermutlich sogar Spaß gemacht, denn eigentlich interessierte er sich für Biologie und Natur. Unter Majas sachkundiger Anleitung kartografierten sie siebzehn verschiedene Arten von Nachtfaltern. Als sie zu den Zelten zurückkehrten, war der Moment gekommen, der entscheiden würde, ob ihr Plan aufgehen würde oder nicht. Julia, die von ihnen die eloquenteste war, überreichte Maja und Mikkael die vorgekühlte Weinflasche, bedankte sich im Namen aller für das Möglichmachen der Exkursion und den tollen Biologie- und Theaterunterricht und betonte die Besonderheit des Weins, den ihre Eltern ihr für just diesen Anlass als Dank an die engagierten Pädagogen mitgeschickt hätten. Letzteres war natürlich gelogen. Viktor zauberte wie aus dem Nichts zwei polierte Weingläser hervor und Emil einen Korkenzieher. Maja und Mikkael wechselten Blicke, dann sahen sie zu Matt hinüber. Selbstverständlich wussten sie, dass sein Vater im Aufsichtsrat des Schulkonzerns saß. Aber der Aufsichtsrat war in diesem Moment weit weg. Über ihnen spannte sich ein imposanter Abendhimmel, in einem Farbspektrum von Nachtschwarz bis Orangerot. Blätter raschelten im leichten Wind, und die Gaslampe, die sie auf der Feuerstelle platziert hatten, tauchte alle Gesichter in warmes Licht. Matt setzte ein argloses Lächeln auf und legte als Zeichen seiner Verschwiegenheit einen Finger an die Lippen.

»Na, da kann man ja kaum Nein sagen«, lachte Mikkael schließlich leicht verlegen.

»Lassen wir mal fünfe gerade sein«, fügte Maja an und zwinkerte verschwörerisch.

Emil hebelte den Korken aus der Flasche, und Julia schenkte ihnen großzügig ein.

»Meine Mutter meint, man muss die Feste feiern, wie sie fallen«, sagte sie.

Maja und Mikkael stießen miteinander an.

Eine Stunde später war die Weinflasche so gut wie leer, und die Lehrer hatten sich erst schwankend, dann auf allen vieren in ihre Zelte zurückgezogen, wo sie tief und fest schliefen. Zur Probe hatte Viktor laut schreiend auf die Zeltdächer eingeschlagen. Keine Reaktion, stattdessen Schnarchen im Doppeltakt. Die Schüler zogen sich um und machten sich auf den Weg. Sie huschten einen schmalen Pfad entlang. Sie trugen Stirnlampen, die Lichtschneisen in die Dunkelheit schnitten, aber ohne Viktors GPS -Gerät hätten sie den Weg zur Eichenlichtung niemals gefunden. Sie sahen sich um. Der Ort war beeindruckend, zumal in der Nacht. Mythisch, mystisch, alt. Der Runenstein in der Mitte hatte etwas von einem Opferaltar. Matt wünschte so sehr, dass Sascha jetzt bei ihnen wäre. Das hier verdankten sie allein ihr.

»Vorsicht!« Emils Stimme. Jeder der Lichtkegel fror in der Bewegung ein. »Da vorn ist ein Loch im Boden.«

Sie gesellten sich zu ihm. Tatsächlich. Jemand hatte eine Grube ausgehoben und das vor nicht allzu langer Zeit.

»Vielleicht sind hier ja Schätze vergraben«, unkte Julia, dann wandten sie sich alle dem Steinaltar zu. Er war zweifellos das metaphysische Kraftzentrum dieses Orts. Hier, genau hier, würde der Würfel fallen. Sie setzten sich neben den Stein auf den Boden.

»Also«, grinste Viktor. »Womit fangen wir an?«

»Jeder ein halbes E«, befand Matt und verteilte die Ecstasypillen. »Damit uns warm wird und wir uns lieb haben. Dann den Joint und Wodka.« SUPERGIRL hatte ihm eine Art Gebrauchsanweisung hinterlassen. »Mit dem Koks sollten wir vielleicht warten, bis wir müde werden, denn davon haben wir am wenigsten.«

»Und die Magic Mushrooms?«, fragte Emil.

»Gut durchkauen.«

»Ist das nicht alles ein bisschen viel auf einmal?«

Julia sah in die Runde.

»Jeder, wie er mag«, sagte Viktor, der bereits zugegriffen hatte und am Kauen war.

»Viel hilft viel«, lachte Emil und zündete paffend den Joint an.

Matt nahm ihn entgegen, inhalierte zweimal tief und nahm anschließend einen langen Schluck aus der Wodkaflasche.

Viktor zog sich die Luchsmaske übers Gesicht. Der Effekt war beeindruckend. Vielleicht begannen die Substanzen bereits zu wirken und veränderten Matts Wahrnehmung.

