17

Ich verbrachte den Morgen damit, die Teppiche im Wohnzimmer und im Esszimmer mit Teppichschaum zu reinigen. Auf einer Farm dringt der Schmutz überallhin, egal, wie sehr man darauf achtet, dass niemand Stiefel und Arbeitskleidung ins Haus bringt. Schmutz ist noch das wenigste. Öl und Blut und Kot gibt es auch. Ich habe Frauen gekannt, die in jedem Zimmer Linoleum hatten und stolz darauf waren, weil es »genau wie Parkett« aussah. Harolds Idee mit dem getönten Betonboden war letzten Endes nur einen Schritt davon entfernt. Aber in der Regel sind Farmersfrauen stolz auf die Tatsache, dass sie das Haus in einem Zustand halten, als bliebe die Farm draußen, dass die Vorhänge weiß und strahlend und gestärkt sind, dass der Teppich sauber ist und die Fensterbänke abgestaubt sind und die Möbel gut aussehen oder zumindest ordentliche Schonüberzüge haben. Ebenso wie Farmer gegenseitig ihre Gebäude mit abschätzenden Blicken beurteilen, ihren baulichen Zustand und das Alter des Anstrichs, unterlassen es ihre Frauen nie, das Haus gründlich auf Staubflocken, Spinnweben, schmutzige Fensterscheiben hin zu inspizieren. Und ebenso wie Farmer neue leistungsfähigere Maschinen lieben, sind Farmersfrauen wahre Kenner auf dem Gebiet der Haushaltsgeräte: ein ganzes Staubsaugersystem, fest in den Wänden installiert, Mikrowellenherde und elektrische Kochtöpfe, Tiefkühlfächer, Eismacher in Kühlschränken, Hochleistungswaschmaschinen und -trockner, Töpfe schrubbende Spülmaschinen und elektrische Friteusen. Keine von uns hatte alles, was wir uns wünschten. Rose zum Beispiel wollte schon immer eine Handmangel, weil sie es gerne hatte, wenn die Wäsche, auch Geschirrtücher und Bettlaken, ordentlich gebügelt war.

Jedenfalls hatte ich den Rug Doctor aus dem Supervalu in Cabot gemietet und mich bis Mittag in Schweiß gearbeitet, trotz der neuen Klimaanlage. Die Vorhänge waren zugezogen, und das summende Geräusch der Maschine war wie eine Höhle, in die ich mich verkriechen konnte, sicher vor den Extratouren meines Vaters, den Zornesausbrüchen Carolines und Roses Wachsamkeit. Und ich war nicht immun gegen die wachsende Fläche der sauberen, farbenprächtigen Streifen vor dem Reinigungskopf. Es war wie ein Feld abernten, nur dass dabei das, was man hinter sich ließ, tiefer und fruchtbarer aussah als vorher und nicht andersherum. Ich arbeitete ohne Pause, und als ich die Maschine ausstellte, hatte ich mich in einen schwebenden inneren Zustand hineingearbeitet und war wie betäubt vor Anstrengung und Schweiß. Ich richtete mich auf, streckte den Rücken und stieß die Tür zur Küche auf, den Behälter mit dem Schmutzwasser in der Hand. Jess Clark stand mitten im Raum und lächelte mich an. Ich zuckte zusammen und Wasser schwappte über. »Wie ist es«, sagte er, »hast du Lust auf ’nen Spaziergang?«

»Wie lange bist du schon hier?«

»Ungefähr ’ne Minute. Ich hab dich vor fünfzehn Minuten angerufen, aber du hast offenbar das Telefon nicht gehört. Lust auf ’nen Spaziergang?«

»Ich bin erledigt, und ich hab außerdem Hunger. Du tauchst immer etwas plötzlich auf. Das ist mir an dir aufgefallen.«

»Du bist mit deinen Gedanken immer woanders. Das ist mir an dir aufgefallen.«

Das irritierte mich. Ich sagte: »Oh.« Ich trat aus der Hintertür und trug das Schmutzwasser hinüber zu den Schweineställen. Als ich zurückkam, war Jess noch da. Ich sagte: »Ich hab viel zu tun, und es ist außerdem heiß. Vielleicht ein andermal.«

