Caroline war sechs, als unsere Mutter starb, und zuerst war die Rede davon, dass sie bei der Cousine meiner Mutter in Rochester, Minnesota, leben sollte. Cousine Emma arbeitete in der Verwaltung der Mayo-Klinik, war unverheiratet und ohne Kinder, und ich glaube, diese »Lösung« des »Problems« Caroline wurde schon in der Zeit diskutiert, als meine Mutter krank war, und ich glaube, dass ein paar Damen von der Kirche, die sich in der Literatur über das Waisendasein gut auskannten, dies als einen wünschenswerten, wenn nicht sogar romantischen Gang der Dinge betrachteten. Cousine Emma verfügte dank ihres Berufs über reichlich Geld, so dass für gute Kleidung plus Grundschule und High School in der Stadt gesorgt sein würde. Mein Vater aber erklärte kurzerhand, dass Rose und ich alt genug wären, uns um unsere Schwester zu kümmern, und dabei blieb es.
Sie war kein schwieriges Kind, nicht schwer zu versorgen. Sie spielte mit ihren Puppen, die früher unsere Puppen gewesen waren, aß, was man ihr hinstellte, hörte, wenn man ihr auftrug, die Puppenkleider wegzuräumen oder ihr eigenes Kleid sauber zu halten. Sie hatte kein Interesse an den Maschinen, die zur Farm gehörten – Hänger voller Korn, Erdbohrer, Traktoren, Maispflücker, Trucks. Sie hielt sich von den Schweinen fern, sogar von den Hunden und Katzen, die vorübergehend bei uns lebten. Sie ging nie auf die Straße oder entfernte sich außer Sichtweite vom Haus. Sie ging nie, soweit ich weiß, in die Nähe des Gitters über einem Entwässerungsschacht. Wir hatten Glück und konnten uns dem Teil der Kindererziehung zuwenden, den wir am besten kannten – Kleider für uns und die Puppen nähen, Kekse backen, aus Büchern vorlesen, Regeln durchsetzen, die hießen: wasch dich gründlich, iss, wie es sich gehört, geh zu einer bestimmten Zeit schlafen, sag »Ma’am« zu Damen und »Sir« zu Daddy und anderen Männern, mach deine Hausaufgaben. Wir hatten nur die Prinzipien, die für uns gegolten hatten, aber es stimmte, wie Daddy häufig sagte, dass sie braver war, als wir es gewesen waren, weder eigensinnig oder verschlossen wie ich, noch rebellisch und frech wie Rose. Er lobte ihre Zärtlichkeit, sie war ein »liebes Kind«, das seine Puppen küsste und auch ihn küsste, wenn er einen Kuss haben wollte. Wenn er »Cary, gib mir einen Kuss« sagte, so wie er es immer sagte, ohne Vorwarnung, halb als Befehl, halb als Bitte, sprang sie auf seinen Schoß und legte ihm die Ärmchen um den Hals und gab ihm einen Schmatz auf den Mund. Wenn ich das sah, hatte ich immer ein komisches Gefühl, so als wälze sich in mir ein schwerer Stein herum, jener Stein des Eigensinns und des Widerwillens, der dafür gesorgt hatte, dass er mich nicht mehr fragte.
Unsere Prinzipien wurden ernsthafter, als Carolines erstes High School-Jahr bevorstand. Wir waren uns einig, dass sie ein normales High School-Leben haben sollte, mit Verabredungen und Tanzen und Freizeit nach der Schule. Sie sollte nicht an den Schulbus gekettet sein. Sie sollte Freunde haben, und sie sollte bei ihnen in der Stadt übernachten dürfen, wenn sie sie einluden. Rose, die zu der Zeit arbeitete, zahlte für ihre Kleidung. Ich gab ihr eine Art Taschengeld. Wenn sie zu einer Geburtstagsparty eingeladen war, gaben wir ihr Geld für ein schönes Geschenk. Das waren unsere Prinzipien, und sie standen im Gegensatz zu Daddys erklärter Ansicht, zu Hause sei es am besten, hausgemacht sei gut genug, und wenn wir schon für den Schulbus bezahlen müssten, dann, zum Donnerwetter, sollte sie ihn auch benutzen. Wir waren ihre Verbündeten. Wir deckten sie und besänftigten Daddy, wenn er seine Wutanfälle hatte. In den beiden letzten High School-Jahren bekam ich Daddy sogar so weit, dass sie mit einem Jungen zum Tanz gehen durfte. Rose kaufte ihr ein Abonnement für Glamour und entwickelte sich zu einer wahren Meisterin im Kopieren der einfacheren Kleiderschnitte, die trotzdem in Zebulon County nicht zu kriegen waren.