»Eine Sache noch«, sagte der Luchs. »Egal, was der Würfel sagt: Ich mach keine schwulen Sachen.«

»Abgemacht, keine schwulen Sachen«, sagte der Fuchs.

»Ihr seid mir zwei Schisshasen«, sagte das Reh und lachte hell.

»Ich bin ein Luchs und kein Hase«, kicherte der Luchs.

Solche Absprachen waren gegen die Regeln, die Sascha aufgestellt hatte, dachte Matt und zog sich die Tigermaske über. Aber Sascha war nicht da. Keine schwulen Sachen, was sollte das überhaupt bedeuten? Hieß das, er durfte Julia nicht … Nein, halt. Das funktionierte nicht. Die ganze Denke funktionierte so nicht. Weil es die Denke der Maschine war. Er jedoch … Die Gedanken verknoteten sich, und für einen Augenblick fuhr ihm das Unbehagen in die Glieder. Aber das änderte sich nach weniger als zehn Herzschlägen. Er dachte gar nichts mehr. Denn plötzlich war es, als würde in seinem Bauch die Sonne aufgehen. Eine Wärme, ein Wohlbehagen, etwas so Wunderbares, wie er es noch nie zuvor empfunden hatte, strahlte von seinem Bauch aus in den ganzen Körper. Wortlos, unbeschreiblich. Er sah auf in die Gesichter seiner Kameraden, die seltsamerweise mit ihren Tiermasken eins wurden und verschmolzen, dieselbe Wonne, dieselbe Liebe. Es war wie auf einem Bild aus seiner alten Kinderbibel. Um ihre Köpfe bildeten sich Aureolen, Strahlenkränze. Das war so lustig, dass er lachen musste, sie alle mussten lachen, denn sie dachten alle dasselbe, das wusste er, ohne dass jemand gesprochen hatte, denn sie waren einander so nah, so einig, so eins, dass Worte nicht mehr nötig waren. Wie schön sie waren, seine Freunde, wie einzigartig und anmutig. Sie fassten einander bei den Händen. Sie lächelten sich an. Sie spürten dem inneren Kraftquell nach und dem Netz aus reiner Liebe und Energie, das sie miteinander verband. Das musste die Befreiung sein, von der Sascha gesprochen hatte. Geistig, körperlich, spirituell. Seligkeit, das war es, es war Seligkeit. Sie waren bereit.

Matt holte den Würfel aus der Tasche. Die Lampen brauchten sie längst nicht mehr. Sie waren Sehende. Er hielt den Würfel auf seiner ausgestreckten Hand in ihre Mitte. Es spielte keine Rolle, wer begann, denn sie waren zwar vier einzigartige Menschen, aber trotzdem eins. Er hörte das Rascheln der Eichenblätter. Er konnte die Pfifferlinge im Wald riechen und Julias Geschlecht. Er sah den Silberschein des Mondes auf ihren Tiergesichtern. Nebelschwaden legten sich um sie. Der Runenstein, an den er sich lehnte, wärmte seinen Rücken, und er fühlte wie alt und wie wahr seine Kraft war.

Der Luchs griff sich den Würfel. Sie hatten den Boden zwischen sich von trockenen Blättern befreit, die heilige Erde flach gestrichen und platt geklopft. Der Würfel fiel und kullerte, bis er zum Liegen kam.

Küssen

Viktor krempelte die Latexmaske so weit hoch, dass sein schöner Mund zu sehen war. Er lächelte.

»Du«, sagte er und zeigte auf Matt.

Das war unerwartet. Aber warum eigentlich? Sie waren einander so nah, so eins. Es spielte eigentlich keine Rolle, wer warum und mit wem … Er schob seine Maske hoch bis zur Stirn. Ein Gedanke streifte ihn. Hatte Viktor nicht gesagt, keine schwulen Sachen? Warum …? Das Gefühl von Viktors Mund auf seinen Lippen löschte den Gedanken aus. Es war warm und es war wahr und es war echt. Es passierte. Das war das Einzige, was zählte. Als sie sich wieder voneinander lösten, hätte er nicht sagen können, wie lang der Kuss gedauert hatte. Sekunden, Minuten, Stunden. Zeit spielte keine Rolle mehr, Zeit war eine Waffe der Maschine. Nach den Regeln der Tyche war er nun an der Reihe. Er würfelte.

Berühren

Er blickte sie an. Den Fuchs, den Luchs und das Reh. Sie waren alle schön. Aber sein Herz wusste, was er wollte. Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. Er knöpfte das Kleid in Höhe von Julias Bauch auf. Einen Knopf. Zwei Knöpfe. Drei Knöpfe. Durfte er wirklich …? Natürlich durfte er, Tyche wollte es so. Alles war Bestimmung. Seine Hand glitt hinein und legte sich auf Julias Bauch. Sie war so warm. Sie war so weich. Sollte er …? Nein, das war nicht nötig. Seine Hand blieb, wo sie war. So war es gut, so war es schön. Er spürte in Julia hinein. Versperrte sie sich? Öffnete sie sich? Ein bisschen von beidem. Er zog seine Hand zurück und knöpfte das Kleid behutsam wieder zu. Julia nahm sich den Würfel und warf.

