21

Ty und ich nahmen unsere Unterhaltung nicht wieder auf, wir versuchten nicht herauszubekommen, was es war, das ich gelernt hatte, oder was es bedeutete. Ich wurde entschlossener und stellte Regeln auf. Ich spürte, dass Ty das nicht gut fand, aber es war ein heikles Thema, und ich traute mich nicht, darüber zu reden, weil ich Reibungen zwischen Ty und mir hasste. Außerdem war es auch leicht, sein unausgesprochenes Missfallen zu übergehen. Schließlich war sein Dad so angenehm früh gestorben, gerade als der Sohn alt genug war, das Wissen des Vaters neu zu schätzen, während beide noch in bestem Einvernehmen zusammenarbeiteten, bevor das Alter den Vater unzuverlässig und zänkisch machen konnte. Ty liebte seinen Vater, der ein freundlicher Mann gewesen war, nicht sonderlich ehrgeizig, und es war immer leicht für ihn gewesen, diese Liebe einfach auf meinen Vater zu übertragen. Als ich darüber nachdachte, wurden mir neue Dinge klar, über Ty und meinen Vater und uns alle. Unter anderem, dass die Stürme zwischen Daddy und Pete einem ruhigen, stetigen Arbeiter wie Ty eine Menge Macht verliehen, denn nicht nur verfolgte er friedlich seine Ziele, während sie tobten, oft suchte auch jeder der beiden seine Unterstützung. Er konnte dann eine Lösung vorschlagen, seine Lösung. Ein Grund, sein Missfallen zu übergehen, war, ging mir auf, die Art, mit der er all die Jahre sein Eigeninteresse verfolgt hatte. Alles unter dem Deckmantel von Vermittlung und Frieden. Es machte mich geradezu wütend, um die Wahrheit zu sagen.

Und dann war da dieses sehr gewollte positive Denken, diese selbst gemachte Illusion, alles werde am Ende gut, obwohl wir alle möglichen Beweise hatten, die dagegen sprachen. Wenn ich mich über mich selber ärgerte, weil ich wie betäubt alles akzeptiert hatte, was mit mir geschehen war, so ärgerte ich mich auch über Ty, weil jede Furcht, die ich gehabt hatte, etwas Neues auszuprobieren, Widerstand zu leisten, Konflikte zu schaffen, eine Furcht war, die er ermutigt hatte. Für mich hing das mit seinem Vater, mit den Jahrzehnten seiner Familie auf der Farm zusammen, nie auch nur einen Zoll Bodens verlierend, aber auch nie etwas dazu gewinnend. Es war vielleicht unmöglich, jemanden, der so zaudernd wie ich war, als ausgelassen oder impulsiv zu sehen, aber in unserem Haus sorgte ich für Schwung – den Anflug des Unvorhersagbaren, selbst wenn es nichts weiter war als ein chinesisches Rezept aus der Rubrik »Modernes Leben« im Des Moines Register. Ich sagte mir, dass es nicht die Dinge waren, die Rose und ich mit Daddy ausprobieren wollten, gegen die Ty etwas hatte, sondern die Tatsache, dass wir überhaupt etwas ausprobierten.

Ich wusste, dass ich nicht wütend auf Ty sein sollte, nur deshalb, weil er das war, was er immer gewesen war, geduldig, verständnisvoll, behutsam, bereit, als Bollwerk gegen meinen Vater zu fungieren, aber ich war wütend auf ihn.

Jess Clark fand, dass Rose und ich genau den richtigen Weg einschlugen.

