14

Als wir zu Hause ankamen, waren Ty und Pete damit beschäftigt, eine Klimaanlage in einem der Nordfenster in unserem Wohnzimmer einzubauen. Sie brachten sie gerade auf der Plattform an, die sie draußen an der Fensterbank angenagelt hatten, hoben sie ächzend und einander kurze Anweisungen gebend hoch. Ich trieb die Mädchen in die Küche, wo Rose dabei war, die letzten grünen Salatblätter der Saison trockenzuschütteln. Sie sagte: »Jess kommt um sieben rüber. Ich hab Daddy was zu essen gemacht. Er war nicht davon abzubringen, Punkt fünf zu essen, obwohl ich ihm gesagt habe, er soll rüberkommen und mit uns allen zusammen essen.«

»Du warst heut Abend mit Essen bei dir dran.«

»Ja, und das hier hab ich für unsere Familie heute Abend entschieden. Weißt du, es ist ganz schön verrückt, jeden Freitag dasselbe tun zu müssen, Woche für Woche, gleiches Essen, gleiche Zeit. Es war gut für ihn gewesen …«

Sie sah mich an. Irgendetwas muss an meinem Blick gewesen sein, denn sie sagte: »Er ist nur deshalb so starr, weil wir ihn lassen.«

Dann sagte sie: »Er hat was zu essen gekriegt, okay?«

Ich nickte.

Sie redete weiter. »Und ich hab Hamburger gemacht. Sie sind im Kühlschrank. Der Grill ist so weit, wir können sie also jederzeit drauflegen.« Die Mädchen drängten sich an sie, und sie gab ihnen einen Kuss auf den Kopf.

Ich sagte: »Neue Klimaanlage?«

»Fast neu. Da war ’ne Annonce in der Zeitung. Ty ist nach Zebu-Ion reingefahren und hat sie geholt. Er hat euch im Schwimmbad gesehen und gewinkt, aber ihr habt ihn nicht gesehen.«

Ich muss zweifelnd geguckt haben, denn sie sagte: »Sag jetzt nichts von Nebenhöhlen oder dass man sich an die Hitze gewöhnt, so wie Daddy. Man sollte nicht so schwitzen. Es ist schlecht für einen, und es ist gefährlich.« Pammy nahm sich ein bisschen von dem Salat. Rose ließ sie eine kleine Tomate essen, dann scheuchte sie sie weg: »Geh raus und wasch dir die Haare draußen unter dem Schlauch. Mit Shampoo. Ich kann das Chlor riechen.« Pammy schlurfte hinaus. Sie sah aus, wie ich mich fühlte, müde, aber gestärkt durch die ungewohnte Anstrengung, in Gedanken bereits im Bett. Ich sagte: »Sie waren lieb. Mary Livingstone kam zu mir und sagte Linda …«, als das Telefon klingelte. Rose machte den Kühlschrank auf und holte eine Platte mit dicken Fleischballen heraus, und ich nahm den Hörer ab. Es war Caroline.

Der Sonntag, an dem ich mir geschworen hatte, sie anzurufen, war verstrichen, ohne dass ich sie angerufen hatte. Einerseits hatte ich meine Hemmung nicht überwinden können, sie im Büro anzurufen. Und dann hatten die Abende ganz im Zeichen der Monopoly-Spiele gestanden. Und schließlich hatte ich mir selbst eingeredet, sie würde mich schon anrufen, wenn ihr danach war. Dreimal hatte ich mir, wenn ich irgendwohin gefahren war, fest vorgenommen, sie, sobald ich zu Hause sein würde, anzurufen, aber dann hatte meine Hand nie den Telefonhörer ergriffen. All diese Ausreden packten mich, sobald ich ihre Stimme hörte. Aber ihr »Hallo« klang normal und sogar glücklich. Ich sagte: »Oh, hallo, Caroline. Ich hab versucht, dich anzurufen.« Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Rose sich gespannt aufrichtete.