Wahrheit

Das Reh zögerte kurz, dann wandte es sich an den Fuchs.

»Was ist der wahre Grund dafür, warum du mit mir Schluss gemacht hast?«

Julias Frage stand in der Luft, als wäre er schwebende Materie, als wäre er etwas, das man anfassen könnte, aber es war nichts Warmes in den Worten, sondern etwas Kaltes, Hartes, das hier nicht hingehörte, denn es war wie ein Hammer und ein Keil und nichts, das sie verband. Aber der Würfel war der Würfel, also gehörte es doch hierhin. Keine Freundschaft, keine Freiheit ohne Wahrheit. Der Fuchs zögerte. Der Fuchs ließ sich Zeit. Der Fuchs wand sich. Aber er musste antworten, und das wusste er auch.

»Weil ich noch nicht so weit bin«, sagte er. »Weil ich mich noch nicht gefunden habe.«

Matts erster Gedanke war, dass Viktor log. Es klang lahm und nach einer Ausrede. Aber musste es nicht trotzdem wahr sein, per definitionem? Am Altar der Tyche waren Lügen nicht gestattet. Rasch nahm der Fuchs sich den Würfel.

Wehtun

Viktor lachte. Er griff Emil ins Hemd und kniff in seine Brustwarze. Emil schrie auf.

»Scheiße, Alter, das tut weh!«

Viktor lachte wieder.

Nein, er gackerte.

»Das soll ja auch wehtun, du Pfosten!«

In Matt regte sich etwas. Seine feinen Antennen reagierten. Die Vibes veränderten sich. Das Band zwischen ihnen löste sich. Die Dinge kippten in die falsche Richtung. Aber konnte das überhaupt sein? Wenn der Würfel die Wahrheit war, dann musste das, was geschah, auch geschehen. Vielleicht war genau das Tyches Prüfung? Emil rieb sich die Brust. Dann nahm er sich den Würfel.

Ficken

Der Luchs sah zum Reh. Beide zögerten. Der Fuchs bellte vor Lachen. Wieder krempelte er seine Maske hoch, nahm einen neuen Joint aus der Tasche und zündete ihn sich an. Emil öffnete seine Hose und zog sie hinab, die Unterhose ebenfalls. Julia warf Viktor einen Blick zu. Der paffte behaglich an dem Joint. Sie wandte sich wieder Emil zu, raffte zögerlich ihr Kleid nach oben und zog ihren Slip hinunter. Matt konnte das nicht mitansehen.

»Komm«, sagte er mit Bestimmtheit, stand auf und zog auch Viktor hoch. »Wir lassen sie allein.«

Viktors Mund sah kurz so aus, als wollte er widersprechen, aber dann formte er ein Okay.

Sie traten aus dem Eichenring und begannen damit, ihn langsam zu umrunden. Unter ihren Schritten raschelten die Blätter, trotzdem war Emils Stöhnen deutlich zu hören. Es dauerte nicht lange.

»Lasst uns das Koks nehmen«, sagte Viktor, als sie wieder bei den beiden anderen Platz genommen hatten.

Keiner widersprach. Alle zogen die Masken aus. Viktor machte sich konzentriert mit einer Geldkarte an dem weißen Puder zu schaffen, das er auf den Deckel der Kühltasche geschüttet hatte. Emil war völlig verschwitzt. Julia presste die Lippen aufeinander. Der warme Schein war von ihren Gesichtern verschwunden, und auch der Runenstein schien nicht länger warm zu sein. Matt fröstelte. Vielleicht war das mit dem Koks eine gute Idee, vielleicht brauchten sie das jetzt. Viktor zog seine Portion durch einen halbierten Strohhalm. Dann reichte er Deckel und Strohhalm weiter. Matt hielt sich ein Nasenloch zu und zog das Pulver, so hoch er konnte. Es kribbelte in der Höhe seiner Nasenwurzel. Im Rachen schmeckte er etwas Chemisches. Wie Waschmittel. Dann breitete sich hinter seiner Stirn eine angenehme Taubheit aus, während aus seinem Bauch ein Hochgefühl aufstieg. Es war, als habe er die warme Quelle in seinem Inneren wieder angezapft. Den anderen schien es, nachdem sie an der Reihe gewesen waren, auch so zu gehen, sie lächelten, gleichzeitig schien sich die Muskulatur ihrer Gesichter zu verselbstständigen. Viktor zog seine Maske wieder hinunter, und sie taten es ihm nach. Julia nahm sich den Würfel.

