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Haralds Farm sah der unseren sehr ähnlich, flacher als flach, aber das Haus war viktorianischer im Stil, hatte strahlenförmige Giebelbalken und eine große Schaukel auf der Veranda. Harold besaß nicht so viel Land wie mein Vater, aber er bewirtschaftete es gut und hatte genau wie mein Vater und über ebenso viele Jahre seinen Wohlstand vermehrt. Zur Zeit des Spanferkel-Essens wurmte es meinen Vater noch immer, dass Harold plötzlich im März, ohne meinem Vater vorher davon erzählt zu haben, einen brandneuen, geschlossenen, vollklimatisierten International Harvester-Traktor gekauft hatte, mit Kassettenspieler, um während der Arbeit auf den Feldern alte Bob Wills-Aufnahmen spielen zu können, und nicht nur den Traktor, sondern noch dazu eine neue Sämaschine. Mein Vater hatte sich angewöhnt, Harold jedes Mal, wenn sie sich trafen, mit einem Bob Wills-Falsett »Ah-hanh!« zu begrüßen, aber der wahre Zankapfel war nicht der Traktor und dass Harold meinen Vater im Maschinenwettstreit übertrumpft hatte, sondern dass er nicht verriet, wie er ihn finanziert hatte, ob kalt, also aus Erspartem oder dem Gewinn des letzten Jahres (in diesem Fall stand er sich besser, als mein Vater dachte, und besser als mein Vater), oder ob er zur Bank gegangen war. Es war durchaus möglich, dass Loren, der auf dem College Kurse über Farm-Management belegt hatte, Harold schließlich doch davon überzeugt hatte, dass eine gewisse Verschuldung für ein Unternehmen wünschenswert war. Mein Vater wusste es nicht, und das ärgerte ihn. Harold seinerseits ließ keine Gelegenheit aus, seinen neuen Traktor zu loben, sich kopfschüttelnd zu fragen, warum er so viele Jahre Staub geschluckt hatte, die Anzahl der Gänge (zwölf) zu verkünden, das leuchtende Rot der Lackierung zu bewundern, das sich so schön gegen ein grünes Feld, einen blauen Himmel abhob. Beim Spanferkel-Essen waren Jess Clark und die neuen Maschinen Haralds Zwillings-Ausstellungsstücke, und die Gäste aus der gesamten Umgebung konnten der Art nicht widerstehen, hatten keinen Grund, ihr zu widerstehen, mit der er sie zwischen den beiden hin- und hertrieb und dabei mit der schamlosen Unschuld, für die er bekannt war, Bewunderung von ihnen forderte und auch bekam.

Die anderen Farmer gaben ihrem Neid auf den neuen Traktor offen Ausdruck. Bob Stanley stand mitten in der Gruppe, die sich um den Tisch versammelt hatte, wo Loren das Fleisch aufschnitt, und sagte: »Wir werden uns demnächst alle diese Dinger kaufen. Wir alle haben große Felder, die tagelange Arbeit erfordern, wir alle haben keine Lust, weiter wie bisher Staub zu schlucken. Aber verdammt noch mal, wir glauben, wir hätten im Augenblick Dieselprobleme! Wartet mal ab, bis wir ’nen Haufen von diesen Monstern haben, die dann auf die Felder kommen.« Er wippte mit zufriedener Miene auf den Absätzen. Daddy hörte zu, sagte aber nichts. Er lobte das Fleisch, sah Jess von oben bis unten mit einem misstrauischen Blick an und aß eine Menge Obstsalat. Alle wussten, dass Daddy und Bob Stanley, der ungefähr in Tys Alter war, nicht die besten Freunde waren. Pete sagte manchmal: »Larry weiß, dass Bob an seinen Baum pinkeln will. Bob weiß das auch.« Bob redete mehr – er war ein geselliger Mensch –, aber es stimmte auch, dass die anderen Farmer, wenn Bob irgendeine Erklärung abgab, Daddy immer so ansahen, als erwarteten sie das letzte Wort von ihm, und Daddy liebte es, Skepsis auszustrahlen, und er konnte das mit einer ganzen Reihe von aufstöhnenden und grunzenden Lauten ausdrücken, die Bob geschwätzig und flach erscheinen ließen.

