Ingrid Nyström hatte ein Glas Champagner und anderthalb Gläser Wein getrunken, so viel Alkohol gönnte sie sich höchstens ein- oder zweimal im Jahr. Aber heute war so ein Tag, und der Anlass war es wert. Sara Hjalmarsson hatte die gesamte Familie Nyström zu einem Einweihungsessen ihres neu erworbenen Hauses samt Scheune und Pferdestall eingeladen. Der ehemalige Bauernhof aus dem vorvorigen Jahrhundert wirkte charmant und hatte viel Potenzial, wie ein Makler es vermutlich formuliert hätte, was nichts anderes hieß, als dass sowohl das Haus als auch die Nebengebäude in hohem Maße renovierungsbedürftig waren, was den Preis natürlich deutlich gedrückt und andere Interessenten abgeschreckt hatte. Sonst hätte Sara den Eigenkapitalanteil und den Bankkredit auch nicht stemmen können. Bitter, aber wahr: Was Polizisten, Krankenpfleger, Hebammen oder auch Lehrer verdienten, war trotz der langen Ausbildung und des fordernden Berufsalltags im Vergleich zu vielen Jobs in der freien Wirtschaft ein schlechter Witz und angesichts der immer weiter steigenden Immobilienpreise, die mittlerweile sogar in der småländischen Provinz stark anzogen, fast zynisch. Nyström, die nach dem fantastischen Menü, das Sara und Anna aufgetischt hatten, und unzähligen Partien Uno – der kleine Albert auf ihrem Schoß und sie hatten ein Dream-Team gebildet –, vor die Tür getreten war, um einen Augenblick allein zu sein und frische Luft zu schnappen, drängte die Gedanken an gesellschaftliche Probleme beiseite und betrachtete den sternenklaren Nachthimmel. Es war spät geworden, und Anders hatte ihr signalisiert, dass er in nicht allzu ferner Zukunft aufzubrechen gedachte, da er am nächsten Morgen einen Gottesdienst zu halten hatte und sich seine Predigt leider erst im Ideenstadium befand, was bedeutete, dass er zu Hause wohl oder übel noch eine Weile an den Schreibtisch musste. Auf den Wäldern und Weiden, die das Haus umgaben, lag milchiges Mondlicht. Ein schönes Fleckchen Erde, das Sara sich ausgesucht hatte, um Wurzeln zu schlagen. Annas Partnerin traute sie trotz des jungen Alters zu, die Herausforderungen zu meistern, die diese Immobilie fraglos stellte und stellen würde. Das Gleiche galt für Saras Berufswahl. Ohne ihren Ehrgeiz, ihre Beharrlichkeit und Intelligenz wären die Umstände des tragischen Geschehens im Lodjurskogen womöglich erst viel später ans Licht gekommen. Sie war auf dem besten Weg dahin, eine ausgezeichnete Kommissarin zu werden. Und vielleicht lag exakt an dieser Stelle der Knackpunkt für Nyströms unfaire Unterkühltheit. Denn sie wusste genau, was dieser Job einem geben konnte, aber vor allem, was er einem abverlangte: All die Zeit, all die Mühe, all die Kraft, die sie seit mehr als dreißig Jahren investierte, um diese Welt zu einem etwas besseren, etwas sichereren, etwas gerechteren Ort zu machen, waren auf Kosten ihrer Familie, ihrer Ehe, ja, von ihr selbst gegangen. Hatten Anna und Albert, die aufgrund von Nyströms falschen beruflichen Entscheidungen ihre geliebte Partnerin beziehungsweise die leibliche Mutter verloren hatten, nicht etwas anderes verdient? Verlässlichkeit und Stabilität? Jemanden, der täglich zu festen Zeiten aus dem Haus war, ohne das Risiko, bei der Arbeit schwer verletzt oder erschossen zu werden? Eine Friseurin vielleicht oder eine Anlageberaterin? Die Antwort war simpel: All das war allein Annas Entscheidung, nicht ihre. Es war höchste Zeit, damit anzufangen, dies zu akzeptieren. Sie hörte, wie hinter ihr die Haustür geöffnet wurde, und drehte sich um. Es war nicht Anders, sondern Sara, die zu ihr hinaustrat.
»Frierst du nicht ohne Mütze und Handschuhe?«
Nyström schüttelte den Kopf.
»Ich wollte nur einen Moment durchatmen und die frische Luft genießen. Schön hast du es hier, Sara. Toll, dass du den Schritt gewagt hast.«
Die junge Frau lachte.
»Ich habe es mir so oder so ähnlich vorgestellt, seit ich sieben Jahre alt war. Wer sind wir, wenn wir nicht danach streben, unsere Träume zu verwirklichen? Komm, ich zeige dir etwas.« Sie hakte sich bei Nyström ein, und sie gingen zu dem nahen Stall. Sara öffnete die Tür, schaltete das Licht an und führte Nyström zu einer der Boxen. Neugierig reckte ein Rappe ihnen den Kopf entgegen. Sein schwarzes Fell schimmerte edel. »Darf ich vorstellen, das ist Sherlock. Sherlock, das hier ist Ingrid.« Nyström streichelte dem schönen Tier den Hals. »Anna hat durchblicken lassen, dass du als Kind viel geritten bist und mit dem Gedanken spielst, wieder damit zu beginnen.«
Nyström nickte. Sie hatte dabei zwar an einen Reithof in Lammhult gedacht, der einen guten Ruf hatte. Aber was außer ihrer intuitiven Abwehrhaltung sprach eigentlich dagegen, stattdessen hierherzukommen? Vermutlich würden Anna und Albert nun einen großen Teil ihrer Zeit hier verbringen. Sie könnte so zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Hatte sie sich nicht vor fünf Minuten erst selbst versprochen, sich Sara gegenüber endlich weiter zu öffnen?
»Das klingt toll, Sara. Vielen Dank! Ich klopfe ab, was die Ärzte in Hinblick auf meine Gelenke sagen, aber eigentlich fühle ich mich wieder fit genug.«
»Gern, Chefin.« Sara lächelte verschmitzt. »Dann lasse ich euch beiden Hübschen für einen Moment allein, je eher ihr euch gegenseitig beschnuppert, desto besser.«
Es war seltsam. Eigentlich wollte sie widersprechen und mit Sara zusammen zu den anderen ins Haus zurückkehren, aber irgendetwas hielt sie davon ab. Irgendetwas hielt sie fest. Sherlocks weiches Fell und der Stallgeruch, der sie wie eine Zeitmaschine in ihre Kindheit zurückkatapultierte.
»Du kannst Anders ausrichten, dass ich gleich nachkomme«, rief sie Sara hinterher. Als die Stalltür zufiel, piepte ihr Handy. Seufzend nahm sie es aus der Manteltasche. Eine Nachricht von Stina Forss.
Ich verspreche, darüber nachzudenken.
Nyström lächelte in sich hinein, steckte das Smartphone wieder weg und kraulte Sherlock zwischen den Ohren.