Küssen

Matt erstarrte. Würde sie ihn wählen? Wenn sie auch nur ein bisschen von dem für ihn empfand, was er ihr gegenüber fühlte, dann musste sie doch ihn wählen! Sie wählte Viktor. Der nichts mehr von ihr wollte und ihr nicht einmal sagte, woran das in Wirklichkeit lag. Matt drehte den Kopf weg, er konnte nicht hinsehen, denn es tat zu weh. Wie konnte sie nur Viktor nehmen? Er hatte ihr wehgetan. Er hatte sie angelogen. Er hatte sie vor wenigen Minuten noch ausgelacht, weil sie sich von Emil hatte vögeln lassen. Matt spürte, wie sich seine Kaumuskulatur verkrampfte, so heftig presste er die Zähne aufeinander. Er war jetzt froh, die Maske zu tragen, denn so konnte niemand sehen, was er empfand. Er versteifte sich innerlich. So sollte, so durfte es nicht sein. Er war nicht Matt, er war nur ein Tiger. Julia und Viktor waren nicht sie selbst, sondern nichts weiter als ein Fuchs und ein Reh. Der Fuchs biss das Reh. So funktionierte das nun mal.

Viktor nahm einen Schluck aus der Wodkaflasche, zog die Maske wieder runter und würfelte.

Ficken

Der Fuchs überlegte nicht lange. Er näherte sich dem Tiger. Aber das durfte nicht sein! Das ging nicht! Sie hatten es doch vorher abgemacht! Keine schwulen Sachen, Viktor selbst hatte das gesagt, es war seine Bedingung gewesen, überhaupt mitzumachen!

»Stopp!«, sagte Matt. »Stopp! Keine schwulen Sachen, hatten wir gesagt!«

»Das ist nichts Schwules«, sagte der Fuchs.

»Doch, natürlich!«

»Nein!«

»Doch!«

»Nein!«

Der Fuchs lag plötzlich auf ihm und drückte seine Arme nach hinten.

»Stopp, hör sofort auf!«

»Nein!«

Viktor gackerte. Emil ebenfalls. Sogar Julia fiel ins Lachen ein. Sogar Julia! Julia. Viktor war stark, und er wusste, was er wollte. Matt wehrte sich, aber er wehrte sich nicht genug. Da war dieser Gedanke in seinem Kopf. Was, wenn Viktor recht hatte? Wenn es wirklich nicht zählte? Wenn er in Wirklichkeit doch kein Junge war, solange er in diesem Körper feststeckte. Was, wenn er doch noch Mathilda war, solange er Titten und eine Muschi hatte statt einen Schwanz? Er begann zu weinen und gab die Gegenwehr auf. Viktor zerrte seine Hose herunter und streifte sich ein Kondom über den erigierten Penis. Dann riss er Matts Hose und Slip herunter. Er war grob. Er war stark. Er drang in ihn ein. Zum ersten Mal drang jemand in Matt ein. Es war so eng. Er war so eng. Es tat so weh. Es war so falsch. Alles daran war falsch. Er presste die Augen zu. Er wünschte sich weg. Du bist gar nicht wirklich hier, versuchte er sich einzureden, nur der Tiger ist hier.

Irgendwann war es vorbei.

Matt wimmerte leise vor sich hin. Viktor zog seine Hose wieder hoch. Julia schaute in den Sternenhimmel. Emil erzählte einen beschissenen Witz über einen Tiger und einen Jäger, über den niemand lachte.

»Scheiße, was tun meine Knie weh«, sagte Viktor.

Ziemlich lange schwiegen alle.

Als keine Tränen mehr kamen, griff Matt nach der Wodkaflasche und trank drei lange Schlucke.

»Sorry«, sagte Viktor und grinste. »Aber der Würfel entscheidet.«

Er schien sich köstlich zu amüsieren.

Matt richtete mit barschen Griffen seine Klamotten wieder her. Am schlimmsten war, wie wenig sie ihn ernst nahmen. Für sie war er in Wirklichkeit immer noch Mathilda. Seit Monaten logen sie ihn an. Erst jetzt spürte er, wie wütend er war. Er griff sich den Würfel.

Fesseln

»Aufstehen!«, befahl er Viktor.

Der erhob sich kichernd.

»Ich war ein böser, böser Junge«, sagte er. Emil gackerte, als wäre er Viktors kleines Äffchen. Julia wirkte abwesend. Matt schnappte sich das bereitliegende Seil und schubste Viktor, so grob er konnte, vor sich her. Der spielte das Spiel mit und ließ sich bereitwillig an eine der Eichen binden. Matt zog das Seil sehr fest, auch wenn Viktor das kaum wahrzunehmen schien. »Take it easy«, sagte er irgendwann. Es sollte wohl versöhnlich klingen, aber es machte Matt nur noch wütender. Er zurrte das Seil mit aller Kraft fest und verknotete es.

»Arschloch«, zischte er und gab Viktor eine schallende Ohrfeige, die allerdings durch die Maske abgefedert wurde.

»Hey!«, rief Viktor empört.