Als es zu dämmern begann, ging ich herum und sammelte Pappteller ein, und mir fiel eine kleine Gruppe auf, bei der sich Rose und Caroline und auch Ty und Pete befanden. Sie hatten sich auf Harolds hinterer Veranda zusammengefunden, und mein Vater redete ernsthaft in ihrer Mitte. Ich erinnere mich, dass Rose sich umwandte und mich über den Garten hinweg ansah, und ich erinnere mich an ein kurzes inneres Klirren, eine instinktive Gewissheit, dass ich vorsichtig sein musste, aber dann sah Caroline auf und lächelte und winkte mich herüber. Ich ging hinüber und stellte mich auf die unterste Treppenstufe der Veranda, Teller und Plastikgabeln in beiden Händen. Mein Vater sagte: »Das ist der Plan.«

Ich sagte: »Was ist der Plan, Daddy?«

Er blickte mich an, dann Caroline, und indem er sie die ganze Zeit ansah, sagte er: »Wir werden ’ne Gesellschaft bilden, Ginny, und ihr Mädchen werdet alle euren Anteil bekommen, dann werden wir diesen neuen Güllebehälter, diesen Slurrystore, bauen und vielleicht auch ein Silo, und wir werden die Schweinemast vergrößern.« Er sah mich an. »Ihr Mädchen und Ty und Pete und Frank, ihr werdet den ganzen Laden schmeißen. Ihr kriegt jeder ein Drittel von der Gesellschaft. Was hältst du davon?«

Ich leckte mir die Lippen und stieg die beiden Stufen der Veranda hoch. Jetzt konnte ich Harold durch das Fliegengitterfenster der Küche sehen, er stand in dem dunklen Türrahmen und grinste. Ich wusste, dass er glaubte, mein Vater habe zu viel getrunken – genau das dachte ich auch. Ich sah auf die Pappteller in meinen Händen hinunter, die das Zwielicht blau machte. Ty sah zu mir, und ich konnte in seinem Blick eine verdeckte und sehr beherrschte Freude erkennen – er wollte schon seit Jahren die Schweinemast ausbauen. Ich erinnere mich, was ich dachte. Ich dachte: Okay. Greif zu. Er bietet es dir an, und alles, was du zu tun hast, ist zugreifen. Daddy sagte: »Teufel noch mal, ich bin zu alt für das alles. Ihr würdet mich nie dabei erwischen, wie ich mir in meinem Alter einen neuen Traktor kauf. Wenn ich ’nem Sänger zuhören will, tu ich das in meinem eigenen Haus. Abgesehen davon, wenn ich morgen sterb, müsst ihr sieben- oder achthunderttausend Dollar Erbschaftssteuer zahlen. Die Leute tun immer so, als lebten sie ewig, wenn die Bodenpreise gut sind« (hier warf er Harold einen Blick zu), »aber wenn sie ’nen Infarkt bekommen oder ’nen Schlaganfall oder sonst was, dann müssen sie verkaufen, um den Staat zu bezahlen.«

Trotz dieses inneren Klirrens gab ich mir Mühe, freudige Zustimmung auszudrücken. »Die Idee ist gut.«

Rose sagte: »Die Idee ist hervorragend.«

Caroline sagte: »Ich weiß nicht.«

Als ich in die erste Klasse ging und die anderen Kinder sagten, ihre Väter seien Farmer, glaubte ich ihnen einfach nicht. Ich stimmte aus Höflichkeit zu, aber in meinem Herzen wusste ich, dass diese Männer Hochstapler waren – als Farmer und auch als Väter. In meiner Vorstellung war nur Laurence Cook Farmer und Vater. Im Ernst zu glauben, dass neben ihm auch andere so etwas sein konnten, hieß gegen das Erste Gebot verstoßen.