Caroline sagte: »Ist Daddy okay?«

»Tja, natürlich. Rose war gerade bei ihm und hat ihm sein Essen gemacht. Wie geht’s euch?«

»Uns geht’s gut. Weißt du, wo Daddy gestern war?«

»Hm, nein. Ich überwach ihn nicht …«

»Also, ich war zwei Tage in New York, und als ich heute Abend zurückkam, lag eine Nachricht auf meinem Schreibtisch: ›Ihr Vater war um 11:00 Uhr hier.‹«

»Hast du versucht, ihn anzurufen, und gefragt?«

Jetzt kam vom anderen Ende der Leitung ein langes Schweigen. Rose, die nach draußen gegangen war, um die Hamburger auf den Grill zu legen, kam herein und ließ die Fliegengittertür zuknallen, und ich hob die Augenbrauen. Ihr Mund formte die Worte: »Was ist los?«, und in genau dem Augenblick sagte Caroline: »Ja, hab ich. Ich hab’s zweimal versucht, und beide Mal hat er nicht mit mir sprechen wollen. Einmal hat er mir ein paar Minuten zugehört, aber kein Wort gesagt, und das zweite Mal hat er aufgelegt, sobald er meine Stimme gehört hat. Dann ist er nicht mehr ans Telefon gegangen, obwohl ich’s bestimmt dreißig Mal hab klingeln lassen.« Sie klang verlegen.

Ich sagte: »So was Blödes. Aber sind sie sicher, dass es Daddy war?«

»Nehm ich an, aber ich kann vor Montag niemanden fragen.«

»Augenblick mal.« Ich legte die Hand auf die Muschel und erzählte Rose die Geschichte. Sie schürzte die Lippen und zuckte die Achseln, aber dann ging sie mit dem Grillbesteck hinaus, ohne etwas zu sagen. Ty stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und rief: »Alles fertig! Wo ist das Bier?« Ich sagte zu Caroline: »Was?« Sie sagte: »Hast du und Rose die Papiere unterschrieben?«

Einen Moment lang war ich durcheinander und sagte: »Welche Papiere?«

»Die Gesellschaftspapiere und die Überschreibungen.«

»Oh.« Ich war von ihrem kühlen Ton getroffen.

Sie sagte nichts.

Ich sagte: »Na ja, klar haben wir das. Natürlich. Wir hatten keine Wahl.«

Wieder Schweigen, dann sagte sie ruhig: »Ich denke doch.«

Jess Clark kam zur Hintertür herein, ließ sie hinter sich zuschlagen, und Pammy rief nach einem Handtuch. Ich konnte hören, wie Caroline darauf wartete, dass ich etwas sagte, aber ein zähes Gefühl der Müdigkeit machte mich unfähig, jetzt so zu reagieren, wie sie es vielleicht von mir erwarten mochte. Schließlich sagte ich: »Caroline, das hier ist ein Irrenhaus. Ich ruf dich morgen an. Oder ruf du mich an und sag mir, was sie dir über Daddys Besuch erzählt haben.«

Sie sagte: »Okay«, sehr kühl.

Ich sagte: »Ich mein’s wirklich. Vergiss es nicht.« Aber sie hatte schon aufgelegt.

Jess ging ins Wohnzimmer, und fast sofort öffnete sich die Hintertür. Es war Rose, sie fragte naserümpfend: »Was hatte sie zu sagen?«

»Hast du Streit mit Caroline?«

»Das solltest du sie fragen.«

»Also, ich frag dich jetzt.« Hin und wieder kehrte ich die ältere Schwester raus.