Tatsache ist, dass ein- und dieselbe Aufeinanderfolge von Tagen in einer Anzahl ganz unterschiedlicher Geschichten untergebracht werden kann. Einerseits hatten wir die Geschichte meines Vaters – die Ereignisse waren die Beweise seines zunehmend unberechenbaren Verhaltens, und dessen Verkörperungen standen hier und da herum – die Küchenschränke, die auf der Einfahrt aufquollen und sich verzogen, sein sichergestellter Truck, wo immer auch die Verkehrspolizei solche Fahrzeuge aufbewahrte, dessen vorderer rechter Kotflügel, wie sich später herausstellte, platt gegen den Reifen gedrückt war, dessen Scheinwerfer zersplittert waren, dessen Stoßstange nach oben bis unter den rechten Kotflügel hochgeknickt war, Gras und Unkraut aus dem Graben steckte noch in den Ritzen. Und da war das Sofa, das schließlich ankam, weißer Brokat, ungefähr das für ein Farm-Wohnzimmer ungeeignetste Sofa, das man sich vorstellen konnte. Dann war da eine ganze Reihe von Anhaltspunkten für unsere Auseinandersetzungen mit Caroline über ihn – ein Hagel an Telefonaten, nach dem jene Nummer nie wieder auf unserer Rechnung erschien, die Anzeige in der Zeitung, die harmlos aussah, aber demütigen sollte und es auch tat, dann die hohe Rechnung, über hundert Dollar, für die Küchenmaschine, die Rose bei Younkers bestellt und mit einer gleichermaßen demütigenden Karte abgeschickt hatte: »Schön von der guten Neuigkeit zu lesen, Rose Lewis und Familie.« Es war eine Geschichte, die einen in ihren Bann zog, erschreckend und spannungsgeladen, voller Bedeutung, wenn auch nur für unsere Familie, und auch voller Geheimnisse, da Daddy nur handelte und niemals seine Motive enthüllte. Es war eine Geschichte, die unsere Nachbarn bestimmt genüsslich verfolgten, gespannt auf Hinweise auf das, was eigentlich vor sich ging, und bereit, mit Erinnerungen oder Spekulationen zu dienen, die unverständliche Wendungen in der Erzählung erklärten.

Aber in Wahrheit war die Geschichte jener Tage die Geschichte von Jess Clark, von der Farbe und dem Reichtum und der Einzigartigkeit, die seine Anwesenheit in der Nachbarschaft jedem einzelnen Moment, der vorüberging, verlieh. Wenn ich an ihn denke oder an jene Zeit, denke ich lebhaft an sein Gesicht und an seine Figur, wie verblüffend es zum Beispiel war, jemanden beinahe nackt, nur in Shorts, ohne Hemd, in einer Welt zu sehen, in der die Männer selbst an den heißesten Tagen Arbeitshosen, Stiefel und Kappen trugen. Ich denke an die Muskeln seiner Beine, die jahrelanges Laufen zu geschmeidigen Flechten einzelner Stränge der Spannkraft gemacht hatte. Ich denke an seine Bauch- und Arm- und Rücken- und Schultermuskeln, in jedem Mann vorhanden, aber sichtbar in Jess, wie eine Art Tugend. Wahr ist aber auch, dass ich unmöglich an ihn für sich allein denken kann, unabhängig von allem sonst. Was sich in ihm konzentrierte, verbreitete sich auch über den Rest der Welt. Ich erwartete immer, dass er auftauchte, weil alles, was ich um mich herum sah, zu ihm geworden war – es erinnerte mich an ihn, drückte ihn aus, versprach mir etwas von ihm. Wenn er auftauchte, war die Welt vollständig. Wenn er nicht auftauchte, würde sie es bald sein.

