Mein Vater saß aufrecht an einem Ende einer Bank, zurückgelehnt gegen die Wand, die Augen weit offen. Auf seiner Wange klebte über einem Stück weißer Gaze ein Pflaster, das bis in den Haaransatz reichte. Instinktiv folgte ich seinem Blick, weil ich, bevor ich ihn aufschreckte, erst einmal sehen wollte, worüber er nachdachte. Aber Ty ging direkt auf ihn zu und sagte: »Dad? Larry? Alles klar?« Er stand auf und ging auf die Tür der Notaufnahmestation zu, ohne uns oder der Schwester hinter ihrem Pult etwas zu sagen, die rief: »Mr Cook? Mr Cook?« Sie sah zu mir herüber. Ich sagte, dass ich die Tochter sei.
»Oh«, sagte sie, offensichtlich noch immer verwirrt. »Oh. Also, er hat ein paar Percodan gegen die Schmerzen, nur zwei. Wenn er mehr braucht, muss er sich von seinem Hausarzt ein Rezept ausstellen lassen.« Dann, aus irgendeinem Grunde entschuldigend: »Er hat nicht das Bewusstsein verloren. Er war die ganze Zeit, die er hier war, hellwach. Wir haben ihn zwei Stunden lang beobachtet.« Sie streichelte mir den Arm. »Er wird sich schnell erholen.«
»Wie hat er sich benommen?«
Sie lächelte und sah mich zum ersten Mal richtig an. Sie sagte: »Er ist nicht besonders gesprächig, oder? Als die Ärzte sich am Anfang um ihn gekümmert haben? Na ja, einer hat gesagt: ›Weißt du, ich glaub, er kann reden. Er will einfach nicht.‹ Das ist schon irgendwie ungewöhnlich.« Sie redete mit aufmunterndem Lächeln.
Ich sagte: »Nicht für ihn, in der letzten Zeit. Ist das alles? Wir können jetzt also gehen?«
Sie senkte die Stimme. »Das können Sie. Aber ich glaub, die Polizei wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Mit der Blutprobe wird es allerdings zehn Tage dauern.«
»Sie meinen den Alkoholspiegel?«
»Aber Sie können dankbar sein, dass er sich nicht ernstlich verletzt hat. Es geht ihm gut, wirklich.« Sie ging wieder an ihren Platz hinter dem Pult.
Er saß auf dem Rücksitz, auf der Beifahrerseite. Nachdem ich eingestiegen war und mich zurechtgesetzt hatte, drehte Ty sich um und sagte: »Können wir losfahren, Dad?«, aber es kam keine Antwort. Wir fuhren vom Krankenhausparkplatz herunter auf die leere Straße, die wir gerade verlassen hatten. Jedes Haus, groß und dicht neben dem Nachbarhaus, erhob sich wie eine kräftige, einzeln stehende Blüte aus seinem gepflegten Rasen und dichtem, schützendem Gebüsch. Es war fast Mitternacht. Jedes Fenster dieser langen, abgeschirmten Häuserzeile war dunkel.
Mein Vater blieb so still, dass man annehmen konnte, er habe seine Lektion gelernt, eine Diskussion über Schlüssel oder Trinken oder die ganze Situation, in der wir uns jetzt befanden, schien nicht nötig zu sein. Man konnte annehmen, dass er still blieb, weil er geläutert, ja verlegen war. Ty war ebenfalls still. Vielleicht hatten sie bereits miteinander geredet, waren zu irgendeiner Einigung gelangt, die Ty mir mitteilen würde, sobald wir zu Hause angekommen waren. Ich sagte: »Daddy, hast du die Tabletten, die die Schwester dir gegeben hat?«
Die Frage blieb unbeantwortet, so unbeantwortet, dass sie zu einer Frage wurde, auf die niemand je eine Antwort erwartet hatte. Ob er die Tabletten hatte oder nicht, war zu etwas geworden, das mich nichts anging. Das war die Antwort.