»Hatte ich eigentlich nicht angenommen.«

»Bis?«

»Na ja, es ist jetzt zwei Wochen her seit meiner Dreimonatsuntersuchung, und ich hab nicht ein Wort von ihr gehört. Sie hat mich nicht einmal angerufen und gefragt, wie’s mir geht. Ehrlich gesagt, hab ich ihr Verhalten von Anfang an als ziemlich gleichgültig empfunden.«

»Sie hat dir Blumen geschickt und dich besucht.«

»Einmal, als sie sowieso fürs Wochenende raufkam. Drei oder vier Frauen, die nicht zur Familie gehören, haben sich mehr gekümmert als sie.«

»Sie hat viel zu tun.«

Rose machte ein langes, skeptisches Gesicht. »Sagt sie.«

»Sie hat gesagt, Daddy war gestern bei ihr im Büro.« Ich dachte, das würde sie ablenken.

»Weshalb?«

»Sie weiß es nicht. Sie war in New York.«

Rose machte mich nach. »Sie war in New York.«

»Rose!«

»Na ja, sie ist immer irgendwo, oder? Sie ist diejenige, die weggekommen ist, oder?«

»Ich dachte, wir wären froh darüber. Sie hat kein Interesse an Farmarbeit.«

Rose lehnte sich an die Küchenablage und sah mich an. Ich ließ sie. Nach einer Weile machte ihre Hand die flattrige Bewegung zu der leeren Seite ihrer Brust. Dann stützte sie sich wieder auf die Küchenablage und nahm schließlich die Salatschüssel in beide Hände. Sie sagte: »Wenn wir brave Kinder sind und alles hinnehmen, wie es ist, sind wir froh darüber.« Sie ging Richtung Esszimmertür und stieß sie halb auf, sagte dann: »Wenn wir böse Kinder sind, macht es uns verrückt.«

Ich ging hinaus und sah nach den Hamburgern. Sie waren reichlich durch, eigentlich ein wenig zu sehr, und ich nahm sie vom Grill. Der Wind und die hohe Junisonne waren unbarmherzig. Der einen halben Meter hohe Mais, der sich auf der anderen Seite hinter dem Haus wie ein Fächer in die Weite erstreckte, war vom grellen Licht wie ausgebleicht, und der Boden zwischen den Pflanzen war staubig, obwohl wir dieses Jahr genug Regen gehabt hatten. Ich war wie gelähmt durch all den Zorn, der in den letzten zehn Minuten um mich herum aufgekommen war. Ich konnte mir alles so leicht vorstellen: Daddy, wie er bei Hooker, Williams und Crockett in Stiefeln und Overall reinstapfte und für Aufregung sorgte, dann Caroline, wie sie von Furcht gepackt wurde, als sie davon hörte; Rose, wie sie schweigend darauf wartete, dass Caroline einer Pflicht nachkam, die alle, nur sie nicht, vergessen hatten; Caroline, wie sie ihren Wunsch, wir sollten die Überschreibungspapiere nicht unterschreiben, so lange ausbrütete, bis er sich in Überzeugung verwandelte. Sie war Anwältin, deshalb konnte ich mir leicht vorstellen, wie sie mich ins Kreuzverhör nahm und ich mich verteidigte:

Er wollte es, und warum sollten wir es nicht tun?

Du hättest die Tür aufmachen und reinkommen können, selbst nachdem Daddy sie zugemacht (zugeknallt?) hatte.

Ich wollte die Farm nicht, aber andere ja, und außerdem war es Daddys Idee.

Und wir können ihn auch nicht jede Minute kontrollieren. Er hat einen Führerschein und zwei Fahrzeuge.

Er muss sich an sein neues Leben erst gewöhnen.

Wir sollten alle zusammenhalten, statt uns gegenseitig misstrauisch zu beobachten.

»Hast du vor, die Hamburger reinzubringen? Man fragt sich so langsam, wo du bleibst.«

Ich schreckte auf. Es war Jess Clark, der mich aus der offenen Küchentür anlächelte.