Harold Clark redete jetzt häufiger und offen darüber, dass er sein Testament ändern wollte. Harold war der Typ Mann, der sich etwas darauf einbildete, dass er jeden kannte, was bedeutete, dass er gleichermaßen mit Männern, Frauen, Jungen und Mädchen auf eine vertraute Weise Witze machte. Nicht lange nach dem Unfall meines Vaters war ich eines Nachmittags mit Pammy und Linda zum Schwimmen in Pike. Ich sollte sie hinbringen, und Rose wollte sie abholen. Auf halbem Weg nach Cabot merkte ich, dass mein Benzinanzeiger auf »leer« stand, also bog ich bei Casey’s auf der Dodge Street ein und stieg aus, um zu tanken. Ich bemerkte Harolds Truck nicht, aber als ich hineinging, um zu bezahlen, standen da Harold und Loren und versorgten sich mit Donuts und Pizzastücken. Loren zahlte gerade, und Harold stand hinten am Gefrierschrank und nahm etwas zu trinken heraus. Er lachte, und seine Stimme schallte durch den ganzen Raum. »Jaah, Dollie«, sagte er zu der Frau hinter der Theke, »ich sitz jetzt ganz schön in der Klemme. Eine Farm, zwei Jungs. Zwei gute Jungs ist ein Junge zu viel, weißt du. Bald kommen zwei Frauen dazu und sechs oder acht Kinder, und man muss gerecht sein, aber es gibt keine gerechte Art und Weise, den Kuchen aufzuteilen. Eine Farm kann nicht alle Menschen ernähren, also suchen sich ein paar, die genug Energie haben, Arbeit in der Stadt, aber man will sie ja nicht ganz übergehen, bloß weil sie Unternehmungsgeist haben. Also streiten sich die Frauen. So fängt’s an, nicht?« Mittlerweile stand er wieder an der Theke, und er fixierte sie mit einem frechen Blick. Dollie war mit Harold zusammen in der achten Klasse gewesen, deshalb erwiderte sie seinen Blick und sagte: »Was du von Frauen verstehst, Harold Clark, hat mich noch nie besonders beeindruckt.« Er lachte, als wäre das ein Kompliment, und machte weiter, und da er mich gesehen hatte, bezog er mich in seine Zuhörerschaft ein. »Aber das Beste ist, ich werd tot sein, wenn das alles passiert, und wenn unser Herrgott sagt: ›Harold, sieh dir an, was für ein Durcheinander du da angerichtet hast‹, werd ich sagen: ›Ich wollte nur gerecht sein. Ich hab zwei gute Jungs gehabt, und ich hab die Heilige Schrift befolgt, denn hast du nicht selber gesagt, dass jeder denselben Tageslohn erhält, ob sie nun spät oder früh aufm Weinberg erscheinen?‹ Und er wird sagen: ›Ja, das hab ich‹, und ich werd sagen: ›Also, da siehst du, du bist selber schuld.‹« Harold brüllte laut vor Lachen, Loren lächelte, und Dollie zwinkerte mir zu. Nachdem Harold gegangen war, sagte sie: »Es ist ein Verbrechen, wie er vor den Jungs redet. Und nur vor ihnen. Wenn keiner von ihnen dabei ist, Ginny, sagt er keinen Pieps über sein Testament oder über das, was nach seinem Tod kommt oder sonst was. Er redet vom Kaufen, als war er unsterblich.«

»Wie geht’s dir, Dollie?«

»Meine Enkeltochter geht mit einem Kirchenaustausch in die Sowjetunion, hast du davon gehört? Sechs aus der Kirche und sechs aus der Schule. Sie ist die jüngste. Sie nimmt eine Arbeit mit, die sie über die Schweineruhr gemacht hat. Bob Stanley hat das irgendwie über Marv Carson gedeichselt. Marv kennt jetzt Senator Jepsen, durch irgendeine Bankgeschichte.«

»Hmm.« Ich muss geistesabwesend gewirkt haben. Sie sah mich eindringlich an, als ich mich von der Theke abwandte, und sagte:

»Diese Clark-Jungs sollten wissen, dass Harold nur so daherredet. Sie sollten sich nichts ausrechnen. Ich schätze, er hat überhaupt kein Testament, und er hat für die Steuern bestimmt nichts zurückgelegt.«

Ich dachte, sie erzählte mir das alles als indirektes Kompliment für meinen Vater, für unsere ganze Familie, weil wir vorbereitet waren. Oder aber als verschleierte Beleidigung. Es fiel mir schwer zu sagen, was die Nachbarn von uns dachten. Ich sagte: »Wenn ich mit Loren oder Jess rede und die Sprache darauf kommt, werd ich’s ihnen sagen, Dollie.«

»Jemand muss das tun. Aber weißt du, Loren ist wie Haralds Schatten, und ich bin mir nicht wirklich klar über den älteren. Ich kenn ihn, seit er ein kleiner Junge war, aber wenn er hier reinkommt, verwechsel ich ihn immer mit ’nem Touristen. Er kommt mir vor wie ’n Fremder.«

Pammy öffnete die Tür und sagte: »Komm, Tante Ginny, uns ist heiß.«

Dann gab die Tiefkühltruhe der Clarks den Geist auf, und Jess brachte Steaks und Koteletts zu uns herüber, bis sie von Sears einen Mann für die Reparatur bekamen. Ty saß gerade am Tisch und frühstückte. Jess fragte, wie es Daddy ging, ob wir den Truck gesehen hätten, und sagte dann: »Du kommst besser mit mir runter, Ginny, und zeigst mir, wo ich die hier hintun soll, damit sie nicht mit euren Sachen durcheinander kommen.«

Als wir uns über die Tiefkühltruhe beugten, küsste er mich aufs Ohr und flüsterte: »Komm morgen Nachmittag zu der Müllkippe. Harold nimmt deinen Dad mit rein nach Zebulon, wegen irgendeiner Anbaugeschichte, und Ty fährt mit zu dem Laden mit Autoteilen.«