»Eine halbe Stunde. Ich muss mit jemandem reden.«

Ich sah mich zufällig im Fenster. Haare in alle Richtungen, schwarze Flecken auf Wange und Kinn. Die Gereiztheit, die in meinen Worten gelegten hatte, schmolz unter dem Einfluss des Summgeräuschs und des sauberen Teppichs dahin. Er sagte: »Ich hab Ty in Pike beim Maschinenhändler gesehen. Sie machen da ein Werbebarbecue, gesponsert von John Deere. Viele Leute waren da, und er hat mir gesagt, ich soll dir ausrichten, du brauchst dich nicht ums Essen zu kümmern. Das wollte ich dir eigentlich sagen, als ich dich vor fünfzehn Minuten angerufen hab.«

»Rose macht Daddys Essen.«

»Na siehst du.«

»Die Leute gehen hier nicht in der Mittagssonne spazieren.«

»Ich weiß ’ne schattige Stelle.«

»Das soll wohl ein Witz sein.« Ich strich mir die Haare zurück und spritzte mir Wasser ins Gesicht. Dass er sagte, er müsse mit jemandem reden, verfehlte seine Wirkung auf mich nicht, hieß es doch, dass er nicht zuerst zu Rose gegangen war.

Er wusste tatsächlich eine schattige Stelle, wie sich herausstellte. Es war die kleine Müllkippe am Ende der Farm, in einem Einschnitt hinter einem wilden Rosengestrüpp, den wir und Harold früher für unseren Müll benutzt hatten. Die »Schattenbäume« waren mehrere Espen und Akazien, und Letztere trugen dicke Dornen, die acht oder zehn Zentimeter lang waren und den Stamm vom Boden an panzerten. Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Wir zahlten eine monatliche Gebühr dafür, dass wir die große Halde nördlich von Pike benutzen durften, wo Land aufgeschüttet werden sollte. Als ich sah, wo wir hingingen, verlangsamte ich meinen Schritt, aber Jess zog mich weiter. Er sagte: »Magst du die Müllkippe nicht? Ich hab als Kind hier draußen ganze Tage verbracht. Das ist jetzt das dritte Mal, dass ich da hingeh, seit ich wieder zurück bin. Es ist immer noch die interessanteste Stelle auf der ganzen Farm.«

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Es macht Spaß, ich versprech’s dir. Ich zeig dir all die einheimischen Pflanzen, die ich identifiziert habe. Und außerdem blühen da noch ein paar Rosen. Sie duften wie nicht von dieser Welt.«

Das größere Mobiliar der Müllkippe bestand aus einer durchgerosteten Autokarosserie, ein paar Stahlfässern, einem alten Eisenbett, einem durchgerosteten Lastwagengehäuse mit einem durchhängenden Vinylautositz, einer Rolle rötlich braunem Stacheldraht und einem zersprungenen weißen Keramiktoilettenbecken. Angeblich waren wir die Einzigen, die sie je benutzt hatten, aber ich erkannte nicht alles wieder. Auf dem Land hat Abfall die Eigenart, weiteren Abfall anzuziehen. Einmal fand Rose einen alten Garderobenständer, Eiche, mit, nachdem wir ihn sauber gemacht hatten, Messingverzierungen. Sie verkaufte ihn für vierzig Dollar an einen Antikladen in Mason City, und das brachte uns natürlich dazu, die Kippe noch zwei- oder dreimal nach weiteren Gewinn bringenden Sachen zu durchkämmen, aber wir fanden nichts mehr. Ich sagte: »Ich frag mich immer, ob andere Leute sich hierher schleichen, um Sachen loszuwerden. Ich erkenn hier nichts wieder.«

»Ich erkenn vielleicht den Autositz da. Er erinnert mich an Haralds alten 62er Plymouth Valiant. Weißt du noch, als er den bekam? Das erste neue Auto, das er gekauft hat.«

»Ich erinner mich tatsächlich an den. Er hatte einen blauen Seitenstreifen, der an der Flosse nach oben ging.«

»Genau der.«

»Tja, er fährt ihn erst seit letztem Jahr nicht mehr.«

Jess, der am Boden hockte und mit einem Stock unter dem Bettgestell herumstocherte, sah zu mir auf.