»Ich hab über alles Mögliche nachgedacht, bloß nicht über Hamburger.«

»Los, komm ins Wohnzimmer. Du wirst erstaunt sein.«

»Kühl?«

»Zur Abwechslung.«

Er ergriff meinen Arm und zog mich herein. Ich sagte: »Merk dir diesen Tag. Dies ist der Tag, an dem sich schließlich alles, wovor ich Angst hatte, ereignet hat.«

»Wirklich?«

Ich konnte seinem Gesicht ansehen, dass er nicht wusste, wovon ich sprach. Ich sagte: »Es ist zu kompliziert, dir das näher zu erklären. Denk einfach nur daran, dass ich alles vorausgesehen hab.«

»Wenn du’s sagst.«

Ich drängte mich durch die Tür in die halbdunkle Kühle des Esszimmers. Lauter lächelnde Gesichter um mich herum, und ich hielt die Platte mit den Hamburgern vor mir ausgestreckt. In der erfrischenden Kühle aßen wir mit großem Appetit und witzelten beim Essen herum, wie wir es sonst nie taten. Pete lachte und machte große Sprüche, Jess schien ihn dazu zu animieren. Ty entwickelte sich zu einem etwas verwirrten, aber großzügigen Gastgeber, der jedem zum zweiten Mal den Teller füllte und Pammy und Linda neckte, die alles, was ihnen vorgesetzt wurde, ohne Murren aufaßen. Rose aß von allem dreimal – sie redete zu viel, um zu bemerken, was ich ihr auf den Teller legte, und was immer sie da vorfand, aß sie auf. Keine verärgerten Blicke, keine betonte Zurückweisung meiner Besorgnis. Es war eine großartige Tarnung, dieses gesellige Zusammensein beim Essen, und es dauerte und dauerte. Wir saßen noch um zehn Uhr am Tisch und unterhielten uns. Ich musste immer wieder zu Jess hinübersehen, der am Kopfende des Tisches saß. Er sah gut aus und war sehr lebhaft – mir war klar, dass die gute Stimmung von ihm ausging und dass er sie mit sich nehmen würde, wenn er ging, zurück zur Westküste.

Als wir uns am Sonntag nach der Kirche zu unserem jährlichen Vatertagsessen bei Daddy trafen, wurde der Kontrast deutlich. Daddy saß am Kopfende des Tisches, und er war keineswegs guter Stimmung. Der Schweinerückenbraten, den Shorty Humboldt drüben am Gefrierhaus für mich tranchiert hatte, stand massig auf der weißen Tischdecke, umgeben von Pickles und Bratkartoffeln und einer großen Schüssel Erbsen aus dem Garten. Linda und Pammy stießen sich missgelaunt unter dem Tisch, und Pete war in der Küche und holte Bier – ich hörte, wie sich die Kühlschranktür öffnete und schloss. Rose sagte: »Soll ich’s schneiden, Daddy? Du musst einfach nur zwischen den Knochen durch.«

»Ich weiß das.«

»Ich weiß, dass du das weißt.«

»Na also, dann sag mir nicht, was ich tun soll.«

»Ich wollte dir nicht…« Aber sie sah zufällig zu mir hinüber und hielt den Mund, als hätte ich ihr einen mahnenden Blick zugeworfen. Ty sagte: »Diese Kartoffeln sehen ja toll aus.«

Linda sagte: »Was sind die kleinen Stöckchen dadran?«

Ich sagte: »Das ist Rosmarin. Schmeckt gut. Ist ein Gewürz.«

Ty sagte: »Ginny hat mal wieder Zeitung gelesen.«

Rose sagte: »Mommy hat Rosmarin an Kartoffeln getan. Ich erinnere mich daran, weil mir der Name immer aufgefallen ist. Es ist auch gut an Fleisch.«

Es war anstrengend, sich einfach nur am Tisch zu halten, wir waren Magnete, die einander abstießen. Es war eine spürbare Erleichterung, wenn man aufgab und sich vom Tisch abfallen ließ und in der Küche landete, um irgendetwas zu holen, oder im Badezimmer Wasser laufen ließ und es sich ins Gesicht spritzte.