Ich trat von ihm weg. »Hat er mir gesagt.«

»Ich muss mit dir reden.«

Ich wandte mich von der Kühltruhe ab und ging die Kellertreppe nach oben. Mein Glück hielt. Die Küche war leer; Ty ließ draußen den Truck an. Er winkte mir zu, während er in die Straße einbog. Als Jess aus dem Keller kam, sagte ich: »Soll ich dir helfen, den Rest rüberzubringen?«

Ich konnte Harold rufen hören, sobald ich die Wagentür öffnete, um auszusteigen. Er rief: »Wer hat dir gesagt, dass du den Sprayer auf dem Feld stehen lassen sollst?«, und dann irgendwas Unverständliches. Loren kam um die Ecke des Hauses, und ich merkte, dass ich dastand und starrte. Ich lächelte, und er lächelte etwas beschämt zurück. Ich folgte Jess ins Haus. Durch das Küchenfenster auf der Scheunenseite des Hauses konnte ich sehen, wie Harold auf die Scheune zumarschierte und auf dem Weg dorthin mit dem Fuß Erde oder Kies vor sich herstieß. Aber dann, als Loren wieder auftauchte, mit einem Steckschlüssel in der Hand, wirbelte Harold herum und ging mit ausgestreckten Händen auf ihn zu, als wolle er ihn schlagen oder erwürgen. Loren ließ sein Werkzeug fallen und wehrte ihn ab. Jess sagte: »Scheiße!«, und lief aus der Küche. Als er die beiden anderen erreichte, brüllte er: »Harold! Dad! Heh!«, und packte Harold am Arm. Ich fand eine braune Papiertüte und füllte sie mit den weißen Fleischpacken, die in den Kühlschrank gequetscht waren. Die Gefriertruhe stand offen, von der Wand weggezogen, und stank nach diesem sauren Gefriergeruch und schwach nach Fleisch und Blut.

Die Tür öffnete sich, und Jess beförderte Harold grob in die Küche. Harolds Gesicht war purpurrot angelaufen. Jess sagte: »Jetzt setz dich hin«, und stieß ihn halb auf einen Stuhl. »Ich hab ihm gesagt, er soll den Sprayer auf dem Feld stehen lassen! Es war mein Fehler. Und jetzt lass ihn, verdammte Scheiße, in Ruhe!«

Ich dachte, Harold würde sich umwenden und ein Unwetter auf Jess loslassen, aber stattdessen schnüffelte er ein paar Mal und sah ihn starr an. Schließlich sagte er, ohne mich anzusehen, aber in ganz munterem Ton: »Ginny, ich bin ziemlich unbeherrscht, das ist leider wahr. Ich entschuldige mich.«

Jess füllte eine Tüte mit den letzten Fleischpacken und einigen bunten Paketen gefrorenem Bohneneintopf und Spinat aus dem Lebensmittelladen. Er rollte die Augen. »Du solltest rausgehen und dich bei Loren entschuldigen, das war besser.«

Harold zog ein gelbes Taschentuch hervor und putzte sich die Nase, stopfte dann das Taschentuch wieder in die Tasche. Jetzt sah er mich an. Ich stand da mit der kalten Tüte in den Armen und wollte hinausgehen. Harold beugte sich zu mir und beichtete: »Ich muss sagen, Ginny, dass alles an dem Jungen mich in letzter Zeit aufregt. Ich bin der Erste, der zugibt, dass er’s nicht verdient hat, aber ich brauch ihn bloß anzusehen, und er macht mich wütend. Die Art, wie er geht, die Art, wie er redet. Außerdem wird er fett. Verdammt, die Art, wie er ja und nein sagt und springt, wenn ich ihn auf dem Kieker habe. Das macht mich am wütendsten. Letztes Jahr um diese Zeit konnte er nichts falsch machen, jetzt kann er mir nichts recht machen. Ich schätze, daran ist Jess schuld.«

»Nein, Harold«, sagte Jess, »es ist deine Schuld, weil du dich gehen lässt. Wenn du weißt, dass du so bist, müsstest du dagegen angehen.«