In dem Schweigen konnte ich meine Gedanken schweifen lassen, und sie kehrten zurück zu Ty und Jess und meiner Zukunft, über die ich vor kurzer Zeit – einer halben Stunde – nachgedacht hatte. Mit meinem Vater im Auto nahmen solche Gedanken eine neue Färbung an. Was müßig und angenehm erschienen war, ja sogar unschuldig (schließlich nichts weiter als Gedanken), erschien jetzt real und erschreckend. Selbst das Wohlgefühl, das ich neben Ty gespürt hatte, während wir durch die Dunkelheit gefahren waren, schien nun flüchtig, luxuriös. Ich sah mir im Vorbeifahren wieder die Häuser an, hier nicht mehr so wohlhabend wie die um das Krankenhaus, und ich entdeckte eine neue Bedeutung in ihnen, in den nicht zu übersehenden Gegensätzen zwischen ihnen – hier Müll auf einer Veranda, dort zwei schöne Autos in einer offenen Garage, auf der anderen Straßenseite eine bemalte Schaukel und ein selbst gemachter Sandkasten. Die Familien, die hier wohnten, hatten nur die allerspärlichsten Verbindungen untereinander. Jede lebte ihren unverwechselbaren Stil mit weit auseinander laufenden Absichten. Das war es, was zu beneiden war, nicht, wie ich als Kind geglaubt hatte, die Nähe oder der soziale Austausch, sondern die Einzigartigkeit des Schicksals jeder einzelnen Familie, die Freiheit jeder einzelnen Familie, jedes einzelnen Paares, etwas zu schaffen oder zu finden, das anders als das war, was die anderen hatten.
Mein Vater stöhnte. Ich erstarrte und sah weiter geradeaus. Ty sagte: »Hast du Schmerzen, Larry? Bist du sicher, dass du das Krankenhaus verlassen möchtest? Wir können sofort wieder umdrehen.« Darauf kam ebenfalls keine Antwort. Wir durften annehmen, dass das, was wir taten, ihn nach Hause fahren, das war, was er wollte. Wir fuhren weiter. Der vordere Teil des Autos schien höher zu liegen. Ich merkte, dass ich auf den Motor hörte, als zögen wir einen Wohnwagen, als strapazierte diese Fahrt mehr als nur meinen inneren Frieden.
Ty und ich tauschten ein paar heimliche augenverdrehende Blicke, und er lächelte mich an. Sein Lächeln sagte mir, was ich tun sollte – sei geduldig, halt aus, gib die Hoffnung nicht auf –, und ich fragte mich, woher er diesen endlosen Stoizismus hatte. Dieser Stoizismus war so schwer und dumm und gut! So verrückt passiv! Wann würden wir nicht mehr hinnehmen, sondern auch mal was fordern? Vielleicht war es schon so weit. Vielleicht, wenn wir in der Vergangenheit anders gelebt hätten, nicht so angepasst, nicht so gefügig – wie kam es, dass alle das Land verlassen hatten und wir zurückgeblieben waren? Wie kam es, dass ich noch nicht einmal ans College gedacht hatte, oder daran, irgendwas anderes auszuprobieren, nach Des Moines zu ziehen oder sogar nach Mason City? Dann kam das Bild, zu dem alles immer wieder zurückkehrte, jene fünf Fehlgeburten. Ich hatte immer geglaubt, dass ein Kind zu mir kommen und bei mir bleiben würde, wenn ich mich auf bestimmte Art verhielte. Die Haltungen, die ich ausprobiert hatte, waren offensichtlich – erst empfangend, dann beschützend. Jetzt allerdings erkannte ich meinen Irrtum. Wer wollte bei einer Mutter bleiben, die immer nur wartete? Die alles so träge akzeptierte, die so leicht sagen konnte, etwas wird geschehen, wir werden noch eine Chance bekommen. Nein! Es war an der Zeit aufzustehen, die Hand auszustrecken, auszuwählen und abzulehnen. Tys solide Stetigkeit brachte uns, brachte mich nicht weiter. Ich rutschte auf meinem Sitz hin und her und merkte, dass wir in die Cabot Street Road einbogen. Fast zu Hause. Ich warf mich herum und sagte: »Daddy!«
Seine Augen waren geschlossen gewesen, aber jetzt riss er sie plötzlich auf. Er richtete sich grunzend auf seinem Sitz auf. Tys Kopf wandte sich mir zu.
»Ich weiß, du bist verletzt, und es tut mir Leid, dass du einen Unfall hattest, aber wir müssen jetzt darüber sprechen. Du wirst ziemlich bald mit der Polizei Schwierigkeiten bekommen. Du musst dir das einfach zu Herzen nehmen. Du kannst nicht wild in der Gegend rumfahren, und du kannst das erst recht nicht, wenn du getrunken hast. Das geht nicht. Du könntest jemanden umbringen. Oder dich selber umbringen, was das betrifft.«
Er sah mich an.