Das Komische an der Sache war, dass diese Art Unbehagen nicht neu war, aber ich entdeckte sie neu. Normalerweise hätte ich sie der Hitze zugeschrieben oder der Arbeit, die es kostete, um ein Uhr ein großes Essen auf den Tisch zu bringen, oder irgendeiner Streitigkeit zwischen Pete und Daddy oder der schlechten Laune meiner Schwester Rose. Ich hätte sie als unvermeidlich hingenommen und wäre froh gewesen, wieder nach Hause zu kommen. Ty hätte gesagt: »War gar nicht so schlimm. Das Essen war gut. Und darauf kommt’s an.« Normalerweise hätte ich wie ein typischer Farmer reagiert – immer versuchen, auf Gefahren und Fallen gefasst zu sein, und Missgeschick, wenn es kam, stoisch hinzunehmen. Wir machten diese Art Essen nur dreimal im Jahr (Ostern gingen wir zu dem Kirchenessen).

Aber jetzt erkannte ich mit erneuter Überzeugung, dass wir es waren, wir alle, die versagten, und dass sich unser Versagen in der Art und Weise kundtat, wie wir aßen, mit gesenkten Köpfen, gierig, schnell, weil es sonst am Tisch nichts zu tun gab.

Daddy sagte etwas. »Der Sturm unten in Story County hat den Mais total ruiniert.«

Es war ein plötzlicher Wirbelsturm gewesen, am späten Nachmittag, mit golfballgroßen Hagelkörnern. Er war über das Gebiet hinweggegangen, hatte dann gedreht und war ungefähr vier Stunden später aus Nordosten wiedergekommen. An uns war er südlich vorübergezogen, wir hatten nur die Blitze in der Ferne gesehen. Mittwoch. Rose und mir kam der Gedanke gleichzeitig, und wir sahen uns an.

Ty sagte: »Man gibt wirklich nicht gern das Geld für die Hagelversicherung aus, aber da unten werden sich jetzt ein paar Typen schwarz ärgern.«

Pete sagte: »Auf einen solchen Sturm kann man nicht vorbereitet sein. In der Zeitung stand, so ’nen Sturm gibt es alle Jubeljahre mal.«

Daddy legte seinen Schweineknochen hin und wischte sich die Finger an der Serviette. Er sagte: »Auf einen solchen Sturm braucht man sich auch nicht vorbereiten. Ein normales Unwetter macht schon genug kaputt, wenn Hagel dabei ist.«

Offensichtlich.

Pete wurde rot.

Rose sagte: »Was hast du da unten in Story County gemacht, Daddy?«

Daddy füllte sich Kartoffeln auf und legte sich einen ordentlichen Löffel Pickles daneben. Er nahm sich eine Scheibe Fleisch von der Platte.

Ich sagte: »Wann war das, Donnerstag? War der Sturm nicht Mittwochnachmittag?«

Daddy sagte: »Es wird ja wohl nicht verboten sein, wenn man ab und zu ein bisschen rumfährt.«

Rose sagte: »Bei dieser Benzinknappheit könnte es bald so weit sein.«

»Aber jetzt nicht.« Das war scharf und deutlich. Sie starrten einander an.

Pete sagte: »Wir sollten unser Benzin sparen. Bald ist der Monat zu Ende, und Jimmy Carter guckt bei dem Fernfahrerstreik nur zu. Wenn wir mit Alkohol fahren würden, brauchten wir uns keine Sorgen zu machen.«

Daddy sagte: »Wir werden aber nicht mit Alkohol fahren.« Er meinte das deutlich als letztes Wort zu diesem Thema.