Wir kamen gut mit ihr zurecht. Sie blieb liebenswert, wie sie als Kind gewesen war. Sie bekam gute Noten, war ehrgeizig und ging schließlich fort, wie wir es geplant hatten – keine Farmersfrau, auch kein Farmer, sondern etwas Aufgeweckteres und Klügeres und Vielversprechenderes. Manchmal sah sie uns in gedankenlosem Staunen an und sagte: »Mein Gott! Warum ist nie eine von euch beiden gegangen? Ich kann nicht glauben, dass ihr nie irgendwelche anderen Pläne gehabt habt!« Solche Bemerkungen verärgerten Rose maßlos, aber mir gefielen sie. Zeigten sie doch, wie gut und nahtlos wir unsere Prinzipien befolgt hatten.
Ich entschloss mich, sie anzurufen, sobald ich Rose zu Hause abgesetzt hatte, aber als ich bei Daddy vorbeifuhr, stand sein Pick-up auf der Auffahrt, und ich konnte ihn durch das große Fenster vorne sehen, kerzengrade aufrecht in seinem La-z-boy-Sessel sitzend und nach draußen starrend. Irgendetwas war an diesem Bild, das alle anderen Gedanken aus meinem Kopf vertrieb. Ich war zu feige, sofort umzudrehen und nachzusehen, und als ich eine oder zwei Minuten später bei uns war, brachte ich es einfach nicht über mich, aus dem Auto zu steigen. Ich konnte die Überschrift in der Pike Weekly News sehen – »Farmer in seinem Wohnzimmer zusammengebrochen«. Wenn Rose mich gefragt hätte, nicht was mir am schwersten falle, sondern was meine schlimmste Gewohnheit sei, hätte ich ihr geantwortet, dass ich im Grunde immer Katastrophen erwartete.
Ich stieg aus und schloss die Tür, öffnete sie wieder und stieg ein und fuhr die Straße hinunter. Durch das Fenster konnte ich sehen, dass er immer noch kerzengrade in seinem Sessel saß, aber ich konnte mir nicht helfen, ich glaubte, nur die Arme hielten ihn. Dann sah ich, wie er die Hand zum Kinn hob. Ich bog erleichtert, überrascht, in die Auffahrt, wieder einmal ein abgewendetes Unglück. Als ich zur Tür hereinkam, sagte er: »Was ist los?«
»Nichts.«
»Du bist vorbeigefahren, und dann bist du wegen irgendwas zurückgekommen.«
»Ich bin zurückgekommen, weil ich gucken wollte, was du machst.«
»Ich hab ’ne Zeitschrift gelesen.«
In der Nähe seines Sessels waren keine Zeitschriften, und auch nicht auf dem Tisch neben ihm.
»Ich hab aus dem Fenster gesehen.«
»Schön.«
»Und ob das schön ist.«
»Brauchst du irgendwas?«
»Ich hab was gegessen. Ich hab’s in der Mikrowelle aufgewärmt.«
»Gut.«
»Es wird schneller kalt, wenn man’s so aufwärmt. Mein Essen war eiskalt, bevor ich’s aufhatte.«
»Das hab ich noch nie gehört.«
»Ja, ist aber so.«
»Ich hab Rose heute zum Arzt gefahren.«
Er rückte in seinem Stuhl. Ich folgte seinem Blick und sah Ty, der weit hinten im Westen das Feld bestellte. In der Stille konnte ich nur das Dröhnen des John Deere hören, von der Entfernung auf ein dumpfes Brummen reduziert. Mein Vater sagte: »Alles okay mit ihr?«
»Ja. Der Arzt war mit allem zufrieden.«
»Wenn ihr was passiert, sind ihre Kinder in der Klemme.«
Mein Vater hatte diese Art, unbeantwortbare Bemerkungen zu machen. Wollte er damit seine Missachtung Pete gegenüber ausdrücken? Oder mir gegenüber? Wollte er sagen, dass ich nicht fähig sei, einzuspringen und sie großzuziehen? Oder dachte er über unsere Geschichte seit dem Tod meiner Mutter nach? Über das, was seiner Meinung nach Roses erste und wichtigste Pflicht war? Oder war dies eine Art allgemeine Überlegung zu unserer Familie?