»Ginny, ich geb zu, ich bin nicht so gut im Beherrschen.« Er sagte das, als sollte ich ihn von der Notwendigkeit, sich zu kontrollieren, mit einem Lächeln oder einem Scherz freisprechen. Harold grinste tatsächlich an dieser Stelle, wobei er mich direkt ansah. Ich sagte: »Ich glaub, Jess hat Recht, Harold. Ich glaub, du könntest dich beherrschen, wenn du’s wirklich wolltest.«

Harold stand auf und ging Richtung Wohnzimmer, noch immer lächelnd. Er sagte: »Na ja, du hast keine Kinder, deshalb kannst du auch nicht wissen, wie das ist.«

Jess schüttelte vor Verzweiflung den Kopf, und wir gingen schleunigst raus. Loren war mit seinem Pick-up weg, vermutlich, um den Sprayer zu holen. Wir stiegen in Haralds Truck und schlugen die Türen zu. Ich sagte: »Ich würd gern wissen, was mit Daddy und Harold los ist.«

»Ich weiß nicht, was mit Larry ist, aber Harold gibt einfach nur an, genau wie immer. Ich frag mich, ob er wirklich so wütend auf Loren ist, wie er einen glauben lässt. Er macht einem was vor, einfach weil er das liebt.« Er ließ den Motor an.

»Ich fang so langsam an zu glauben, dass es keine Belohnung dafür gibt, das alles hier hinzunehmen.«

»Eine große Farm und die Chance, sie so zu bewirtschaften, wie du willst, ist eine Belohnung.«

»Du machst dich über mich lustig.«

Er fuhr auf die asphaltierte Straße. »Nein, hör mal. Ich hab was mit der Post gekriegt. Wusstest du, dass es in diesem Staat einen Verein organischer Farmer gibt? Typen, die nie zu Chemikalien gegriffen haben oder die vor zehn oder fünfzehn Jahren aufgehört haben, Chemikalien zu verwenden. Das bringt mich auf ’ne Menge Ideen. Und obwohl niemand in den Zeitungen was darüber schreibt und man sie lächerlich macht und alle gegen sie sind, ist es ein lebendiger und wachsender Verein. In Sac City gibt’s jemanden, den ich mal besuchen wollte, wenn du mitkommst.«

Ich rollte die Augen. Jess lachte und beugte sich zu mir. Ich konnte ihn riechen. Ich presste meine Lippen aufeinander.

»Vor einigen Tagen hattest du noch jede Menge Zweifel.«

»Das war, bevor ich von dieser Sache gehört hatte. Ginny, das ist wichtig! Das ist etwas, das beide Hälften meines Lebens zusammenbringt.«

»Solange er lebt, wird Harold nicht zulassen, dass du organisch arbeitest.«

»Wir werden sehen. Er hält im Augenblick ziemliche Stücke auf mich, und ich hab mich ihm gegenüber nicht zurückgehalten, sondern gesagt, was er meiner Meinung nach falsch macht. Er hört auf mich.« Wir hielten an meiner Hintertür an. Niemand war in der Nähe. Ich sagte: »Du bist so unrealistisch. Ich komm so langsam dazu, das als eine deiner Tugenden anzusehen.« Während er durch die Tür ging, zwickte er mich leicht in den Hintern. Ich lachte, sagte aber: »Nein wirklich. Du hast uns alle verändert. Du bist aufgetaucht und hast uns alle auf den Kopf gestellt, und das kommt daher, weil du etwas tust, von dem du nicht weißt, dass du es tust.« Ich gab ihm die Tüte, die ich trug, und begann das Frühstücksgeschirr vom Tisch zu räumen. Er stand eine Weile da – ich konnte ihn spüren – und lief dann die Kellerstufen hinunter. Das Haus schien über ihm zu schweben, über seiner Anwesenheit. Eine alltägliche Arbeit verrichten und das spüren war ein antreibendes, prickelndes Vergnügen für mich, und es gab sogar den Tellern, die ich abspülte, und den Essensresten, die ich in den Abfall kippte, Bedeutung.