Ich sagte: »Daddy, bist du die ganze Strecke bis nach Des Moines gefahren?«

»Was, wenn ja?«

Jetzt galt sein starrender Blick mir. Er traf mich wie ein heißer Sonnenstrahl. Mir fiel dazu nichts ein. Was, wenn ja? Was, wenn ja?

Rose sagte: »Caroline wusste nicht genau, das ist alles.«

»Ihr Mädchen redet ziemlich viel. Das sind Ferngespräche.«

Er mochte es nicht, dass wir uns über ihn unterhielten, wahrscheinlich weil er wusste, dass wir das immer machten, nicht anders konnten, nicht damit aufhören konnten. Ich sagte: »Sie hat sich Sorgen gemacht, das ist alles.«

»Ich hab nichts davon gesagt, dass ich in Des Moines war, oder?«

Ich sagte: »Nein.«

»Na also.« Er nahm sich Erbsen.

Als wir zu Bett gingen, sagte Ty: »Ihr Frauen versteht euren Vater überhaupt nicht.«

Ich hatte an dem Tag die Laken gewaschen und machte gerade das Bett. Ich sagte: »Schlag mal die Ecke um die Matratze, ja?« Er zog den Spannbezug um die Ecke und strich dann die Kniffe glatt. Er war bis auf die Unterwäsche ausgezogen, fertig fürs Bett. Seine Schultern waren breit und muskulös. Seine Oberarme waren kräftig, in der Mitte durch eine scharfe Querlinie geteilt, weiß und goldrot. Seine Handgelenke waren genauso breit wie seine Unterarme, die mit von der Sonne gebleichten Härchen bedeckt waren. Er lächelte.

Ich sagte: »Dann haben wir ja etwas mit ihm gemeinsam, denn er versteht sich eindeutig selber nicht.«

»Er versteht sich sehr wohl. Er ist bloß geheimnistuerisch, das ist alles.«

»Und worin bestehen seine Geheimnisse?«

»Also, ich glaub, eins besteht darin, dass er vor seinen Töchtern Angst hat.«

»Das ist ein guter Witz.« Ich faltete die Decke am Bettende. Ich bezweifelte, dass wir sie brauchen würden. Ty schlüpfte unter das Laken. »Wovor sollte er Angst haben? Er hat doch hier jeden unter seiner Fuchtel.«

»Nicht mehr.«

»Du meinst wegen der Überschreibung? Wir wissen alle, dass das eine legale Fiktion ist. Er ist die Farm. Rose und ich rennen jedes Mal wie aufgescheuchte Hühner durch die Gegend, sobald er nur ’ne Augenbraue hebt. Er braucht nur auf geheimnisvolle Weise in Carolines Büro aufzutauchen, und schon ist sie am Telefon und stellt Fragen. Die meiste Zeit vergesse ich sogar, dass die Überschreibung überhaupt stattgefunden hat.«

»Er nicht.«

»Na, dann sollte er’s rückgängig machen. Mir ist das egal.« Ich stieg aus meinen Shorts. Tys Blick fing und hielt mich. Er drückte Anteilnahme aus, aber auch das Eingeständnis, dass es meine Entscheidung war. Sechzehn Jahre unausgesprochenen Wissens, dass er sich hochgeheiratet hatte und gezwungen war, den Beweis zu erbringen, dass seine Fähigkeiten nicht nur für hundertsechzig Morgen reichten, sondern tausend Morgen entsprachen, lasteten auf diesem Blick. Er sagte: »Ich finde trotzdem, dass die Überschreibung ein richtiger Schritt war, steuerlich und auch sonst. Marv Carson hält sie für wirklich klug.« Seine Stimme war behutsam. Ich legte meine Shorts auf die Kommode und zog mir das Hemd über den Kopf. Ty sagte: »Aber ihr Frauen könntet besser damit umgehen. Ihr könntet besser mit ihm umgehen. Ihr braucht euch nicht immer auf jede Auseinandersetzung einlassen. Ihr solltet vieles einfach laufen lassen.«