Matt ging zu den anderen zurück. Wenn es nach ihm ginge, konnte Viktor an dem Baum versauern.

»Wie geht es denn jetzt weiter?«, fragte Emil. »Eigentlich wäre ja jetzt Viktor dran.«

»Drauf geschissen.«

Matt nahm sich den Würfel, und niemand protestierte.

Wahrheit

Lange, sehr lange sagte niemand etwas. Auch Viktor war still. Wolken hatten sich vor den Mond geschoben. Obwohl Viktor sich nur einige Meter von ihnen entfernt befand, konnte man in der Dunkelheit kaum seinen Schemen ausmachen. Schließlich sah Matt Julia an.

»Wer bin ich deiner Meinung nach eigentlich?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«

Julias dumme Rehaugen glotzten ihn an.

»Das weißt du ganz genau.«

»Oh, oh«, blökte Emil. »Gefühle, Gefühle. Von Frau zu Frau. Da gehe ich lieber pissen.«

Er stand auf und tat zwei wankende Schritte in Viktors Richtung.

In dem Moment, in dem der Schuss explodierte, fiel Emils Körper bereits dumpf zu Boden. Viktor schrie auf. Julia kreischte. Der Knall hallte in Matts Ohren nach. Er begriff gar nichts. Aber sein Instinkt reagierte. Sie mussten hier weg, auf der Stelle. Er sprang auf. Aber was war mit Emil? Sollten sie ihm nicht helfen? Oder war es dafür längst zu spät? Er zögerte. Dann riss Julia an seiner Hand, und sie begannen beide zu rennen. Zehn Meter, zwanzig. Ihm entglitt Julias Hand, doch er lief trotzdem weiter, setzte über einen umgeknickten Baumstamm und schlug sich ins Unterholz, bis er über etwas stolperte und der Länge nach hinfiel. Er blieb liegen. Sein Herz galoppierte, in den Ohren rauschte das Blut. Er lauschte in die Dunkelheit hinein. Erst jetzt bemerkte er, dass er immer noch die Maske trug. Er riss sie ab. Lauschte erneut. Jemand schrie nach Hilfe. Das war Viktors Stimme. Matt stand auf. Er musste ihm helfen. Trotz der Vergewalt… Er wollte das Wort nicht zu Ende denken. Nicht hier, nicht jetzt. Denn was, um alles in der Welt, war da gerade passiert? Jemand hatte geschossen. Jemand hatte auf Emil geschossen. Matt hatte im Vorbeilaufen den bewegungslosen Körper gesehen, das Blut, die zerfetzte Maske, das Loch im Hinterkopf. War es möglich, dass Emil trotzdem noch lebte? Gab es eine Chance, ihn zu retten? War es feige gewesen, die Flucht zu ergreifen? Oder schierer Überlebensinstinkt? Viktor schrie sich vor Angst die Seele aus dem Leib. Gebückt arbeitete sich Matt vorwärts, zurück zur Lichtung, bemüht, sich so leise wie möglich anzuschleichen. Nach vielleicht zwei Minuten hatte er sich so weit genähert, dass er die schemenhaften Silhouetten der hohen Eichen ausmachen konnte. Dann entdeckte er das Licht einer Stirn- oder Taschenlampe. War das Julia? Aber sie hatte ihre Lampe beim Weglaufen nicht dabeigehabt, da war Matt sich sicher.

»Julia? Matt? Seid ihr das?« Viktors Stimme überschlug sich. »Seid ihr das? Macht mich los, macht mich doch bitte los!«