Die Ereignisse jenes Tages und des nächsten Morgens schienen mir damals nur Reklameschilder an der Wand eines Tunnels zu sein, der zum nächsten Nachmittag führte. Ich fuhr meinen Vater zum Arzt, wo sie wohl seine Schnittwunden und Schürfungen untersucht haben müssen, mir aber nichts gesagt wurde – ich wartete einfach im Wartezimmer; selbst die Frau an der Rezeption war nicht da. Mittagessen mit Ty, dann der Nachmittag mit den frischen Ferkeln, wo ich ihm mit den letzten Neugeborenen half. Man musste ihre Eckzähne herausbrechen, die scharf waren und noch schärfer werden würden, und ihre Schwänze stutzen, damit sie nicht gegenseitig darauf herumkauten und sich infizierten. Die Sauen mochten nicht, wie wir mit den kleinen Ferkeln umgingen, aber während der ersten Tage waren sie noch gefügig und fast immer schläfrig. Wir kastrierten ungefähr zwanzig kleine Eber. Als es Zeit zum Abendessen war, stanken wir und waren nass geschwitzt, und trotz der Ventilatoren war es in dem Stall so heiß ’gewesen, dass mir das durch die Klimaanlage gekühlte Wohnzimmer Schauer über den Körper jagte. Duschen, dann Makkaroni und Käse zum Abendessen, ins Bett vor dem Dunkelwerden.

Ich lag in der heißen Dunkelheit wach, nackt und vom Laken zugedeckt. Immer wieder hob ich das Laken und sah darunter meine blau-weiße Haut an, meine Brüste mit ihren dunklen Brustwarzen, die verkürzten gerundeten Dreiecke meiner Beine, meine vorspringenden Füße. Ich sah mich an, während ich an Sex mit Jess Clark dachte, und ich fühlte, wie bei diesen Gedanken mein Fleisch elektrisch wurde, sich die Empfindungen um meine Brustwarzen herum konzentrierten, sich meine Vagina entspannte und öffnete, meine Lippen und meine Fingerspitzen so empfindlich wurden, dass sie ihre eigenen Formen erkannten. Als ich mich auf die Seite drehte und meine Brüste zusammenflössen und ich das Laken ein paar Mal schnell aufschlug, um mir ein bisschen Luft zuzuwedeln, sah ich meine immer da gewesene alte Figur sich auf die immer da gewesene Art und Weise bewegen. Ich legte mich auf den Bauch, damit ich nicht mehr sehen konnte, damit ich mein Gesicht in dem schwarzen Kissen vergraben konnte. Es sah mir nicht ähnlich, solche Gedanken zu haben, und obwohl sie mich anzogen, stießen sie mich zugleich ab. Ich döste halb ein, vielleicht um dem zu entkommen. Ty, der schlief, rollte sich auf die andere Seite und legte mir seine Hand auf die Schulter, dann ließ er sie meinen Rücken hinunter gleiten, so langsam, dass mein Rücken mir so lang und gekrümmt wie der einer Sau vorkam, in einem glatten Bogen von meinem in der Erde wühlenden Kopf bis zu meinem kleinen Stummelschwänzchen. Ich wurde schlagartig wach und erinnerte mich an die kleinen Ferkelchen. Ty war mir sehr nahe. Es war noch immer heiß, und er drückte mir seine Erektion ans Bein. Normalerweise mochte ich es nicht, wenn ich nachts wach wurde und er mir so nahe war, aber meine vorangegangenen Fantasien müssen mich aufnahmebereit gemacht haben, denn das bloße Gefühl von ihm da, eine Mischung davon, dass ich einerseits seinen hartnäckigen Druck spürte und mir andererseits seine glatte, schwere Form vorstellte, ging über mich hinweg wie eine heiße Welle, und im selben Augenblick war ich atemlos. Ich umfasste ihn mit der Hand und drehte mich ihm zu, nahm dann meine Hand weg und zog die Rundung seines Hinterns zu mir heran. Aber dieses eine Mal hielt ich es nicht aus, ihn nicht zu berühren, zu wissen, er war da, und ihn nicht in der Hand zu halten. Ty wurde wach. Ich keuchte, und er war im Nu auf mir. Das war wirklich etwas: zutiefst erregend und gleichzeitig nicht genug. Der Teil in mir, der noch immer eine Sau war, wollte sich suhlen, meine Haut gegen die seine pressen und versinken. Ty flüsterte: »Mach die Augen nicht auf«, und ich tat es nicht. Nichts würde mich aus diesem ungewohnten Traum meines Körpers schneller aufwecken, als die Augen zu öffnen.