Meine ersten Erinnerungen an ihn sind, dass ich Angst hatte, ihm in die Augen zu sehen, überhaupt, ihn anzusehen. Er war zu groß, und seine Stimme war zu tief. Wenn ich mit ihm sprechen musste, redete ich seine Overalls, sein Hemd, seine Stiefel an. Wenn er mich nahe an sein Gesicht hob, wich ich vor ihm zurück. Wenn er mich küsste, hielt ich es aus, bot ihm als Gegenleistung eine knappe Umarmung dar. Gleichzeitig war eben dieses Furcht einflößende Wesen auch eine Beruhigung, wenn ich an Räuber oder Ungeheuer dachte, und wir lebten, das konnte jeder sehen, auf der besten und der bestgeführten Farm. Die größte Farm und der größte Farmer. Das passte zu meinem Gefühl, oder formte es vielleicht, von der richtigen Ordnung der Dinge.

Vielleicht gibt es eine Distanz, die die optimale Entfernung darstellt, aus der man seinen Vater sehen sollte, weiter als über den Abendbrottisch hinweg oder quer über den Raum, irgendwo in mittlerer Distanz: Bäume oder die geschwungene Linie eines Hügels machen ihn klein, aber seine typischen Merkmale sind noch sichtbar, seine Körpersprache ist noch deutlich. Nun, das ist eine Distanz, die ich nie gefunden habe. Die Landschaft hat ihn nie klein gemacht – die Felder, die Gebäude, der Windschutz aus Kiefern, sie waren genauso er, als wären sie aus ihm gewachsen und wie eine Hülse von ihm abgefallen.

Der Versuch, meinen Vater zu verstehen, hatte sich für mich immer ein bisschen so angefühlt, wie Woche für Woche in die Kirche zu gehen und unserem Pfarrer, Dr. Fremont, dabei zuzuhören, wie er Beweise für Gottes Güte oder Allwissenheit oder was immer zusammentrug. Er ging die neuesten Ereignisse durch, Geschehnisse der Bibel, Momente seines eigenen Lebens, Dinge, die andere Menschen ihm erzählt hatten, und er entwarf ein Bild, das für die wenigen Augenblicke feste Gestalt annahm, bevor andere Ereignisse, die nicht in das Bild passten, die Chance hatten, einem in den Kopf zu kommen. Am Ende aber gab der Pfarrer dann zu, ja er frohlockte sogar an dieser Stelle, dass die Dinge sich letztlich nicht zusammenreimen ließen, dass die Wirklichkeit unbegreiflich war und unsere Unfähigkeit zu verstehen der allergrößte Beweis nicht von Güte oder Allwissenheit oder was immer das Thema des Tages war, sondern von Macht. Und wenn Dr. Fremont von Macht sprach, wurde seine Stimme tiefer, seine Gesten wurden ausholender, und seine Augen leuchteten.

Mein Vater hatte keinen Pfarrer, niemanden, der ihm auch nur vorübergehend für uns zu einer festen Gestalt verhalf. Meine Mutter starb, bevor sie ihn uns als nur einen Menschen mit Gewohnheiten und Marotten und Vorlieben vorstellen konnte, bevor sie ihn in unseren Augen verkleinern konnte, damit wir ihn verstanden. Ich wünschte, wir hätten ihn verstanden. Das, sehe ich jetzt, war unsere einzige Hoffnung.

Als mein Vater den Kopf wandte, um Caroline anzusehen, war seine Bewegung langsam und aufgeschreckt, eine große Bewegung des ganzen Körpers, die mich daran erinnerte, wie massig er war – deutlich über einen Meter achtzig und mehr als einhundert Kilo schwer. Wenn sie es gewagt hätte, so hätte sie sagen können, sie wolle nicht auf der Farm leben, sie sei ausgebildete Anwältin und wolle einen Anwalt heiraten, aber das war ein heikles Thema. Sie rückte auf ihrem Stuhl herum und ließ ihren Blick über den sich verdunkelnden Horizont schweifen. Harald schaltete das Verandalicht an. Caroline mochte der Plan meines Vaters wie eine Falltür erschienen sein, die sie in eine Rutsche stürzen ließ und direkt wieder auf der Farm absetzte. Mein Vater starrte sie an. Weil es plötzlich so hell auf der Veranda geworden war, konnte ich ihr unmöglich ein Zeichen geben, den Mund zu halten, halt einfach nur den Mund, er hat zu viel getrunken! Er sagte: »Du willst nicht, mein Kind, also bist du raus. So einfach ist das.« Dann schob er sich aus seinem Stuhl hoch, polterte an mir vorbei hinaus in die Dunkelheit.