»Sie werden dir wahrscheinlich den Führerschein abnehmen, aber selbst wenn sie’s nicht tun, werd ich es tun, falls du noch mal so was machst. Ich werd dir die Schlüssel von deinem Truck wegnehmen, und wenn du’s danach noch mal tust, werd ich ihn verkaufen. Als ich klein war, hast du immer gesagt, eine Warnung ist genug. Also, das ist meine Warnung, und ich erwarte, dass du sie ernst nimmst. Und noch was, du bist sehr wohl in der Lage, bei der Farmarbeit mitzuhelfen, und ich seh dir an, dass du dich ohne Arbeit langweilst. Rose oder ich werden dir von jetzt an zur festgesetzten Zeit dein Frühstück machen, und danach kannst du sehr gut rausgehen und arbeiten. Wir werden es nicht zulassen, dass du rumsitzt. Du bist Arbeit gewöhnt, und es gibt keinen Grund, warum du nicht weiterarbeiten solltest. Ty und Pete können nicht plötzlich alles alleine machen.«
Es erregte mich geradezu, mit meinem Vater zu reden, als wäre er mein Kind, es war mehr als erregend, ihn als mein Kind zu sehen. Ihm zu sagen, was er zu tun hatte, war wundervoll. Es schuf in mir eine ganze geordnete Zukunft, ich sah gut organisierte Tage an mir vorüberziehen, sah mich selber im Vordergrund, groß und zielbewusst. Ich war nicht daran gewöhnt, so zu reden – wahrscheinlich hatte ich nie zuvor so geredet –, aber ich wusste, dass ich mich im Handumdrehen daran gewöhnen konnte, dass ich hier auf ein Vorrecht von Elternschaft gestoßen war, an das ich vorher nicht gedacht hatte (ich hatte nur daran gedacht, dass ich sanft und zärtlich und geduldig und belehrend sein würde). Ich sah den alten Mann an. Ich sagte: »Ich mein das mit dem Fahren ernst, und Rose wird genau derselben Meinung sein.«
Er hielt meinem Blick stand und sagte wie zu sich selbst: »Ich hab nichts.«
Ich glaubte, er versuchte nur, meine Sympathie zu gewinnen. Ich sagte: »Es ist genug für jeden da, das ist das eine.« Zum anderen, dachte ich, hast du es freiwillig abgegeben. Aber ich wagte nicht, das zu sagen. Es machte mich zu wütend.
Bevor Ty ihn nach oben ins Bett brachte, sagte ich noch: »Frühstück um sieben, Daddy. Ty wartet auf dich bei uns, und ihr könnt euch was überlegen, was du morgen tun willst.«
Bei uns zu Hause sagte Ty: »Vielleicht sollte er morgen nicht arbeiten. Wir wissen nicht, was für Nachwirkungen der Unfall hat.«
»Gib ihm was Leichtes für ein paar Stunden. Seinem Leben fehlt jede Struktur. Genau da liegt das Problem. Jetzt, wo er sich über sich selber schämt, ist es an der Zeit, etwas dagegen zu unternehmen.«
Ty stieg aus seinen Hosen und setzte sich, um sich die Socken auszuziehen. Ich ging unruhig im Zimmer hin und her, hob Sachen auf und legte sie weg. Ich spürte Kraft durch meine Adern pulsieren. Ich lief durch das Badezimmer, die beiden anderen Schlafzimmer, eins für Gäste, die niemals kamen, eins für alte Möbel. Ich sah aus den Fenstern in alle Richtungen. Es war eine milde Sommernacht, windig und dunstig. Zurück in unser Zimmer. Ty lag auf dem Rücken ausgestreckt, die Hände hinter dem Kopf. Ich sagte: »Ich hab heut Abend etwas gelernt.«
»Die Dinge in die Hand zu nehmen?«
»Ja, aber mehr als das. Es war was Physisches, nicht nur was in meinen Gedanken. Nicht nur eine Lektion.«
»Hmm.«
»Glaubst du mir?«
»Oh ja, ich glaub dir.«
»Also was?«
»Ginny, es ist nach Mitternacht. Du hast gesagt, du willst um sieben das Frühstück bei deinem Vater auf dem Tisch haben. Lass uns einfach abwarten, ob das, was du heut Abend gelernt hast, morgen noch stimmt, okay?«
»In Ordnung.«
Er schloss die Augen. Ich marschierte über den Flur zu dem Schlafzimmer, das nach Westen ging, und sah zur Clark-Farm hinüber, starrte und starrte, bis ich die Atemzüge meines Mannes tiefer und langsamer werden hörte.