Ich dachte darüber nach. »Du hast Recht. Ich versteh ihn nicht. Aber ich denke, vieles von dem, was du ›sich auf eine Auseinandersetzung einlassen‹ nennst, ist einfach nichts anderes als der Versuch, ihn besser zu verstehen. Ich hab die ganze Zeit das Gefühl von tückischen Unterströmungen. Ich glaub, ich steh auf festem Grund, aber dann entdecke ich, dass sich etwas darunter hin und her bewegt, von einer Stelle zur anderen. Es bleibt immer etwas Geheimnisvolles zurück. Er sagt nicht, was er meint.«

»Er sagt, was er meint. Ihr zwei legt ständig was hinein, was auch immer. Rose noch mehr als du.«

Ich zog ein kurzes Baumwollnachthemd über und machte einen der Knöpfe zu. Ty stützte sich auf den Ellenbogen und schlug das Laken für mich zurück. Es war beruhigend und besänftigend, sich in seinen Bereich zu begeben, den Kreis von Kraft, den seine Schultern und Arme ausstrahlten. Das war etwas, was wir immer ziemlich gut gemacht hatten – verschiedener Meinung sein, ohne zu streiten. Wir machten das besser als Sex.

Ty legte sich zurück und zog meinen Kopf in die Mulde seiner Schulter. Einige Augenblicke lang spürte ich, dass wir gemeinsam zur Decke hinaufstarrten. Er sagte: »Er ist sehr reizbar. Er mag es nicht, wenn man ihn zur Rede stellt oder tadelt. Aber er ist ein guter Farmer. Jeder respektiert ihn und sieht zu ihm auf. Wenn er seine Meinung sagt, hören die Leute zu. Glück und Pech prallen einfach von ihm ab. Das findet man selten.« Tys Stimme war ruhig, verriet echte Bewunderung. Wir sahen weiterhin zur Decke hinauf, brav und einträchtig nebeneinander, von Kopf bis Fuß. In wenigen Augenblicken war er eingeschlafen.

Hellwach, versuchte ich mich an meinen Vater zu erinnern. Tys Sicht der Dinge war mir nicht neu. Wenn er, was selten vorkam, wütend auf meinen Vater war, wiederholte ich ihm vieles von dem, was er gesagt hatte, um ihn daran zu erinnern, wie viel er zum Beispiel von meinem Vater gelernt hatte. Auf der anderen Seite, dachte ich, war ich mit meinem Vater so konstant und so lange zusammen gewesen, dass ich mit jedem Jahr, das vorüberging, immer weniger über ihn wusste. Jedes bedeutungsvolle Bild vermischte sich mit den zahllosen Momenten unseres täglichen Lebens und vereitelte meine Bemühungen, eine Perspektive zu gewinnen. Am einfachsten war es, mich an Ereignisse zu erinnern, von denen ich nur gehört hatte: Als mein Vater siebzehn war, zum Beispiel, und das Licht auf der Farm von einem benzingetriebenen Generator kam, stand mein Vater im Keller und suchte irgendetwas und wurde von den Dämpfen betäubt. Er schaffte es, bis zur Treppe zu torkeln und weit genug nach oben hin zu fallen, dass seine Hand über der Schwelle zur Küche hing. Großvater Cook kam wenige Minuten später herein und zog ihn nach draußen an die frische Luft.

Oder einmal, als er zehn war, jagten ihn ein paar Jungen in der Schule mit Weidenruten. Er lief ein Stück vor ihnen weg, drehte sich dann um, nahm einen Stein vom Boden auf und schleuderte ihn dem Anführer genau an die Stirn, so dass der bewusstlos zusammenbrach. Der Lehrer ergriff Partei für Daddy, wie auch der Rest der Bande, sie waren beeindruckt von seiner Zielsicherheit, und der verletzte Junge wurde für zwei Wochen von der Schule suspendiert.