Caroline sah erschrocken aus, aber niemand sonst. Ich sagte: »Das ist lächerlich. Er ist betrunken.« Aber danach standen alle auf und zogen sich schweigend von der Veranda zurück, alle wussten, dass etwas Wichtiges passiert war, und auch, was es war. Mein Vater war in seinem Stolz, der immer leicht zu verletzen war, tief getroffen. Es würde nichts nützen, ihn daran zu erinnern, dass sie nur gesagt hatte, sie wisse nicht, sie habe ihn ja nicht zurückgewiesen, nur einen vollkommen vernünftigen Zweifel angemeldet, vielleicht sogar einen Zweifel, den ein Anwalt einfach anmelden muss, den sein eigener Anwalt anmelden würde, wenn mein Vater ihm dieses Projekt unterbreitete. Ich sah, dass Caroline vielleicht falsch verstanden hatte, worüber gesprochen worden war, und als Anwältin statt als Tochter gesprochen hatte. Auf der anderen Seite, vielleicht hatte sie überhaupt nichts falsch verstanden und einfach als Frau statt als Tochter gesprochen. Das war etwas, wurde mir blitzartig klar, das Rose und ich mit ziemlicher Vorsicht vermieden.

Ich ging in die Küche der Clarks und warf Teller und Gabeln in den Abfalleimer. Als ich mich zur Hintertür wandte, stand Jess Clark direkt neben mir, und im Verandalicht konnte ich seinen neugierig fragenden Blick sehen. Sein Gesicht war vertraut und fremd zugleich, freundlich und interessiert, aber fremd, ein Wissen versprechend, das keiner meiner Nachbarn haben konnte. In meiner Wendung zur Tür stieß ich gegen ihn, und er ergriff meinen Arm, damit ich mein Gleichgewicht wiederfand. Ich sagte: »Wo kommst du denn her?«

»Hast du nicht gehört, wie die Tür zugeschlagen ist?« Seine Hand blieb kurz auf meinem Arm liegen, dann ließ er mich los. »Ich wollte nach ein paar mehr Abfalltüten gucken. Weißt du, ich hab die ganze Zeit gedacht, in dieser Küche fehlt etwas, und jetzt merk ich, was es ist. Es ist der Behälter mit dem Bullensamen. Ich hab früher beim Essen immer einen Fuß darauf gehabt.«

Ich reagierte mit einem zerstreuten »Ach ja?«. Er sah mir ins Gesicht. Er sagte: »Was ist los, Ginny? Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich war mir sicher, dass du mich gehört hattest.«

»Ich dachte gerade, dass mein Vater sich verrückt aufführt. Ich mein, ich hab’s nicht wirklich gedacht, es war mehr ein panisches Gefühl.«

»Du meinst, diese Sache mit der Gesellschaft? Wahrscheinlich ist es tatsächlich ’ne gute Idee.«

»Aber er ist nicht der Typ für gute Ideen. Das war nicht er, der gesprochen hat, das war irgendein Banker. Oder aber, wenn er es war, der gesprochen hat, dann hat er noch von was anderem gesprochen, außer dass er seine Sterblichkeit akzeptiert und Erbschaftssteuern vermeiden will. Das war enorm weitsichtig und vernünftig von ihm.«

»Na ja, wart’s erst mal ab. Vielleicht wacht er morgen auf und hat die ganze Sache vergessen.« Jess’ Stimme klang überzeugt und flach, ohne Resonanz, so als wäre alles, was er sagte, nichts als die schlichte Wahrheit.