Matt wagte sich noch näher heran. Das Licht näherte sich dem Eichenring aus der anderen Richtung. Das musste derjenige sein, der Emil in den Kopf geschossen hatte. Matt näherte sich um weitere zwanzig Meter und ging dann hinter einem Felsvorsprung in Deckung. Viktor schrie ihre Namen, Matt war nun weniger als fünfzig Meter von ihm entfernt. Die Person mit der Stirnlampe betrat den Eichenring. Das Licht war viel heller und kräftiger als das ihrer Lampen. Einige Meter vor Viktor blieb die Gestalt stehen und leuchtete ihm ins Gesicht. Unter seiner Maske schrie Viktor panisch. Die Person hielt etwas Langes in den Händen, das sie nun zu Boden fallen ließ. Klappern. Sie kam noch näher und riss Viktor die Maske vom Kopf. Verängstigt blinzelte er ins Licht. Sein Gesicht war kreideweiß. Matt kniff die Augen zusammen. Die Person, die nun unmittelbar vor Viktor stand, war groß und kräftig, ein Mann, da war Matt sich sicher. Gebückt und auf jeden Schritt achtend, ging er noch einige Meter nach vorn, wo ihm ein breiter Kiefernstamm Schutz bot. Das Mondlicht kam und ging. Nun hörte er eine Stimme, die nicht zu Viktor gehörte, dafür war sie zu tief. Viktor hatte aufgehört zu schreien. Er redete schnell und heiser. Dann wieder der Mann. Matt verstand nur Bruchteile. Der Mann stellte offenbar Fragen, und Viktor bemühte sich, sie zu beantworten. Nun leuchtete der Mann den Boden ab, bis der Lichtkegel Emils Körper erfasste. Der Mann ging zu ihm, ließ sich in die Hocke nieder und drehte Emil auf den Rücken. Er fasste ihm kurz an den Hals, dann erhob er sich wieder. Zwischen ihm und Viktor entspann sich ein weiterer Wortwechsel. Dann war es still. Der Mann knipste die Lampe aus. Matt sah seine Konturen nun deutlicher. Plötzlich blitzte etwas Metallisches im Mondlicht auf. Eine Klinge? Viktor schrie auf. Der Mann machte etwas mit der Hand an Viktors Hals. Dessen furchtbarer Schrei ging in ein Gurgeln über, das so grauenvoll klang, als käme es direkt aus der Hölle. Einige Sekunden dauerte es, dann verstummte Viktor vollends. Sein Kopf sackte auf die Brust, sein gefesselter Körper verlor die Spannkraft. Matts Herzschlag lief Amok. Seine Sinne waren so sensibilisiert, dass er meinte, Viktors Blut riechen zu können. Gerade hatte Viktor ihn noch gegen seinen Willen gefickt, nun war er tot. Emil ebenso. Ein irrer Mörder hatte sie beide gekillt. Einfach so, ohne Grund. Und dieser Typ stand nur fünfundzwanzig Meter von ihm entfernt. Angst fuhr ihm in die Glieder. Wenn er jetzt den kleinsten Fehler beging, würde es ihm wie seinen Klassenkameraden ergehen. Der Typ würde ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, fertigmachen. Matt versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Wieso nur war er zurückgekommen? Er hatte weder Emil noch Viktor retten können. Nun saß er selbst in der Scheiße. Plötzlich knipste der Mann seine Lampe wieder an. Um Viktor schien er sich nicht mehr zu scheren. Er schritt die Lichtung ab. So als würde er etwas suchen. Schließlich blieb er an einer bestimmten Stelle stehen. Mit der Hacke seines Schuhs markierte er den Boden. Dann holte er die Gerätschaften, die er zuvor fallen gelassen hatte. Matt vernahm eine Art Scheppern, dann dumpfe Geräusche, die an Schläge erinnerten. Was machte der da? Das Licht fiel auf einen Spaten. Der Kerl grub ein Loch. Matt musste an das andere Loch auf der Lichtung denken, das Emil entdeckt hatte. Was bedeutete das? Warum grub dieser Irre Löcher in den Wald? Um die Leichen zu verscharren? Aber das ergab keinen Sinn. Das eine Loch war ja bereits da gewesen, als sie gekommen waren. Der Killer konnte unmöglich im Vorhinein gewusst haben, dass in dieser Nacht jemand an diesem abgelegenen Ort auftauchen würde, den er töten und dann in sein Grab legen würde. Oder doch? War Matt von den Drogen derart verpeilt, dass er irgendetwas übersah? Konnte er nicht einmal mehr eine einfache Kausalkette begreifen? Zeitliche Abläufe? Ursache und Wirkung? War das der Schock? Aber wichtiger war jetzt, so schnell wie möglich zu verschwinden. Julia zu finden und sie beide in Sicherheit zu bringen. Er dachte an ihr Zeltlager, er dachte an Maja und Mikkael. Wie weit war er davon entfernt? Anderthalb Kilometer vielleicht? Zwei? So leise wie möglich zog er sich zurück, bis er sich etwa siebzig Meter von der Lichtung entfernt hatte. Rechts von ihm ging es steil eine Anhöhe hinauf. Sie waren aus der entgegengesetzten Richtung gekommen, da war er sich sicher. In einem Halbkreis ging er vorsichtigen Schritts um das Eichenrund herum, sorgfältig darauf bedacht, die Entfernung zu der vor- und zurückwippenden Lichtquelle nicht zu klein werden zu lassen. Wenn das mit Kraft geführte Spatenblatt beim Graben einen Stein traf, trug die Nachtluft das helle, spitze Geräusch, gefolgt von Stöhnen und gelegentlichem Fluchen, zu ihm. Mit gepresster Stimme rief er immer wieder Julias Namen in die Dunkelheit, aber er bekam keine Antwort. Irgendwann erreichte er eine Stelle zwischen hohen Buchen, die ihm bekannt vorkam. Im bleichen Mondlicht tat sich zwischen den Bäumen eine Schneise auf. Hier waren sie hergekommen. Er wandte sich ein letztes Mal der Lichtung zu. Offenbar grub der Mann noch immer. Von Julia keine Spur. Er bog in den Pfad ein. Nach wenigen Schritten knackte unter seinem Fuß ein Ast in einer Lautstärke, die er nicht für möglich gehalten hatte. Er fror in der Bewegung ein. Schließlich wagte er es, sich umzudrehen. Wie der Scheinwerfer eines Leuchtturms tastete der Lichtstrahl der hellen Lampe Meter für Meter die umstehenden Bäume ab. Als er Matts Gesicht traf, kniff der geblendet die Augen zu, wandte sich um und begann zu rennen. Bei diesem Tempo lösten sich alle Konturen auf und gingen ineinander über. Nun half ihm nur noch sein Instinkt. Er war ein Tiger auf der Flucht. Dutzende Male trat er ins Leere oder knickte auf buckligen Wurzeln um, jedoch fing er sich immer noch im letzten Augenblick und behielt das Gleichgewicht. Tief hängende Äste und Zweige peitschten ihm durchs Gesicht. Seine Augenbraue riss auf, und er schmeckte das Blut, das ihm durchs Gesicht bis in den Mundwinkel rann. Er stolperte und taumelte vorwärts. Fünf Minuten oder fünfzehn. Jedes Zeitgefühl war ihm abhandengekommen. Das Seitenstechen war wie ein Messer in seiner Flanke. Irgendwann wagte er es, sich im Laufen umzudrehen. War da ein Licht? Er knallte mit der Schläfe gegen etwas Hartes, und sein Bewusstsein schwand, noch ehe sein fallender Körper den Boden berührte.