Ich lachte. »Reingefallen. In Wirklichkeit sind’s zehn Jahre her. War nur ’n Scherz.« Er lächelte.

Ich sah mich um. Die Rosenbüsche waren fast so hoch wie ich und verbargen die Müllkippe, so dass man sie von unserem Haus aus nicht sehen konnte. Haralds Haus und Scheune waren durch die Bäume zu sehen. An den unteren Zweigen der Rosenbüsche streckten einfache weiße Blüten ihre fünf Blütenblätter wie eine kleine Hand aus. Ich kniete nieder und roch an ihnen. Ihr Duft war stark und wie parfümiert. Jess sagte: »Geht ihr hier manchmal her und sammelt im Herbst die Hagebutten? Sie müssen so groß wie Kirschen sein.«

»Ich hab davon gehört, dass man das machen kann.«

»Gute natürliche Quelle von Vitamin C. Oder man kann Rosenblütenmarmelade draus machen. Ich riech die so gern.«

»Wonach stocherst du da?«

»Schlange.«

»Was?«

»Schlange. Keine Klapperschlange oder so. Ich glaub, es ist eine östliche Hakennatter, auch wenn sie eigentlich nicht in diese Gegend gehören. Ich hab das letzte Mal, als ich hier war, eine gesehen. Das sind witzige Schlangen.« Er stand auf. »Kein Glück.«

»Inwiefern sind die witzig?«

»Sie haben eine Art Kapuze, wie Kobras, und wenn sie einen sonst nicht verjagen können, rollen sie sich zusammen und stellen sich tot, sie lassen sogar die Zunge raushängen.«

Ich lachte.

»Sie gehören zu meinen Lieblingsschlangen.«

»Ich hab noch nie daran gedacht, dass man Lieblingsschlangen haben kann.«

»Oh, hier gibt’s jede Menge netter Schlangen. Milchschlangen sind wunderschön und Rennschlangen. Rattenschlangen klettern auf Maisspeicher und Bäume.«

»Daddy hat die immer erschlagen.«

»Das glaub ich.«

»Daddy hat nicht viel für ungezähmte Natur übrig. Weißt du, er hat Todesangst vor Wespen und Hornissen. Er hat da ’ne richtige Phobie. Er wird ganz weiß, und sein Gesicht fängt an zu zucken.«

»Hah.«

Durch das Metallgitter des Bettgestells wuchsen ein paar dünne Grashalme. Ich brach einen ab und nahm ihn zwischen die Zähne. Jess machte das Gleiche und sagte: »Bartgras. Als die Pioniere hier ankamen, war das zwei Meter hoch.«

»Als die Pioniere hier ankamen, stand das hier alles unter Wasser.«

»Ja, ich weiß. Ich meinte das mehr allgemein.« Er grinste mich an. »Wollte die Romantik heraufbeschwören. Jedenfalls ist hier eine kleine Prärie, jetzt, wo’s ausgetrocknet ist. Hier gibt’s auch ein bisschen Hirse, und den ganzen Rand der Grube entlang wächst Wiesen-Lieschgras. Kennst du die hier?«

Ich beugte mich hinunter und befühlte die weißen Blütenblätter. »Die Blüten sehen aus wie Erbsenblüten, aber sie sind an Stängeln.«

»Falscher Indigo. Auch giftig.«

»Was sind das für welche?«

Jetzt war Jess an der Reihe, sich einige niedrige lila-rosa Blumen anzusehen. Er sagte: »Die kenn ich.«