»Aber es ist bereits ein Durcheinander. Es ist bereits ein heilloses Durcheinander, und es ist erst fünf Minuten her.«

»Aber wieso denn? Du selber hast gesagt, dass du ein Gefühl von Panik hattest…« Er fuhr fort: »Jedenfalls, ich finde immer, dass die Dinge so passieren müssen, wie sie passieren, dass so viele innere und äußere Kräfte bei jedem Ereignis zusammenkommen, dass eine Art Schicksal daraus wird. Ich habe vom Buddhismus gelernt, dass Schönheit und bestimmt auch eine Menge Frieden darin liegt, wenn man das akzeptiert.« Ich blies durch die Nase. Ein Lächeln lief etwas unsicher über sein Gesicht. »Schon gut, schon gut«, sagte er. »Wie ist es hiermit? Wer vor etwas Angst hat, zieht es an.«

»Meine Mutter hat das immer über Tornados gesagt.«

»Siehst du? Die Weisheit der Prärie. Tu so, als war nichts passiert.«

»Das tun wir immer.«

Ich empfand plötzlich eine Scheu, so offen mit jemandem zu sprechen, den ich seit dreizehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ich sagte: »Lass uns meine Zweifel für uns behalten, okay?« Bei dem Gedanken, dass Harold das hier in der ganzen Gegend ausposaunte, so wie er es gerne tat, bekam ich eine Gänsehaut. Jess fing meinen Blick auf und hielt ihn. Er sagte: »Ich klatsch nicht mit Harold, Ginny. Mach dir keine Sorgen.« Ich glaubte ihm. Ich glaubte ihm alles und war beruhigt.

Eins war richtig: wenn mein Vater tot umfallen sollte, müssten wir einen Teil der Farm verkaufen, um die Erbschaftssteuern bezahlen zu können. Sam und Arabella hatten zweiundfünfzig Dollar pro Morgen bezahlt, der Preis war so niedrig, weil das Land sumpfig war, und Sam und Arabella hatten mit ihrer Vermutung Recht, dass einige ihrer Nachbarn in Mason City sich auf ihre Kosten amüsierten: Man stelle sich vor, sie haben unbesehen ein Stück Land gekauft, ein Stück Malariasumpf, man stelle sich das nur vor, wo sie doch solche Nachzügler waren und so unerfahren und so jung.

In den Dreißigern, als mein Vater und Großvater zwei Stücke Land dazukauften, bezahlten sie noch immer weniger als neunzig Dollar pro Morgen, und das für schon trockengelegtes Land. Die Familie, der er das Land abkaufte, zog zuerst nach Minneapolis, dann nach Kalifornien, aber in den Fünfzigern, als ich Kind war, sprach Bob Stanleys Vater, Newt, noch immer nicht mit meinem Vater, weil er die Stanley-Brüder bei dem Handel ausgestochen hatte – Newt und die Frau der Familie, die wegzog, waren Cousins. Die Depression war für unsere Familie eine Zeit umsichtiger Konsolidierung durch harte Arbeit, Glück und kluge Bestellung. Natürlich sah das in Zebulon nicht jeder so, aber mein Vater sagte dann immer: »Neid macht Lästermäuler.« Jedenfalls war das sumpfige Land wie Kompost, reine Fruchtbarkeit, und 1979 betrug der Marktwert des Landes 3200 Dollar pro Morgen, der Spitzenpreis für Land in Zebulon und im ganzen Staat. Seine tausend schuldenfreien Morgen machten ihn also zum mehr als dreifachen Millionär.

»Marv Carson hat ihm diesen Floh ins Ohr gesetzt«, sagte Ty zu mir, als wir uns an dem Abend fürs Bett fertig machten.