Ty würde wahrscheinlich sagen, er habe damit wohl gemeint, er wäre in der Klemme, wir wären in der Klemme, wage das aber nicht auszusprechen. Manchmal dachte ich, wir seien naiv, meinem Vater weichere Gefühle zuzuschreiben. Ich sagte: »Ihr geht’s gut. Wir brauchen uns keine Sorgen zu machen.«
»Wir brauchen uns darüber keine Sorgen zu machen. Es gibt viel, worüber wir uns Sorgen machen müssen.«
»Hm, ja, natürlich.«
Ich sah mich um, ob es irgendeine Kleinigkeit zu tun gab, damit mein Zurückkommen so routinemäßig wie möglich aussah. Eine Sache an meiner Gewohnheit, das Schlimmste zu erwarten, war, dass sie mich in peinliche Verlegenheit brachte; die Leute durften natürlich nicht merken, dass ich mir ihren Tod vorgestellt hatte. Aber abgesehen von Kochen, Waschen und größerem Hausputz benötigte mein Vater wenig Hilfe in seiner häuslichen Alltagsroutine. Das Geschirr von seinem Essen war bereits gespült und stand zum Abtropfen auf der Ablage. Die Arbeitsfläche war gewischt und der Boden gefegt. Wirklich, er war immer ein lebendes Beispiel der Maxime »Mach hinter dir sauber« gewesen. Es gab nichts zu tun. Ich ließ meinen Blick zu seinem Gesicht zurückwandern. Er starrte aus dem Fenster. Ich sagte: »Okay. Hm, ich hab einen Erdbeer-Rhabarber-Pie gemacht. Ich bring dir was davon zum Abendessen rüber. Ich hab schon ein paar Erdbeeren, hab ich dir das erzählt?«
»Warum bestellt er das Feld? Sind sie mit dem Bohnensäen fertig?«
»Ich weiß nicht. Fast, glaub ich.«
Er starrte schweigend auf den Traktor, der von der linken Seite des großen Fensters auf die rechte kroch.
»Daddy? Du kannst zu uns zum Abendessen kommen, wenn du möchtest. Du könntest ihn dann fragen.«
Sein Gesicht rötete sich, er starrte hinaus.
»Daddy?«
Er sah mich weder an, noch antwortete er, noch nicht einmal, um mich wegzuschicken. Es machte mich nervös, ihn anzusehen, ich wurde unruhig und wollte so schnell wie möglich gehen, als wäre hier irgendetwas, vor dem ich fliehen müsste. »Daddy? Möchtest du noch irgendwas, bevor ich geh? Ich geh jetzt.« Ich blieb an der Küchentür stehen und betrachtete für einige Sekunden seinen unbeugsamen Hinterkopf. Als ich erneut vorne am Haus vorüber fuhr, hatte er sich kein bisschen bewegt. Ich konnte das Gefühl nicht loswerden, dass seine Wachsamkeit Ty bedrohte, den arglosen Bodenbesteller, der sich in aller Unschuld darauf konzentrierte, nur ja niemals von den Reihen abzukommen, die sich vor ihm erstreckten. Der grüne Traktor kroch Zentimeter um Zentimeter voran, und der Blick meines Vaters folgte ihm wie der Lauf eines Gewehrs.