Danach, als wir dann tatsächlich die Augen öffneten und wieder wir selber waren, sah ich, dass es erst Viertel nach zehn war. Ich rückte weg von ihm, auf die kühlere Bettseite. Ty sagte: »Ich mochte das. Es war schön«, und er legte mir liebevoll die Hand auf die Hüfte, ohne mich wirklich anzusehen. In seiner Stimme lag nur ein ganz leichtes Zittern der Verlegenheit. Das war für unsere Verhältnisse ziemlich gut. Dann hörte ich, wie Wind aufkam und in den Vorhängen raschelte, und dann hörte ich das Klappern von der Schweinefütterungsanlage und das Geräusch eines Autos, das in der Ferne beschleunigte. Es war Vollmond, und die Schatten von Fledermäusen flatterten im Mondlicht. Das Zirpen der Zikaden hob sich deutlich ab, das Bellen eines Hundes. Ich schlief ein.

Als ich es am nächsten Nachmittag mit Jess Clark auf der alten Pick-up-Ladefläche auf der Müllkippe machte, war es viel linkischer. Meine Arme und Beine schlugen steif und stockartig an den Radkasten, auf die Ladefläche, stießen Jess in die Rippen, in den Rücken. Meine Haut sah grellweiß aus, weiß wie die Haut irgendeiner unterirdischen, blinden Kreatur. Als er sich vornüber beugte, um seine Turnschuhe aufzumachen, befühlte ich meine Wangen, und sie waren feucht wie Lehm. Jess legte mich zurück. Ich sah nicht hin, während er mein Hemd aufknöpfte. Er sagte: »In Ordnung?«

Ich nickte.

»Wirklich?«

»Ich bin so was nicht sehr gewöhnt.«

Er zog sich ein wenig zurück, sein Gesicht war ernst, plötzlich vorsichtig.

»Doch«, sagte ich. »Bitte.« Es war demütigend, darum zu bitten, aber das war auch in Ordnung. In einer Weise beruhigend. Er lächelte. Das war die Belohnung.

Dann, danach, begann ich auf einmal zu zittern.

Er setzte sich auf, und ich machte drei Knöpfe an meinem Hemd zu. Er sagte: »Frierst du? Hier draußen sind ja auch nur 35 Grad.«

»Vielleicht hab ich A-A-A-Angst.«

Aber ich hatte keine, nicht mehr. Das Zittern war jetzt reine Begierde. Während mir klar wurde, was wir getan hatten, begann mein Körper darauf zu reagieren, was er nicht getan hatte, während wir es taten – niemals zuvor getan hatte, dachte ich damals. Ich fühlte mich verbrannt vor Begierde, durchstrahlt, durchsichtig gemacht. Jess sagte: »Bist du okay?«

Ich sagte: »Halt mich einen Augenblick und red weiter.«

Er lachte ein warmes, vergnügtes und sehr intimes Lachen und sagte so etwas wie, also, der Sears-Mann komme morgen raus, endlich, und ich kam mit einem trommelnden Ausbruch von den Zehen bis zum Kopf. Ich begrub mein Stöhnen an seinem Hals und seiner Schulter, und er hielt mich fest genug, um mir die Rippen zu brechen, was gerade fest genug war, um mich zu bändigen, dachte ich. Er redete weiter. Harold fühlte sich ein wenig schuldbewusst und machte Loren eine Thunfisch-und-Pilz-Suppe mit Nudeln zum Abendessen. Jess hatte versprochen, sie um halb fünf in den Herd zu stellen; wie spät war es jetzt? Der Farmer aus der Nähe von Sac City hatte ihn zurückgerufen, vierhundertsiebzig Morgen Mais und Bohnen, nur Kompost und Tiermist als Dünger, der Typ hieß Morgan Boone, was vertraut klang; klang es mir auch vertraut? Er sagte, Jess könne jederzeit kommen. Jess ließ mich los und sah mich eine oder zwei lange Minuten an. Ich sah auf die Falten unter seinen Augen, seine scharfe Nase, seinen ernsten Ausdruck. Sein Gesicht war mir zutiefst vertraut, als hätte ich es mein ganzes Leben lang angestarrt. Ich holte ein paar Mal tief Atem und legte mich zurück an seine Schulter. Der Himmel war stahlblau, die Sonne in den spitzenartigen Blättern der Akazie über uns gefangen. Ich wollte sagen, was jetzt, aber das war mit Sicherheit eine gefährliche Versuchung, deshalb ließ ich es. Ich sagte: »Wie spät ist es? Haben wir das schon rausgekriegt?«

