Als ich mich um sieben Uhr auf Zehenspitzen die Treppe hinauf schlich, um nachzusehen, warum mein Vater meine Rufe, das Frühstück sei fertig, nicht beantwortet hatte, sah ich, dass er nicht da war. Das Bett sah eher so aus, als habe er darauf geschlafen und nicht darin, und mein Vater war in Schuhen hinausgegangen – weil seine Stiefel an der Hintertür standen, hatte ich angenommen, er sei noch im Bett. Der Truck neben dem Stall war kalt, und ich wollte gerade hinübergehen und nachsehen, ob er vielleicht bei Rose und Caroline war, als ein großer kastanienbrauner Pontiac vorfuhr. Mein Vater stieg auf der Beifahrerseite aus und Marv Carson stieg auf der Fahrerseite aus. Marv sah wackelig auf den Beinen aus, aber eifrig, bereits ausstaffiert in Anzug und Schlips. Er hastete hinter meinem Vater her, als sie auf die Veranda zukamen. Mein Vater sagte: »Ginny, Marv isst mit. Marv, du kannst dich waschen gehen.« Marv sah sich um, während er durch die Tür kam, wahrscheinlich nach einem Waschbecken. Ich sagte: »Du bist bestimmt sauber genug zum Essen, Marv. Geh rein und setz dich.«
Ich brachte Wurst, gebratene Eier, Bratkartoffeln, Cornflakes, Englische Muffins und Toast, Kaffee und Orangensaft auf den Tisch. Mein Vater zog sich den Stuhl, auf dem er immer saß, heran und setzte sich, dann schaufelte er sich mit dem ihm eigenen Appetit den Teller voll. Als ich herauszufinden versuchte, ob er die Sachen von gestern anhatte, sah er mich an und sagte gereizt: »Hast du schon gegessen? Was siehst du mich so an?«
»Ich hab mit Ty gefrühstückt, Daddy.«
»Na dann setz dich entweder hin oder geh raus. Du machst mich nervös, wenn du da so rumstehst.«
Ich goss mir eine Tasse Kaffee ein und setzte mich.
Er sagte zu Marv: »Stimmt irgendwas nicht mit dem Essen?«
»Schmeckt vorzüglich.«
»Warum isst du dann so komisch?«
Marv verfärbte sich rosa, lächelte aber tapfer. »Die Leute wissen nicht, dass es nicht darauf ankommt, was man isst, sondern auf die Reihenfolge, in der man es isst.«
»Ankommt für was?«
»Verdaulichkeit, effizienter Verbrauch von Nährstoffen, Entschlackung.«
»Du bist nicht dick.«
Das war er wirklich nicht. Er sagte: »Eigentlich denk ich über Fett überhaupt nicht mehr nach. Jahrelang war ich wie besessen davon, aber das ist eine sehr niedrige Stufe von Körperbewusstheit. Über Fett und Kalorien nachdenken ist im Grunde ein Symptom des Problems und nicht ein Weg, eine Lösung zu finden.«
»Was ist die Lösung?«
»Meine Hauptanstrengung ist jetzt, dass ich mir der Giftstoffe bewusst bin und versuche, sie so regelmäßig wie möglich abzustoßen. Ich uriniere jetzt zwölf- bis zwanzigmal am Tag. Ich schwitze tüchtig. Ich achte auf meine Darmbewegungen.« Er sagte dies völlig ungeniert. »Weil ich weiß, dass das alles regelt. Zum Beispiel früher, als ich Sport als Aerobicübung oder Muskeltraining angesehen hab, ist es mir sehr schwer gefallen, mich dafür zu motivieren. Jetzt sehe ich Sport als eine Übung an, die meine Körperflüssigkeiten in Bewegung bringt, meine Zellen reinigt, und ich will Sport machen. Wenn ich keinen Sport mache, merk ich, wie ich von den Giftstoffen in meinem Gehirn ein bisschen verrückt werde.«
Ich sagte: »Wie merkst du das?«
»Och, weißt du, negative Gedanken. Sorgen über Sachen in der Bank. Pessimismus. Solche Sachen. Ich hatte das früher alles. Ich kann dir aus einer Meile Entfernung sagen, wenn sich jemand im Stadium der Giftstoffüberlastung befindet.«
Ich sagte: »Welche Nahrungsmittel sind die mit den Giftstoffen?«
»Meine Güte, Ginny, alles enthält Giftstoffe. Das ist es ja gerade. Man kann sie nicht vermeiden. Wenn du denkst, du könntest es, dann ist das nur ein weiteres Symptom für das Stadium der Giftstoffüberlastung. Jahrelang hab ich mich damit verrückt gemacht, nur ja das Richtige zu essen. Rindfleisch hab ich nie gegessen, Schokolade, Kaffee. Es wurde immer schlimmer. Jeden Monat hab ich was Neues weggelassen, so verzweifelt hab ich nach der richtigen Zusammenstellung gesucht. Ich war verrückt. Ich wurde immer dünner, aber dann lagern sich die Giftstoffe nur in den Muskeln und Organen ab, und das ist im Grunde schlimmer.«
»Wann war das?«, fragte ich. »Ich wusste überhaupt nichts davon.«
Daddy starrte Marv jetzt nicht mehr an, sondern aß, was eine Erleichterung war.