»Na?«

»Narrenkraut?«

»Jap.«

»Und du wolltest mir weismachen, du kennst keine.«

»Ich kenn Götterblumen und wilde Mohren und natürlich Winden und Sudangras und Mohrenhirse und all die anderen schädlichen Pflanzen, die Farmer töten, töten, töten müssen. Hast du nicht Tys Trophäen gesehen? Riesige Kletten und Weltklasse-Malven?« Jetzt grinste ich auch, obwohl unsere Munterkeit nicht ganz zu unserem Gespräch zu passen schien. Ich hatte sehr stark das Gefühl, dass wir in eine Art gewagte Vertrautheit gestolpert waren und dass die Abgeschiedenheit des Ortes, an dem wir standen, sie erlaubte, aber nicht hervorbrachte. Es war ebenso verwegen, hier draußen zu stehen, in dieser Kippe herumzustochern, wie zusammen nach Minneapolis zu fahren und zu wissen, man kann nicht vor dem nächsten Morgen zurückkommen. Wir hingen mit unseren Blicken wie gebannt aneinander, und wir konnten nicht anders, wir mussten diesen Bann auf die Probe stellen, indem wir uns bewegten, umdrehten, hinunterbeugten. Der Bann hielt, bis ich in das Führerhaus des Lastwagens kletterte, mich auf den speckigen Autositz setzte und über die Rosen hinweg zum grünen First meines Hauses sah. Jess begann wieder, mit seinem Stock herumzustochern. Ich hörte ein rhythmisches »Tschock Tschock«, das das leichte Geräusch der Brise brach. Der Wind in Zebulon ist ewig, und es ist eine Ausnahme, wenn man ihn wahrnimmt, eine Ausnahme, die etwas bedeutet. Ich nahm ihn wahr. Ich nahm auch wahr, dass in der Akazie ein Nest war, aber die Vögel waren weg, und das Nest war möglicherweise alt. Aus weiter Ferne, vermischt mit dem Windgeräusch, kam das Keuchen eines startenden Traktors.

Jess sagte: »Wer ist der Liebling deines Vaters?«

Ich wandte mich um und sah ihn an. Er blinzelte mir zu, die Hände in den Hüften. Seine geschmeidige Gestalt stand weich und rund gegen die Linie der Espen. Ich sagte: »Das ist immer Caroline gewesen, bestimmt.«

»Wie kommst du darauf?«

»Du meinst, jetzt, wo er sie enterbt hat?«

»Na ja. Aber auch vorher? Ich mein, was ist an ihr, dass sie das Zeug zum Lieblingskind hat?«

»Also, sie ist die Jüngste. Wahrscheinlich die Hübscheste. Die Erfolgreichste.« Ich hatte eigentlich keine Lust, darüber zu sprechen. »Vielleicht ist das nur ein Ergebnis davon, dass sie das Lieblingskind war.«

Ich stützte das Kinn in die Hand, ließ meinen Blick auf dem alten Bettgestell ruhen und dachte eine Minute nach. »Sie hat nie Angst vor ihm gehabt. Wenn sie etwas von ihm wollte, marschierte sie direkt auf ihn zu und fragte ihn danach. Er schätzte das, besonders nach mir und Rose. Ich hatte als Kind schreckliche Angst vor ihm, und Rose konnte sich ihm gegenüber behaupten, wenn es sein musste, aber meistens ging sie ihm aus dem Weg. Bei Caroline war es, als wüsste sie nicht, dass es da etwas gab, vor dem man Angst haben musste. Einmal, als sie ungefähr drei war, wurde er wütend auf sie und brüllte sie an, und sie hat einfach nur gelacht, als ob er ein Spiel spielte.« Ich schwitzte.

»Macht es dir was aus, dass Caroline sein Liebling ist?«

»Hat ihr in letzter Zeit nicht viel genützt, oder?«

»Nein.« Er lächelte wieder. »Aber im Ernst.«

»Macht es einem tatsächlich was aus, wenn man erwachsen ist? Ich glaube, ich denk nicht weiter drüber nach.« Ich lächelte, wie man lächelt, wenn man möchte, dass jemand einer Angelegenheit nicht weiter auf den Grund geht, aber nicht möchte, dass er das merkt. Ich sagte so dahin: »Wer ist Harolds Liebling?«