Als er wieder aufwachte, dröhnte ihm der Kopf. Sein Rachen schmeckte nach Blut und Erbrochenem. Er tastete orientierungslos um sich. Irgendwann gelang es ihm aufzustehen. Es war noch immer dunkel, auch wenn das Schwarz des Nachthimmels auf einer Seite bereits bläulich zu schimmern begann. Vom Mond war nichts mehr zu sehen. Wie lang war er ohnmächtig gewesen? Eine Stunde? Zwei? Er tastete behutsam seine Stirn ab. Die Platzwunde hatte aufgehört zu bluten. Dort, wo der Himmel heller wurde, musste Osten sein. Das Zeltlager befand sich südlich. Also ging er so, dass die hellere Himmelsseite links von ihm lag. Auf wackeligen Beinen tastete er sich vorwärts. Seine rechte Hüfte schmerzte. Die hellen Pfähle auf beiden Seiten des Pfades mussten Birkenstämme sein. An Birken konnte er sich nicht erinnern, aber was hieß das schon? Er musste weiter. Weg von der Lichtung, weg von der Gefahr. Dann hörte er plötzlich eine Stimme.

»…mil? Viktor? Mathilda?«

Mikkael! Das war Mikkael!

»Hier!«, rief er, so laut er konnte. »Ich bin hier!«

Er humpelte vorwärts. Dann sah er das Licht. Das war Mikkael, mit einer Taschenlampe in der Hand.

»Mathilda, um Himmels willen, was ist passiert?« Mikkael war nun keine zehn Meter mehr von ihm entfernt. Dann entdeckte er, was Mikkael in der anderen Hand hielt. Es war ein Gewehr. Ruckartig blieb er stehen. Mikkael kam weiter auf ihn zu. »Meine Güte, Mathilda, wie siehst du denn aus? Ist das Blut?« Er leuchtete ihm ins Gesicht. Dann bemerkte er anscheinend Matts entsetzten Blick. »Das Gewehr? Das lag da hinten auf dem Weg, ich bin fast darüber …« Mikkael richtete die Lampe an ihm vorbei. »Sind das da hinten die anderen?«

Matt drehte sich um. Zwischen den Bäumen und Ästen bewegte sich ein zweiter Lichtkegel, deutlich heller als der seines Lehrers.

»Weg«, schrie er panisch. »Wir müssen hier weg!« Er stürmte nach vorn, an Mikkael vorbei, der stehen blieb, weil er ja nicht wissen konnte, wer da näher kam. »Weg, Mikkael!«, schrie er. »Weg! Der bringt uns um!«