»Niemand wusste was davon.« Er aß seine Eier auf und begann mit seiner Wurst. »Es war eine sehr einsame Zeit für mich. Jetzt sprech ich darüber, wann immer es sich ergibt. Ich fühl mich viel besser. Man atmet Giftstoffe auch durch die Lungen aus.«
»Hmmp«, sagte mein Vater. Marv verstummte, und Daddy sah ihm zu, wie er sein Muffin aß. Er sagte: »Hast du irgendeine scharfe Soße? Tabasco ist am besten.«
»Wofür?«, fragte mein Vater.
»Um ordentlich ins Schwitzen zu kommen.« Er schenkte uns ein unschuldiges Lächeln. Ich lächelte zurück und schüttelte den Kopf. »Wir essen nicht besonders scharf gewürzt.« Marv wischte sich den Mund und sagte: »Schon in Ordnung. Das mach ich dann später.«
Daddy schien mehr oder weniger der Alte zu sein. Er trank jeden Abend und war jeden Morgen ruppig. Das war seine Art, an die wir uns mittlerweile gewöhnt hatten und die auf ihre Weise beruhigend war. Ich hatte mich entschlossen, ihn geradewegs zu fragen, ob er das mit der Gesellschaft ernst gemeint hatte und ob Ty und Pete bei der Bewirtschaftung der Farm mehr zu sagen haben sollten. Tatsache war, dass die beiden und auch Rose nur Augenblicke gebraucht hatten, um geistig von der Farm Besitz zu ergreifen, und dass Caroline nur Augenblicke gebraucht hatte, um sich zu distanzieren. Ungläubigkeit oder auch nur Erstaunen hatten sich auf Harolds Veranda mit wunderbarer Plötzlichkeit in Absichten und Pläne verwandelt. Meine Unterhaltung mit Ty hatte mich beruhigt, aber als ich dann wach wurde, machte ich mir Sorgen um Pete. In Petes normaler Verfassung wechselten ständig freudige Gewissheit und wütende Enttäuschung ab. Ich hatte ein bisschen Angst vor ihm.
Am Abend vor ihrer Hochzeit saß Rose am Fußende meines Bettes, und während sie sich die Haare aufdrehte, sang und jubelte sie, so erstaunt war sie, dass sie ihn tatsächlich so weit gekriegt hatte, sie zu heiraten. Insgeheim war ich auch erstaunt, und vielleicht ein bisschen eifersüchtig, so gut aussehend, wie Pete war, James Dean wie aus dem Gesicht geschnitten, aber lächelnd und übermütig, nie rebellisch oder verdrossen. Und er war ein richtiges musikalisches Talent – er spielte vier oder fünf Instrumente, gut genug, um sich während der Collegezeit selbst durchzubringen, indem er in drei verschiedenen Ensembles mitspielte – dem Unistreichquartett (erste Geige), einer Country-Band (Fiedel, Mandoline und Banjo) und einer Jazzgruppe (Klavier, manchmal Bass). Er verdiente mehr Geld und ging zu mehr Festlichkeiten – Hochzeiten und Partys, Konzerten, Jamsessions, Dorftanzfesten, Beerdigungen, Proben, Auftritten in Bars –, als einer alleine verkraften zu können schien. Er spielte in allen größeren Orten des Staates, und Ty und ich sahen ihn in all seinen Inkarnationen – Flanellhemden und Stiefeln, Smoking, blauem Anzug, schwarzer Lederjacke. Seine Energie und seine Lust, Musik zu machen, schienen unerschöpflich.
Ich habe nie verstanden, was er in Rose sah; nicht, dass es da nichts zu sehen gegeben hätte – ich habe Rose immer geliebt –, bloß dass da nichts in ihr war, das dem in ihm irgendwie glich. Sie war hübsch, aber nicht schön, intelligent, aber auch sarkastisch, nie schick, nie ehrgeizig, immer darauf aus, ein paar Jahre in der Grundschule zu unterrichten, dann zu heiraten und zwei Kinder zu bekommen und wieder auf einer Farm zu leben, wenn auch nicht unbedingt auf unserer Farm – eine Pferdefarm in Kentucky war eins ihrer frühen Ziele. Als sie anfing, sich mit Pete zu treffen, schien seine Karriere gerade erst anzufangen, sie brachte ihn in Städte wie Chicago, Kansas City, Minneapolis und weiter. Ich machte mir Sorgen, Rose könne verletzt werden, könne zu sehr auf jemanden zählen, der sie würde zurücklassen müssen.