Am nächsten Morgen gab es reichlich Geächze und Gestöhne. Ich war immun dagegen. Ich machte meinem Vater Frühstück – Arme Ritter, Schinken, eine aufgeschnittene Banane und ein paar Erdbeeren, eine Kanne Kaffee – und stellte es vor ihm hin. Ich reichte ihm den Sirup und die Butter und den Zucker für seinen Kaffee, und ich räumte die Küche selber auf. Ich bediente ihn gut, aber ich zeigte nicht das geringste Mitgefühl. Auf der anderen Seite bat er auch nicht darum. Er aß auf, schob seinen Teller beiseite und stand auf. Ich ging ans Fenster, nachdem er laut und vernehmlich aus der Tür gepoltert war, und sah hinter ihm her, wie er die Straße zu unserem Haus hinaufstapfte, wo Ty in der Scheune wartete. Normalerweise wäre er in seinen Truck gestiegen und die Viertelmeile gefahren, deshalb ging er jetzt, als hätte er die Orientierung verloren, als überraschte ihn die bloße Tatsache, dass er zu Fuß ging. Er war steif. Er ging krumm und seine Beine schlenkerten. Das war auch etwas, was er brauchte, mehr Bewegung. Er sah sich nicht um, aber Rose wartete, bis er ein Punkt auf der Straße geworden war, ehe sie herüberkam.
Ich wischte gerade den Herd mit dem Spüllappen. Die Fliegengittertür schlug, und Rose sagte: »Er ist also okay?«
»Er muss heute zu Doktor Henry in Pike und sich vielleicht ein paar Schmerztabletten verschreiben lassen. Sie haben ihm zwei Percodan gegeben, aber ich weiß nicht, ob er sie genommen hat. Ich werd ihn heute Nachmittag da hinfahren. Die Polizei wird sich in den nächsten zehn Tagen nicht melden, nicht bevor die Blutprobe aus dem Labor zurück ist.«
»Sie sollten ihn einsperren. Ich kann’s einfach nicht glauben, wie nachsichtig sie sind.«
»Es ist niemand verletzt worden, Rose. Es war was anderes …«
»Das ist reines Glück.«
»Das Gesetz rechnet dir dieses Glück als Verdienst an, genauso wie du, wenn du Pech hast und jemand verletzt wird …«
Rose baute sich mitten im Türrahmen zum Wohnzimmer auf und stemmte die Hände in die Hüften. »Meine Güte, Ginny, hast du nicht endlich genug davon, immer nur seine Seite zu sehen? Bist du nicht ganz wild darauf, einen Schritt zurückzutreten und einmal die Wahrheit über ihn auszusprechen? Er ist gefährlich! Er ist impulsiv und jähzornig, und er ist mit anderen nicht so milde wie sie mit ihm!«
»Ich weiß. Gestern Abend hab ich ihm wirklich die Leviten gelesen …«
»Manchmal hasse ich ihn. Manchmal überkommen mich einfach Anwandlungen von Hass, und ich will, dass er tot ist und zur Hölle fährt und immer da bleibt und schmort!«
»Rose!«
»Warum sagst du so schockiert ›Rose!‹? Weil man niemandem etwas Böses wünschen darf, oder weil du ihn nicht hasst?«
»Ich hasse ihn nicht. Wirklich nicht. Er ist ein Brummbär, aber …«
»Er ist kein Brummbär. Er ist nicht unschuldig wie …«
Ich hob die Stimme und übertönte sie. »Gestern Abend hab ich ihm in unmissverständlicher Weise zu verstehen gegeben, dass, wenn er wieder betrunken fährt, ich ihm seine Truckschlüssel abnehme. Und er hat mich verstanden. Er hat mir direkt ins Gesicht gesehen. Ty gibt ihm Arbeit. Ich denke, es wird alles besser werden. Es ist nicht einfach, mit ihm auszukommen …«
Rose machte auf dem Absatz kehrt und stapfte ins Wohnzimmer. Ich folgte ihr. Sie stand neben einem kleinen Bücherregal. Ungefähr zwanzig Nummern der Zeitschrift Successful Farming standen dort, Prospekte für Farmgeräte und -maschinen, einige National Geographie, eine Bibel, zwei Reader’s Digest und ein Buch mit amerikanischen Volksliedern. Nichts Persönliches, nichts mit Erinnerungswert. Sie starrte auf die Reader’s Digest und schnipste mit dem Fingernagel gegen das obenauf liegende. Sie sagte: »Manchmal hasse ich dich auch.«
Ich wartete. Ich dachte sofort an Linda und Pammy, wie sie sich manchmal mir statt ihrer Mutter anvertrauten, dass es mir Spaß machte, ihnen etwas zu schenken oder ihnen Dinge zu zeigen, die Rose, hätte sie von ihnen gewusst, sicherlich abgelehnt hätte. Jahrelang waren sie ein Streitpunkt zwischen uns gewesen, der nie erwähnt wurde, und ich fühlte mich sofort schuldig, bedauerte es, dass sie sich mit einigem Recht darüber beklagen konnte, dass ich ihre Autorität untergrub, weil ich mir manchmal so sehr wünschte, dass die Kinder mir gehörten, dass ich nicht anders konnte, als mir vorzustellen, wie es wäre, wenn sie mir gehörten.
