Hugo Delgado betrachtete sein neustes Meisterwerk im Spiegel. Sicher, in den Großstädten der westlichen Hemisphäre waren Schnurrbärte schon seit Jahren wieder in Mode, und er war zugegebenermaßen ziemlich spät auf den Hipsterzug aufgesprungen. Aber besser spät als nie, zumindest was den sorgfältig gestutzten Schnauzer anging, denn der stand ihm, ganz objektiv betrachtet, ausgezeichnet. Der Oberlippenbart kompensierte auf subtile Weise das fehlende Haupthaar, jedoch ohne die onkelhafte Seebärenattitüde eines Kinnbarts Marke Knutsson. Delgado legte letzte Hand an, massierte zunächst ein exklusives Bartöl mit der Duftnote Zedernholz gefolgt von einer Bartpomade – auf der schicken gelben Metalldose war aus irgendeinem Grund der Kopf eines Nashorns abgebildet – in seine Borsten ein und kämmte sie schließlich mit einer speziellen Bartbürste, bevor er sich auf den Weg zu seinem Date machte. Ihrem Onlineprofil zufolge hieß sie Sofia, war zwei Jahre älter als er und arbeitete, oh, Ironie des Schicksals, als Uni-Dozentin. Aber er wollte die überaus attraktive Frau, eine gewisse Ähnlichkeit mit Sandra Bullock war ihm sofort ins Auge gefallen, ja nicht heiraten, sondern in sein Bett manövrieren und so, wie er den bisherigen Chatverlauf einordnete, standen die Chancen dafür nicht schlecht. Was die linguistische Analyse von Onlineflirts anging, war er in den vergangenen Jahren zum Profi geworden. Wenn gewisse Schlüsselbegriffe fielen und ein bestimmter Ton angeschlagen wurde, lag die Erfolgsquote bei mehr als fünfundsiebzig Prozent. Als er sich gerade, einen alten Hit der Pretenders vor sich hin summend, die Schuhe anzog, meldete sich sein Smartphone. Es war Sofia. Oha. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Er nahm das Gespräch an. Seine Befürchtung bewahrheitete sich. Eine Last-minute-Absage, der Babysitter hatte kurzfristig abgesagt, und die beiden Kinder, drei und fünf, lagen mit Fieber im Bett. Babysitter? Kinder? Davon hatte im Dating-Profil nichts gestanden. Warum auch, ging ihn ja nichts an. Schade war es natürlich trotzdem. Er hatte einen Tisch im PM reserviert, und später spielte noch eine Soulband im de Luxe. Der perfekte Rahmen für einen Abschleppabend par excellence . Wo sollte er jetzt auf die Schnelle Ersatz auftreiben? Sofia entschuldigte sich, zögerte kurz und sagte dann, dass es auch die Möglichkeit gäbe, sich bei ihr zu Hause zu treffen. Rotwein und Chips waren vorrätig, und für eine Partie Carcassonne oder einen Filmabend auf dem Sofa wäre sie immer zu haben. Oh Gott. Das roch nach Verzweiflung und Verpflichtungen. Alleinerziehende Mütter waren gefährlich. Ein No-Go . Wohlweislich hatte er immer einen großen Bogen um sie gemacht. Er lehnte dankend ab und beendete das Gespräch. Kopf hoch, alter Knabe. Schick essen gehen konnte er schließlich auch allein. Und wer wusste schon, welche Chancen sich später beim Konzert noch auftaten? Bei verschwitzter Soulmusik ging erfahrungsgemäß einiges. Also zog er sich vollständig an und warf seinem Spiegelbild einen letzten prüfenden Blick zu. Ja, der Schnurrbart war top! Aber irgendetwas … Er konnte sich nicht von seinem Spiegelbild lösen. Nicht aus Narzissmus, sondern weil er erschrocken war und etwas zu deuten versuchte. War das tatsächlich Traurigkeit in seinen dunklen, feuchten Augen? Das Alter? Eine merkwürdige Leere? Er wusste nicht, wie lange er so verharrte, aber irgendwann wandte er sich mit einem Ruck ab. Er nahm sein Handy aus der Innentasche des Jacketts. Rotwein und Carcassonne, Sandra Bullock und zwei Kinder – wenn man es erst einmal hatte sacken lassen, klang es gar nicht mehr so verkehrt.