»Ich.«

»Auch jetzt noch?«

»Auch jetzt noch.«

»Aber er und Loren sind wie Zwillinge. Sie sind sich in allem absolut einig.«

»Oh, ich weiß nicht. Jedes Mal, wenn Loren etwas vorschlägt, oder selbst, wenn er etwas tut, das er schon immer alleine getan hat, wie zum Beispiel entscheiden, wo gespritzt oder gesät werden soll, beschuldigt Harold ihn, er versuche, alles in die Hand zu bekommen. Es wird immer schlimmer. Loren wird immer ängstlicher. Jetzt bittet er praktisch um Erlaubnis, sich den Arsch abwischen zu dürfen, aber in Harolds Kopf spukt diese Verschwörungsidee herum, und Lorens Verhalten ist für ihn nichts weiter als eine Tarnung, unter der er in Wirklichkeit auf das düstere Ziel zustrebt. Vor zwei Wochen hat Harold noch Sachen gesagt wie: ›Wer hat gesagt, du sollst die Bohnen spritzen?‹ Jetzt heißt es: ›Du legst mich nicht rein! Ich weiß, was du vorhast.‹«

»Gespenstisch.«

»Na ja, so gespenstisch ist das gar nicht.«

»Warum nicht?«

»Na ja, einmal seid ihr da.« Er brach noch einen Halm Bartgras ab und begann seine Handfläche mit der Spitze zu streicheln. »Ich weiß, dass ihr die Überschreibung nicht selbst in die Wege geleitet habt, und ich denke, dass selbst Harold das weiß, aber die Leute werden misstrauisch und fragen sich, wie du und Rose Larry dazu gekriegt habt, euch die Farm zu geben, wo ihn doch offensichtlich die ganze Geschichte verrückt macht.«

»Es war eine vollkommene Überraschung für uns!«

»Und sehr untypisch für euren Dad. Deshalb glauben die Leute auch nicht, was an der Oberfläche erscheint.«

Ich stieg aus dem Führerhaus und stellte mich direkt vor Jess.

»Was sagen die Leute?«

»Einfach solche Sachen wie: ›Da steckt mehr dahinter.‹«

»Scheiße! Aber Harold war da! Er war in genau dem Augenblick da, als Daddy uns gesagt hat, was er vorhatte. Es war auf eurer Party, und Harold hat gelacht! Ich weiß, dass er gedacht hat, was für ein Narr Daddy war.«

»Mag sein. Jedenfalls, das Gerede wird sich legen. Tut es immer. Ich würd mir deshalb keine Sorgen machen. Das ist nicht Harolds eigentliches Problem.«

»Was denn?«

»Dass ich hier bin. Er will mich hier halten, und ich glaub, er denkt, das Einzige, was er hat, was mich hier halten könnte, ist die Farm.«

»Und ist das wahr?« Mein Herz schlug ein wenig schneller bei dieser Frage.

Jess sagte: »Die Sache ist die, Harold kann nicht verstehen, wie es ist, wenn man in einem Zustand des Fließens ist. Ich meine, er versteht Ungewissheit. Jeder Farmer versteht die, aber das ist etwas, das von außen kommt, vom Getreidepreis oder dem Wetter, nicht von innen. Ich war überrascht, wenn Harold jemals ruhelos gewesen ist …« Er wandte sich ab, warf den Grashalm weg und nahm ein paar kleine Steine auf, die er über die wilden Rosenbüsche zu werfen begann. Schließlich sagte er: »Die Sache ist die, ich bin mir nicht sicher, ob so wie Loren sein eine Krankheit ist, die ich jetzt nicht mehr kriegen kann, weil ich zu alt dafür bin.«

Ich lachte.

»Nein, im Ernst. Als ich zur Armee ging, war es überhaupt keine Frage, dass ich wieder auf die Farm zurückkommen würde. Ich hatte Talent zum Farmen. Erinnerst du dich an den Ochsen, den ich großgezogen hab? Ich hab ihn im ganzen Staat zu den Tierschauen geschleppt. Bob. Bob Beef hab ich ihn immer genannt. Ich mochte ihn, ich mochte es, ihn großzuziehen, und ich mochte das Geld, das ich verdiente, als er geschlachtet wurde. Ich war der perfekte zukünftige Farmer, psychologisch gesehen, mein ich. Meine Sorge um Bob war absolut real, aber sie ging nur so weit. Von dem Augenblick an, als Harold mir sagte, er gehöre mir, war Bob totes Fleisch.«