»Ich hasse dich, weil du die Verbindung zwischen mir und ihm bist.«
»Wem?«
Sie warf vor Verzweiflung die Hände in die Luft. »Daddy natürlich. Stell dich nicht so dumm an. Du bist eine so gute Tochter, so geduldig, du versuchst, so gerecht zu sein, dass es mir schon wie Dummheit erscheint. Es macht mich wahnsinnig.«
Ich lächelte. »Erst gestern Abend hab ich genau das Gleiche über Ty gedacht…«
Sie hörte mir gar nicht zu. »Jedes Mal, wenn ich mich entschlossen hab, etwas zu unternehmen – von hier weggehen, Pete verlassen, wieder an die Schule gehen, um Geld zu verdienen –, hältst du mich auf. Als ich klein war, ich meine, wirklich klein, drei oder vier, warst du wie eine Wand zwischen mir und ihm, aber jetzt bist du der Weg, du hältst ihn nicht draußen, du zeigst ihm, wie er reinkommt, jedes Mal bist du vernünftig, jedes Mal bist du geduldig und siehst die Dinge aus seiner Sicht. Jedes Mal stoppst du und denkst nach! Ich will nicht stoppen und nachdenken!«
Ich starrte sie an. Sie schob mit der Hand ihre Haare zurück, stemmte dann die Faust trotzig in die Hüfte. Nur dass auf dem Weg dahin ihre Finger über die verschwundene Brust flatterten, die verschwundenen Muskeln. Sie starrte mich auch an, warf dann den Kopf zurück und sah aus dem Fenster. Ich sagte: »Ich bin nicht wie er. Ich sympathisiere keineswegs immer mit ihm. Aber ich kann nicht sagen, dass ich daran glaube, dass er uns auf halbem Weg entgegenkommen wird. Ich finde, es ist sinnvoller, ihn manchmal einfach zu umgehen.«
Komischerweise war ich gar nicht böse über ihr wütendes Gerede, ich fand es ganz in Ordnung und sogar ein bisschen so etwas wie eine Erleichterung für sie, dass sie davon sprach, mich manchmal zu hassen, aber in einem gewissen Ton, einem Ton, der Verlegenheit ausdrückte. Ich hatte immer gedacht, dass Roses negative Gefühle mehr Wucht haben würden. Ihre Verlegenheit war so etwas wie ein Aufschub. Ich machte einen Schritt auf sie zu, beflügelt von dem Gefühl, das ich am Abend zuvor gehabt hatte, dass wir die Rollen mit unserem Vater tauschen könnten, dass er in die Hand genommen und kontrolliert werden könnte: wir brauchten uns bloß in unserem Plan einig zu sein und uns streng daran zu halten. Sie wirkte skeptisch. Ich sagte: »Wie auch immer, Tatsache ist, ja, du hast Recht, ich hab ihn mit vielem durchkommen lassen. Wir alle haben das. Aber wir können Regeln aufstellen, und ich denke, die Regeln können ziemlich einfach sein.«
Rose ging zum Vorderfenster und stand mit dem Rücken zu mir und starrte nach Westen über die Felder. In diesen Tagen boten sie ein Bild aus einfarbigem Grün. Der Mais, der mit mechanischer Gleichförmigkeit wächst, die einem ein bisschen surreal erscheinen kann, wenn man länger darüber nachdenkt, hatte sechs oder acht Blätter entwickelt, die wie Wimpel in glatten, unverbundenen, geschwungenen Paaren zu beiden Seiten des Stiels standen und groß genug waren, um jetzt den größten Teil der schwarzen Erde des Feldes zu verdecken. Maispflanzen sind auf seltsame Weise menschenähnlich – die Blätter haben mich immer an Schultern erinnert, die Narbenfäden an Köpfe. Ich stand neben ihr und sah in ihr Gesicht. Nach einigen Augenblicken sah sie mich auch an. Sie sagte: »Ginny, sag mir, was du in Wirklichkeit, in Wirklichkeit von Daddy denkst.«