Dann verkündete er, er sei das Herumziehen müde und sogar die Musik, er wolle sich niederlassen und Farmer werden, und sie heirateten, und er brachte dieselbe Begeisterung mit in dieses neue Abenteuer. Aber mit Daddy schien er sich einfach nie gut stellen zu können. Ich bezweifle, ob Rose und Pete überhaupt vorhatten, länger auf unserer Farm zu bleiben – sie waren ehrgeiziger. Pete stand früh auf und ging spät zu Bett, schäumte über vor Ideen, fieberte nur so vor Ideen. Pete wollte einen Volltreffer landen, und eine ausgebrütete Idee war für ihn schon ein gelandeter konkreter Volltreffer, an dem er festhielt. Zweifel, besonders der Zweifel meines Vaters, stellte viel mehr als eine Herausforderung dar, er war eher wie das plötzliche Verschwinden von etwas, das er schon fast in Händen gehalten hatte. Ich brauchte Jahre, bis ich verstand, wie tief Pete jedes Mal enttäuscht war, wenn seine Begeisterung auf die unvermeidliche Skepsis meines Vaters traf. Er unterdrückte seine Wut und blieb ruhig, innerlich aber wurde er zerfressen, und später brach es dann irgendwann aus ihm heraus, gegen Ty oder Rose, sogar gegen mich oder seine Töchter. Seine Wutausbrüche waren wild, bösartig eloquent, Beleidigungen und Drohungen steigerten sich, bis sie am Ende so verrückt wurden, dass man seinen Ohren nicht mehr traute. Mir jagte das Angst ein, nicht aber Rose. Sie stand, die Arme über der Brust gekreuzt, da, schüttelte langsam den Kopf und sagte: »Du solltest dich hören, du solltest dich wirklich hören.« Kühl, abweisend, um Strafe geradezu bettelnd. Die Strafe kam, später, nicht oft, aber oft genug. Dann brach er ihr eines Abends den Arm, und danach, das war vier Jahre her, fasste er sie nie wieder an, ging wieder durch eine Wandlung, beruhigte sich in verbitterter, ständiger Verzweiflung. Er trank. Mein Vater trank. Darin zumindest waren sie sich einig.
Ihr Hochzeitsbild stand auf dem Klavier in ihrem Wohnzimmer, und obwohl Pete über die Jahre weniger zunahm als jeder von uns, sah er seinem jugendlichen Selbst weniger ähnlich als jeder von uns – sein Gesicht hatte scharfe Linien und Falten von der Sonne bekommen, sein Haar war ausgebleicht, sein Körper wirkte verknotet und steif vor Anspannung. Der lachende, musikalische Junge, der unmögliche fröhliche James Dean, war irgendwo verloren gegangen.
Mit einem Anteil an der Farm ermutigte mein Vater Pete zum allerersten Mal, erlaubte ihm zum ersten Mal, einen Traum zu verwirklichen, behandelte er ihn zum ersten Mal nicht mehr wie eine bezahlte Hilfskraft oder einen Stadtjungen. Zuneigung trieb meine Sorge um Ty an. Meine Sorge um Pete war von Furcht getrieben.
Das Problem, dachte ich, würde sein, meinen Vater dazu zu bringen, den Plan wirklich umzusetzen. Ich wälzte diesen Gedanken hin und her, während ich von den rosigen Pfirsichbäckchen Marv Carsons zu der mürrischen Miene meines Vaters blickte, als Marv alles für mich löste. Er sagte: »Früher hab ich ’ne Fünftagewoche gehabt. Jetzt hab ich ’ne Siebentagewoche. Aber das ist es ja gerade. Es gibt keinen Unterschied zwischen Arbeit und Spiel. Es ist ein ständiges Fließen, wie mit allem. Wie auch immer, ich hab einige Papiere im Auto, und ich hab gestern Abend mit Ken LaSalle geredet. Wir können uns nach der Kirche hier treffen, noch ’n bisschen darüber reden und unterzeichnen. Wie war das?«
»Kann mir gar nicht früh genug sein«, sagte mein Vater. »Ginny, du holst die anderen her, und wir machen’s vorm Essen.« Er wandte sich an Marv. »Bleibst du zum Essen?«
»Danke, nein.«
»Na ja, immerhin etwas.« Er ging zur Tür und stieg in seine Stiefel, dann sagte er zu Marv: »Komm mit. Lass uns nachsehen, was die Felder machen.«