»Und jetzt?«

»Ich hab meine Meinung über Fleisch geändert, über die Art und Weise, wie Fleisch in diesem Land produziert wird, über das, was es dem eigenen Körper antut. Ich meine, ich nehm an, Bob hatte ein ganz gutes Leben. Ich überschüttete ihn mit Aufmerksamkeit. Aber er ist die Ausnahme. Er hatte einen Namen. Weißt du, dass diese neuen Hühnersorten so schnell Fett ansetzen, dass sie sich schon nicht mehr auf den Beinen halten können? Ich meine, da sie ja doch alle in Käfigen sitzen, brauchen sie das auch eigentlich nicht, und ich nehm an, sie wollen auch gar nicht da raus, wenn sie so schwache Beine haben. Aber es widert mich an. Ich will’s nicht essen, ich will’s nicht.«

Ich ging zu ihm und sagte: »Aber Jess, du brauchst doch kein Farmer zu sein, und wenn, dann brauchst du keine Tiere zu halten. Du bist vom Thema abgekommen. Zuerst redest du von Harold, und jetzt redest du davon, warum du Vegetarier bist.«

Er sah mich nachdenklich an, rieb mit der Hand übers Kinn, als hätte er einen Bart. »Okay, okay. Die Sache ist die, Harold liebt mich. Er liebt mich wie ein Liebhaber. Ich war so lange weg, dass er nicht mehr an mich gewöhnt ist, und er will mich gewinnen, und er denkt, er kann mich mit der Farm gewinnen, obwohl er nach den Dingen, die ich gesagt hab, wissen muss, dass ich nicht wie er Farmer wäre, dass ich das Land für was anderes nutzen würde. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mich festlegen möchte. Harold will mich auf Zebulon festlegen.«

Seine Stimme klang merklich erschrocken. Ich sagte: »Du hörst dich an, als wolle er dich kastrieren, wie Bob Beef.«

Er lachte. »Tja, vielleicht kam das aufs Gleiche raus. Ich weiß nicht. Aber wenn ich mir mich selber in zehn Jahren vorstell, frag ich mich, ob Loren und ich, die Clark-Brüder, in ihrem Betonhaus wohnen werden, sich über ihre Teller beugen, grunzen und es mit einem großen Löffel reinschaufeln, dreimal täglich.«

»Wir sind ja auch noch da.«

»Ja, ihr seid auch noch da. Ihr habt eure Familien und euer Leben gefunden, ihr habt das.« Er klang so abgrundtief, so unbewusst neidvoll, wie ich nie jemanden zuvor gehört hatte. Ich fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag versetzt und mich im Innersten getroffen. Wir schwiegen einen langen, windigen Moment. Schließlich sagte ich: »Wie auch immer, woher weißt du, dass Harold dir die Farm geben will? Hält er sie dir vor die Nase?«

»Andeutungen. Bloß Andeutungen. Nachdem Pete damals gesagt hat, Harold habe in der Kooperative davon geredet, er wolle sein Testament ändern, bin ich aufmerksam geworden. Jede Menge Anspielungen.«

»Na ja, wart mal ab, bis er etwas Konkretes unternimmt.«

»Das ist das, was ihr gemacht habt, und du siehst ja, was passiert ist.«

»Uns hat er kalt erwischt, was?«

Jess lachte und ich lachte, und für einen Augenblick schien alles weit weg und nicht sehr wichtig. Ich fragte mich, ob das wirklich die richtige Art war, die Dinge zu sehen, auf der Müllkippe stehen, die wilden Rosen riechen und alles so distanziert betrachten. Jess sagte: »Ich fühl mich besser. Je mehr ich darüber rede, umso unwichtiger kommt mir alles vor. Irgendwas wird sich tun. Danke.« Er lächelte mich liebevoll an, umfasste meinen Arm, zog mich an sich und küsste mich. Es war ein sonderbares Gefühl, ein unbeholfen stolperndes Fallen wurde aufgefangen, die weite sonnenbeschienene Welt verengte sich auf den dunklen Brennpunkt seiner weichen Lippen auf meinen. Es erschreckte mich zu Tode, aber ich entdeckte auch, wie sehr ich darauf gewartet hatte.