Ungefähr eineinhalb Stunden später rief Rose an und sagte: »Warum sitzt Daddy am vorderen Fenster und starrt über euer Südfeld?«
»Sitzt er da immer noch?«
»Er saß da, als ich nach Cabot reingefahren bin, um Brot zu holen, und er saß da, als ich zurückgekommen bin. Ich hab mitten auf der Straße angehalten und ihn beobachtet. Nicht einen Muskel hat er bewegt.«
»Wo ist Pete?«
»Schweißt irgendwas an der Sämaschine. Er ist da schon dran, seit wir aus Mason City zurück sind.«
»Ist Ty immer noch auf dem Feld zugange? Ich kann den hinteren Teil des Feldes von hier aus nicht sehen.«
»Als ich vorbeikam, fing er gerade die Reihe am Zaun neben der Straße an.«
»Ich bin mir sicher, Daddy beobachtet ihn. Ich bin mir sicher, da ist irgendein Streit im Gange. Er war auf irgendwas wütend und hat überhaupt keine Notiz von mir genommen, als ich bei ihm war.«
»Hm, gut für dich. Da hast du nichts für ihn tun müssen.«
»Findest du das nicht komisch?«
»Also, was hast du denn gedacht? Genau das wird’s sein, worin sein Rentnerdasein bestehen wird, Pete und Ty nicht aus den Augen zu lassen, was immer sie machen, alles immer besser zu wissen als sie. Du hast doch wohl nicht geglaubt, er würde angeln gehen, hm? Oder nach Florida ziehen?«
»So weit hab ich nicht vorausgedacht.«
»Diesen totenstarren Blick perfektionieren wird von jetzt an sein Lebenswerk sein, deshalb sollten wir uns lieber gleich daran gewöhnen.«
Sie legte auf.
Ich musste bei dem Gedanken lächeln, dass sie angehalten und ihn beobachtet hatte. Sie hatte bestimmt da unten am Fuße des Hügels gestanden, die Hände in die Hüften gestemmt und ihren Blick zu seinem hinaufgejagt. Sicher hatte keiner von beiden auch nur mit dem Kopf genickt. Sie waren vom gleichen Stamm, das stand fest.
Ich drückte den Telefonknopf herunter und ließ ihn wieder hochschnellen, bereit, Carolines Nummer im Büro zu wählen, nur dass mich plötzlich eine Schüchternheit überkam, so als gäbe es zwischen uns eine Kluft, die ich überwinden musste. Heute war Donnerstag, und ich hätte sie Sonntagabend anrufen sollen, das war mir plötzlich klar. Rose hätte ich Sonntagnachmittag angerufen, hätte es so lange versucht, bis sie zu Hause war, aber Caroline hatte ich beinahe vergessen, an Caroline hatte ich kaum noch gedacht im Wirbel all der Dinge um Daddy und Rose und, ja, ehrlich gesagt, der Gedanken an Jess Clark. Es stimmte, dass Caroline und ich keine enge Beziehung hatten, dass wir nicht viel redeten, keinen Klatsch austauschten. Ihre Besuche jedes dritte Wochenende, wenn sie bei Daddy blieb und für ihn kochte, waren im Allgemeinen die einzige Gelegenheit für mich, mit ihr zu sprechen. Zum einen waren die Leute auf dem Land, auch 1979 noch, Ferngesprächen gegenüber misstrauischer und es einfach nicht gewohnt, viel am Telefon zu reden – wir hatten bis 1973 eine Gemeinschaftsleitung gehabt, und deshalb wurden Gespräche über private Dinge am Telefon immer noch als riskant angesehen. Zum anderen war es für mich und Rose zu einer so alten Gewohnheit geworden, uns über Daddy und Caroline zu beraten, dass es mir eine Spur unvertraut, fast ein wenig erschreckend schien, mit ihr darüber zu sprechen. Neugierig. Als mischte ich mich in etwas ein, das mich nichts anging. Und dann sahen sie persönliche Anrufe in ihrem Büro nicht gerne. Die Telefongespräche wurden registriert, weil sie ihren Kunden Telefonberatungen in Rechnung stellten. Ich drückte den Telefonknopf wieder herunter und legte dann den Hörer auf. Sonntag setzte ich mir als letzte Frist. Wenn ich bis Sonntag nichts von ihr hören sollte, würde ich sie wirklich anrufen.