Er rannte, ohne sich noch einmal umzudrehen, er konnte nicht anders, er hoffte, dass Mikkael auf ihn hörte, Gewehr hin oder her, sein Lehrer konnte ja nicht wissen, was geschehen war, deshalb würde er den Mann kaum mit Gewalt stoppen, und für Erklärungen fehlte die Zeit. Immer wieder gabelte sich der Pfad vor ihm. Mal nahm er die rechte, mal die linke Abzweigung, längst hatte er jede Orientierung verloren. Er wusste nur, dass er sich in Sicherheit und so viel Distanz wie möglich zwischen sich und den Mann bringen musste. Irgendwann musste er stehen bleiben, weil er völlig außer Atem war und nicht mehr weiterrennen konnte. Er hielt sich an einem Baumstamm fest und versuchte, wieder Luft zu bekommen. Als sich sein Atem und sein Puls einigermaßen beruhigt hatten, sah er sich um. Der Weg, auf dem er sich befand, war breiter und ausgetretener als die anderen Pfade. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die eine Seite des Himmels glühte bereits orangefarben. Es begann zu dämmern. Etwa hundert Meter vor ihm lichteten sich die Bäume. Zwischen ihnen schimmerte etwas, eine Farbe, die nicht in den Wald gehörte. Vorsichtig näherte er sich. Dann erkannte er, dass es sich um einen Parkplatz handelte, auf dem zwei Autos standen, ein Transporter und ein kleiner Geländewagen. Vom Kleinbus der Schule keine Spur, also musste es sich um einen anderen Parkplatz handeln als den, auf dem sie angekommen waren. Er war so oft abgebogen, dass er nicht mal sagen konnte, auf welcher Seite des Waldes er sich überhaupt befand. Plötzlich hörte er hinter sich ein Geräusch. Aus der Richtung, aus der er gekommen war. Mikkael? Der Killer? Ohne weiter nachzudenken, stürmte er nach vorn auf den Parkplatz. Autos bedeuteten andere Menschen, bedeuteten Zivilisation und Sicherheit. Oder nicht? Aber hier war kein anderer Mensch. Doch zurück in den Wald wollte er um keinen Preis. Panisch blickte er sich um. Die Flügeltüren des Transporters standen offen. Innen türmte sich ziemlich viel Krimskrams. Monteure oder Handwerker hatten solche Autos. Er hörte, wie sich vom Weg her Schritte näherten. Das gab den Ausschlag. Er schlüpfte in den Wagen, wobei er über eine große dreckverklebte Reisetasche klettern musste. Neben dem Reißverschluss war sie aufgeplatzt. Waren das Schmuck und Uhren? Im selben Augenblick begriff er. Von allen Optionen hatte er die schlechteste gewählt. Das war es, was der Mann auf der Lichtung ausgegraben hatte. Matt war in das Auto des Killers gestiegen. Die Schritte auf dem gekiesten Parkplatz kamen näher. Matt kletterte bis in die hinterste Ecke des Laderaums, kauerte sich hin und zog ein herumliegendes Stück Stoff über sich. Sein Herzschlag raste. Die Schritte kamen noch näher. Jetzt musste der Mann vor dem offenen Laderaum stehen und hineinsehen. Schweiß rann Matt von der Stirn. Er zitterte. Sein einziger Freund war die schattige Dunkelheit im Laderaum. Er hörte das angestrengte Atmen des Manns. Warum stand er da so lange? Warum warf er die Türen nicht einfach zu und machte sich mit seinem Schatz aus dem Staub? Matt hörte nun ein Ächzen und sich entfernende Schritte. Was war da los? Er wagte es, unter einer Falte des Stoffes hindurchzulugen. Er sah einen Mann, der offenbar die Tasche aus dem Wagen hinausgewuchtet hatte und sie jetzt mit beiden Händen zum anderen Auto schleppte, wo er den Kofferraum öffnete und seine schwere Last hineinschob. Das ergab keinen Sinn. Doch, es ergab Sinn. Wenn der Mann, der sich die Tasche genommen hatte, ein anderer war als der, der Emil und Viktor getötet und den Schatz ausgegraben hatte. Das kam hin, denn er erschien Matt dicker als der muskulöse Hüne, den er auf der Lichtung beobachtet hatte. Er hörte, wie die Kofferraumtür des anderen Autos zugeworfen wurde. Gleich würde der Motor anspringen, und der Geländewagen würde wegfahren. Den Moment würde Matt nutzen, um aus seinem miserablen Versteck zu springen und wieder im Wald zu verschwinden. Eine Sekunde später hörte er einen wütenden Aufschrei und andere Schritte, die sich schnell näherten. Der Hüne. Er sprang den kleineren Mann an, beide gingen zu Boden und rollten aus Matts Blickfeld hinaus. Er hörte dumpfe Schläge und schmerzverzerrtes Grunzen. Eine Minute ging das so, vielleicht zwei. Dann sah Matt, wie der Hüne den leblosen Körper des anderen zur Fahrertür des Geländewagens zerrte und ihn auf den Sitz bugsierte. Anschließend nahm er die Tasche aus dem Kofferraum und brachte sie zurück in den Laderaum des Transporters. Dann verschwand er, um zwei Minuten später mit einer weiteren Tasche zurückzukommen und sie ebenfalls in den Laderaum zu wuchten, in den er dann hineinkletterte und direkt auf Matt zukam. Matt hielt unter dem stinkenden Stück Stoff den Atem an. Ein einziger Handgriff des Kerls und alles wäre vorbei. Aber statt nach dem Malervlies griff der Mann etwas aus dem Werkzeugregal. Matt erkannte das Geräusch eines schwappenden Kanisters. Eine Sekunde später fielen die Türen des Laderaums mit Schwung zu.