»Tja, ich weiß nicht.« Nur, dass ich es doch wusste. Alle möglichen Gedanken waren mir die ganze Nacht über kristallklar gewesen, aber jetzt, wo sie mich danach fragte, schössen sie mir alle gleichzeitig durch den Kopf, so dass es mir unmöglich war, einen dem anderen vorzuziehen und als den Hauptgedanken über Daddy auszuwählen. Ich leckte mir die Lippen. Rose biss sich auf die ihren, und damals dachte ich, dass sie es tat, weil sie nichts sagen wollte, das mich beeinflussen könnte. Ich ging verschiedene Gedanken durch, denn ich wusste, sie brauchte eine Antwort. Gleichzeitig war ich mir der klaren morgendlichen Farben dessen bewusst, was wir draußen ansahen, den Schatten direkt vor uns, das grüne Feld und dahinter den sonnigen blauen Himmel. Ich sagte: »Ich liebe Daddy. Aber er ist so daran gewöhnt, Befehle zu geben, keine Widerrede. Du weißt schon.«
Sie sah mich an.
»Ich mein, er trinkt und alles. Ich weiß nicht, was das bedeutet.«
Sie sah mich weiter an.
»Ich geb zu, dass er schon lange trinkt, wahrscheinlich seit wir ihn kennen. Ich hab nie wirklich darüber nachgedacht, aber ich bin sicher, wenn wir uns hinsetzen und das alles mal besprechen …«
Sie sah mich immer noch an. Ich sagte: »Rose, du machst mich nervös. Was willst du hören? Ich mein, worüber soll ich was sagen?«
Sie sah mich an, dann aus dem Fenster. Ich sagte: »Ich mein, Mommy war nicht mehr da und konnte uns nicht mehr sagen, was wir von Daddy halten sollten. Ich frag mich, ob sie glücklich zusammen waren. Ob sie ihn gerne mochte. Oder ob er sie gerne mochte. Obwohl ja jeder Mommy gerne mochte. Ich denke Verschiedenes.«
Sie räusperte sich, und ich nahm das sozusagen als mein Stichwort, still zu sein. Sie sagte: »Scheiße, Ginny.«
Ich lachte. Vielleicht hatte ich erwartet, ihr Mund würde sich öffnen und eine andere Stimme, eine orakelhafte Stimme würde erklingen, tief und hallend. Sie schürzte die Lippen und verwandelte sich schnell wieder in die Rose, die ich kannte und auf die ich zählte. Sie rollte die Augen, schien einen Witz auf Daddys Kosten machen zu wollen, oder auf meine. Das wäre auch in Ordnung gewesen. Sie sagte: »Ich hasse dich nicht, Ginny. Ich weiß, was ich gesagt hab, aber ich weiß nicht, was es genau bedeutet. Oder wie ich dir sagen soll, was es bedeutet. Oder was anderes. Lass uns mal annehmen, es ist so, wie du meinst. Wenn er uns auf die Nerven geht, kriegt er mehr Arbeit. Vielleicht schaffen wir’s mit Regeln. Wir können’s versuchen.«
»Ich kann nicht beschreiben, was für ’n Gefühl das war, ihm einfach zu sagen, okay, du wirst jetzt dies tun und das wirst du lassen. Ich mein, es ist so einfach.«
»Berühmte letzte Worte.« Sie legte die Arme um mich und drückte mich kräftig an sich, kräftiger als zuvor. Ich sagte: »Hab dich lieb, Schwesterherz«, mit gespielt rauer Stimme.
Sie sagte: »Ich dich auch. Vereinte Front, ja?«
»Ja.«