Ich sagte: »Harolds Traktor hat ihm den letzten Anstoß gegeben.«

»Der Traktor war auch Marvs Idee. Loren hat mir heute Abend erzählt, dass Marv Harald seit Weihnachten bearbeitet. Harold möchte gerne, dass dein Vater denkt, er habe ihn ganz bezahlt, hat er aber nicht. Loren wollte mir allerdings nicht sagen, wie viel sie angezahlt haben. Er hat gesagt: ›Ach was, Ty, die paar Dollar Schulden spielen doch beim Wert unseres Landes gar keine Rolle.‹«

»Diese Traktoren kosten vierzigtausend Dollar.«

»Na und, sein Land ist eineinhalb Millionen wert. Die Farm meines Vaters ist beinahe ’ne halbe Million wert. Ich hab daran gedacht, sie zu verkaufen und mit dem Geld die Schweinemast zu erweitern.« Er sah mich an und zuckte die Schultern. »Mann«, sagte er, »ich hab auch mit Marv gesprochen.«

»Mir wird ganz schwindlig, wenn du mit so hohen Zahlen um dich wirfst. Außerdem, wer würde bei diesen Preisen kaufen? Und alle jammern über die Zinsen.«

»Aber die Zinsen steigen immer, und vielleicht steigen die Preise ja mit.«

»Hm.« Ich setzte mich in den Fenstersitz und blickte die Straße hinunter zu Roses Haus. Alle Lichter waren aus. Ich sagte: »Rose sah erschlagen aus, als wir gingen.«

Ty sagte: »Diese Slurrystores sind toll. Sie fassen 300000 Liter Schweine-Düngermischung. Sobald alles kalt geworden ist, kann man es sofort aufs Feld bringen. Davon hätte ich gerne einen. Und einen neuen Schweinestall. Voll klimatisiert. Und wie war’s mit zwei Eber Meisterklasse, so reinrassig, dass sie mit einem am Tisch sitzen können und nichts auf die Tischdecke kleckern.« Er legte sich auf dem Bett zurück. »Süße rosa Jungs, Rockefeller und Vanderbilt.«

Es kam selten vor, dass Ty von seinen Wünschen sprach, deshalb hörte ich zu, ohne ihn zu unterbrechen. Er sagte: »Man bringt eine eigene gute Zuchtlinie in Gang und gibt die Babys zur Adoption frei. Jeder will eins. Man kann dann sagen: ›Ja, Jake, aber du musst ihn mit deinem eigenen Löffel füttern und ihn auf deiner Seite des Bettes schlafen lassen‹, und sie sagen dann: ›Klar, Ty, was immer du sagst. Ich spar schon für sein Colleges« Er rollte sich auf den Bauch und lächelte mich an. »Oder für ihrs. Sauen mit einer solchen Aussteuer kriegen natürlich auch nur das Beste.«

»Das gefällt mir bei Schweinen. Sie dürfen groß werden. Ich hab’s immer gehasst, wenn die Ericsons ihre Kälbchen schlachteten.«

»Ich wusste gar nicht, dass sie Milchwirtschaft betrieben haben.«

»Cal liebte Kühe. Er trug Fotos von seinen Lieblingskühen in seiner Brieftasche, neben denen von seinen Kindern. Ich glaub schon, dass er nicht aufgeben musste, aber als die Kühe nicht mehr da waren, war ihm alles nicht mehr so wichtig.«

»Holsteiner?«

»Oh, ja klar. Aber er hatte auch eine kleine Jersey, die er für die Familie gemolken hat. Sie haben immer köstliches Eis gemacht. Sie hieß Violet.«

»Wer?«

»Die Jersey-Kuh. Die Kinder hatten schlichte Allerweltsnamen, Dinah und Ruth, aber die Kühe hatten alle Blumennamen wie Primrose und Lobelia.«

»Hmm«, sagte Ty, und seine Augen schlossen sich. Seine gute Laune ließ alles möglich erscheinen. Zweifellos deutete jeder von uns die Ankündigung meines Vaters als die Antwort auf irgendeinen Wunsch oder eine Angst in sich selber. Ty sah sie sicherlich als die lange zurückgehaltene Anerkennung seiner guten Arbeit mit den Schweinen. Ich sah sie als eine Art verdeckter Belohnung für Jahre schwerer Hausarbeit und artiger Höflichkeit. Pete, der kein Land geerbt hatte, musste sich in dem Augenblick von seinem Status als Pächter in den eines Landbesitzers aufsteigen gesehen haben. Rose hätte sicherlich auch das Wort »Belohnung« gebraucht, aber eine verdiente, eine gerechte, in welcher sich die richtige Abfolge der Dinge ausdrückte, so wie damals, als Tys Vater im Schweinestall gestorben war und ihm die Farm hinterlassen hatte.