Als Mommy, die in Mason City eine Schulfreundin besuchte, bei einer Kirchenfeierlichkeit nicht mit ihm tanzen wollte, brachte Daddy den Geschäftsführer eines Herrenausstatters am Ort, jemanden, den er lediglich vom Namen her kannte, dazu, dass er die Tanzveranstaltung mit ihm verließ und ihn völlig neu einkleidete, ihm Unterwäsche, Socken, Schuhe und Hut verkaufte. Er sah in seinen neuen Sachen so schick aus, sagte Mommy, dass sie für den Rest des Abends mit keinem anderen mehr tanzen wollte. Er sah gut aus. Daran konnte ich mich erinnern.

Wenn er mit Harold oder einem anderen Farmer lächelte oder lachte, fühlte man sich zu ihm hingezogen.

Plötzlich erinnerte ich mich ganz deutlich an den Unfall, den Harold Clark mit seinem Truck gehabt hatte. Es war eine frühe Erinnerung; ich war zu der Zeit wohl sechs oder sieben. Ich hatte bestimmt seit Jahren nicht mehr daran gedacht, denn es war so vorübergegangen, wie Erwachsenendinge eben vorübergehen, wenn man Kind ist – traumgleiche Phänomene, die ohne Warnung geschehen und ohne Erklärung wieder verschwinden. Ich war alleine in unserem Truck und spielte mit meinen Puppen. Kann sein, dass Daddy nicht wusste, dass ich da war. Jedenfalls rannte er vom Haus zum Truck. Mommy war hinter ihm, an der Tür, hielt sie auf und rief irgendetwas, und dann schwankten wir über die Felder, und ich wurde runtergedrückt und schlug gegen die Ecke des Wageninneren. Da stand Haralds Truck, marineblau, abgerundete Kanten, ein weißes Kühlergitter wie große Zähne, und dann waren wir da, und Harold lag auf dem Boden unter seinem Truck, und das Hinterrad war auf ihm, als schneide es ihn an den Hüften entzwei. Es war ein schrecklicher Anblick, und ich schrie, aber dieses eine Mal schimpfte Daddy nicht mit mir. Er nahm hinten aus Haralds Truck ein Brett, und er legte es auf den sumpfigen Boden, dann stellte er mich auf das eine Ende, drückte mir eine Flasche Whiskey in die Hand und sagte: »Du gehst jetzt vorsichtig rüber zu Harold, und du gibst ihm was zu trinken, weil er das braucht, und du lässt ihm die Flasche da, und dann kommst du vorsichtig zurück.« Es war ein merkwürdiger Unfall, dem Harold mit nichts weiter als Schürfwunden entkam: Er hatte ein paar Tonrohre aus seinem Truck geladen und neben einen Graben gelegt. Der Graben war voll von dickem wässrigem Schlamm, und der Truck war zurückgerollt, hatte Harold umgeworfen und dann in den Schlamm gedrückt. Daddy und ein paar andere Farmer, die kurz darauf erschienen, mussten Haralds Truck von ihm wegziehen. Danach wurde viel gelacht, aber ich hatte das Gefühl, dass der eigentliche Moment mir gehört hatte, als ich mit meiner lebensrettenden Last das zehn Zentimeter breite Brett entlang getippelt war und gesehen hatte, wie sich mit meinem Näherkommen in Haralds Gesicht Erleichterung ausgedrückt hatte, und wie ich Daddy sagen hörte: »Das ist ein Mädchen. Nur noch ein Stückchen weiter. Gutes Kind. Du bist ein gutes Kind.«

Ich schloss die Augen und spürte, wie Tränen unter den Augenlidern hervorquollen. Jetzt, da ich mich an jenes kleine Mädchen und jenen jungen rennenden Mann erinnerte, konnte ich mir nicht vorstellen, was mit ihnen geschehen war.