Mir schien, dass Ty es auf jeden Fall verdient hatte, einige seiner Wünsche zu verwirklichen. Ich sagte: »Aber was ist mit dieser Sache mit Caroline? Sie schläft tatsächlich bei Rose. Das wird ihn noch wütender machen.«

»Er kriegt seine Wutanfälle, und dann lässt er sich durch gutes Zureden auch wieder beruhigen. Allerdings hätte sie sich auch nicht so aufs hohe Ross setzen müssen.«

»Sie hat nur gesagt, sie weiß nicht.«

»Und sie hat das gesagt, als wüsste sie es genau, so wie sie’s immer macht.« Der Ton seiner Stimme klang milde, schläfrig, er nahm dieser Bemerkung jede Schärfe. Ty hatte Caroline immer gern gemocht und sie geneckt. Damals, als sie vierzehn war und Daddy wollte, dass sie Traktor fahren lernte, hatte Ty ihm das ausgeredet, weil er sich im Gegensatz zu vielen anderen Farmern der Gefahr von Unfällen bewusst war. Aber ich wusste auch, dass er sich buchstäblich nicht vorstellen konnte, warum sie etwas getan hatte, das er niemals würde tun können: wegzugehen aufs College und eigentlich nie wiederzukehren. Er gab ein leises, stotterndes Schnarchen von sich.

Viele Frauen, die ich kannte, klagten darüber, dass ihre Männer kaum mit ihnen sprachen. In ländlichen Städtchen gibt es immer eine Menge Clubs, wo die Frauen gute Werke tun, aber die guten Werke treiben auf einem gewaltigen Redefluss dahin, und darauf kam es meiner Meinung nach im Grunde an. Ty indessen erzählte mir immer alles, alles über seinen Tag mit meinem Vater und Pete, alles über das Vieh und die Ernte und was er auf den Feldern sah und wen er in der Stadt traf. Reden fiel ihm so leicht, dass andere neben ihm irgendwie erstickt wirkten. Und im Gespräch war er immer optimistisch und guter Laune. Selbst als Pete und mein Vater einander drohten, sie würden sich gegenseitig umbringen, was ungefähr alle zwei Jahre einmal vorkam, sagte Ty: »Ach, sie spucken nur große Töne. Aber dein Dad braucht das, dass Pete ihn reizt, um jung zu bleiben. Er weiß das.« Als ich meine Fehlgeburten hatte, brachten Tys Worte mich durch, bestimmt würde es mit dem nächsten klappen, bestimmt sollte dieses einfach nicht sein, bestimmt würde es mir bald besser gehen, er liebe mich, egal was.

Ich deckte ihn mit einem alten Quilt zu, und er drehte sich darunter um, und als er sich ins Kissen kuschelte, murmelte er halb im Schlaf ein Dankeschön. Ty glaubte, wir hätten drei Fehlgeburten gehabt. Alle nahmen an, wir würden es nicht mehr versuchen. In Wirklichkeit hatte ich fünf gehabt, die letzte am Erntedankfest. Nach der dritten, im Sommer ’76, sagte Ty, er bringe es nicht mehr fertig, mit mir zu schlafen, nicht ohne Verhütung. Er sagte mir nicht, warum, aber ich wusste, dass er keine weitere Fehlgeburt mehr ertragen konnte. Ein Jahr lang fand ich mich pflichtbewusst damit ab, dass wir es nicht einmal mehr versuchten, und dann kam mir eines Abends im Badezimmer der Gedanke, dass ich einfach nur so zu tun brauchte, als setzte ich das Pessar ein, dass Schwangerschaft zu meinem privaten Projekt werden könnte. Ich stellte mir vor, wie ich das Kind ohne ein Wort austragen würde, darauf wartend, wann Ty oder Rose anfangen würden, mich anzustarren, wie sie zögerten, mich zu fragen, ob ich nicht zu viel zunähme. Wenn ich das Geheimnis bei mir behielte, dachte ich, könnte ich auch das Kind halten. Bloß dass ich dann, als ich tatsächlich schwanger wurde, so aufgeregt war, dass ich es Rose erzählte, und deshalb musste ich danach, als ich das Baby verlor, an einem Tag, als Ty mit meinem Vater übers Wochenende zur Landwirtschaftsausstellung gefahren war, Rose auch das erzählen. Damals habe ich ihr versprechen müssen, es nie mehr zu versuchen. Sie sagte, ich würde langsam besessen davon und verrückt. Deshalb erzählte ich ihr beim nächsten Mal nichts, und als ich es am Tag nach dem Erntedankfest verlor, wusste niemand davon. Ich hatte wieder Glück – Ty war früh aufgestanden, um Pete bei der letzten Bohnenernte zu helfen –, und ich stopfte einfach das Nachthemd und die Laken und die Bettunterlage in eine Papiertüte und vergrub sie im alten Kuhstall, wo der Boden noch nicht gefroren war. Ich wollte sie dann irgendwann wieder ausgraben und zur Müllhalde bringen, aber das hatte ich noch nicht getan. Wenn ich sie ausgrub, würde ich es wieder versuchen wollen, und so weit war ich noch nicht. Ich war aber auch nicht so weit, dass ich es aufgeben wollte. Mit sechsunddreißig blieben mir noch fünf Jahre, vielleicht zwei oder drei Chancen, eines Morgens aus dem Schlafzimmer zu kommen und zu sagen: »Hier, Ty, hier ist unser Baby.«

Einer der vielen Vorteile dieses privaten Projekts, so dachte ich damals, lag darin, dass es mir eine ganze geheime Welt eröffnete, ich hatte zwei Leben, war zwei Ichs. Ich fühlte mich größer und vielfältiger als seit Jahren, voller unbekannter und voller ungenutzter Möglichkeiten. Ja, im Grunde war ich auch nach den beiden letzten Fehlgeburten hoffnungsvoller als damals nach der ersten.

Jenseits von Roses Haus waren auch die Fenster meines Vaters dunkel. Mir fiel ein, dass ich nicht daran gedacht hatte zu fragen, ob ich morgen zu ihm hinübergehen und sein Frühstück machen sollte. Darüber einigte ich mich normalerweise mit Rose jeden Abend. Wenn Caroline hier war, machte sie es gerne, aber sie war mit zu Rose gegangen, nachdem mein Vater die Party verlassen hatte. Ich öffnete das Fenster und blinzelte durch das Fliegengitter. Ich war mir sicher, dass ich seinen Track neben der Scheune parken sehen konnte, Petes Truck neben ihrer Veranda, das Dach unseres Trucks dahinter, in einem perlengleichen Frieden funkelnd. Die Sommerlaute der Ochsenfrösche und Zikaden waren noch nicht zu hören, aber durch die Kiefern nördlich des Hauses stöhnte eine Brise, die Schweine im Stall klirrten an ihrer Fütterungsanlage. Es war dieselbe ruhige und sichere Aussicht, die mir jede Nacht gehörte – die zu verlassen, wie ich mir zuweilen selber eingestand, ich Angst gehabt hatte, als die High School zu Ende gegangen war und die Frage auftauchte, was ich als Nächstes tun würde. Sie passte zu mir, und es war leicht, mich jede Nacht von ihr ergreifen zu lassen, aber ich hatte auch Wünsche, heimliche, leidenschaftliche Wünsche, und während ich dort saß und die schwere feuchte Brise genoss, überließ ich mich dem Gedanken, vielleicht ist es dies, vielleicht ist es dies, was alle Strömungen verändert und das geliebte Kind ans Ufer trägt.