»Viertel nach drei.«

»Ich bin um eins aus dem Haus gegangen.«

»Kommt mir vor wie in einem anderen Leben.«

»Stimmt das?« Aber es fiel mir schwer zu glauben, dass solche Episoden wie diese an der Westküste nicht ziemliche Routine für einen gut aussehenden Mann waren. Ich versuchte, witzig zu klingen. »Du hast so was früher schon mal gemacht.«

»Ja, ich hab schon mit Frauen geschlafen. Ich hab so was noch nicht gemacht.«

Ich sagte: »Ich hab nicht mit Männern geschlafen. Ich hab mit Ty geschlafen.«

»Ich weiß, Ginny. Ich weiß, was das bedeutet.«

»Vielleicht weißt du das, vielleicht auch nicht.«

Ich setzte mich auf und streckte den Arm nach meiner Unterhose aus. Die Welt sah komisch aus, als wäre sie nicht sie selbst, sondern ein 360-Grad-Panoramafoto von sich selbst. Ich sah Jess wieder an, lehnte mich dann gegen seine Schulter. Er sagte: »Ich vertrau dir. Ich hab dir von Anfang an, als ich dich bei dem Spanferkel-Essen wiedergesehen habe, vertraut. Das gehört zu den Dingen, die mich wieder hierher zurückziehen.«

»Oh«, sagte ich. »Das.«

Jess lachte, ging aber nicht weiter darauf ein. Ich seufzte, fragte mich, wann Ty und Harold und Daddy und Pete zurückkämen. Rose war auch weg, war mit den Mädchen nach Mason City gefahren. Ich spürte, wie ich mich von Jess löste. Es war ein natürlicher, willenloser Prozess, ein Abebben, das beruhigender war als alles andere, schien es doch zu bedeuten, dass ich sowohl befriedigt sein konnte als auch voller Begierde. Meine Nase juckte, und ich setzte mich auf und wischte mir mit dem Ende meines Hemdes darüber. Jess hatte sich auch aufgesetzt. Wir lächelten uns an, eine weitere Stufe im Prozess des Abebbens. Als er sich nach seinem Hemd vorbeugte, fuhr er mit der Hand mein Schienbein entlang und sagte: »Du hast schöne Knöchel. Sie fallen mir jedes Mal auf.« Dann: »Darf ich dich was fragen?«

»Klar.«

»Wie kommt es, dass du und Ty keine Kinder habt?«

»Na ja, ich hatte fünf Fehlgeburten.«

»Meine Güte, Ginny.«

»Ty weiß nur von dreien. Es war zu viel für ihn danach, und deshalb behalt ich’s für mich.«

Ein harter Ausdruck ging über Jess’ Gesicht, und eine Welle von Angst überlief mich. Ich griff nach meinen Jeans und sagte: »Na ja, natürlich sollte ich ihn nicht hintergehen. Ich weiß …«

»Es ist das Scheißwasser.«

»Was?«

»Habt ihr euer Brunnenwasser mal auf Nitrate untersuchen lassen?«

»Hm, nein.«

»Hat dir dein Arzt nicht gesagt, dass du das Brunnenwasser nicht trinken darfst?«

»Nein.«

Er stand auf und zog sich die Jeans hoch, setzte sich dann und zog sich, ohne etwas zu sagen, beide Socken an. Ich sah ihm an, dass er sehr erregt war. Ich sagte: »Jess …«

Er explodierte. »Man weiß schon seit zehn Jahren oder länger, dass Nitrate in Brunnenwasser Fehlgeburten und den Tod Neugeborener verursachen. Weißt du nicht, dass der Kunstdünger zum Teil abgespült wird und ins Wasser sickert? Ich kann’s nicht glauben.«

»Daran lag’s nicht. Es hat einfach nicht geklappt. Rose hat das Wasser getrunken und …«

»Es ist nicht einheitlich. Es wirkt sich nicht bei jedem gleich aus, und nicht alle Brunnen sind gleich. Eurer könnte näher an den Entwässerungsschächten sein.«

»Ich weiß nicht.«

»Versucht ihr’s immer noch?«

Wir sahen uns an, bedachten beide die Absurdität dieser Frage angesichts der Umstände und brachen in Lachen aus. »Nicht heute«, sagte ich. »Ich hab mein Pessar drin.«

»Heh …«Er griff in die Hosentasche und holte eine Art blaue Plastikkapsel hervor. Ich sagte: »Was ist das?«

»Ein Kondom. Nur dass ich vergessen hab, dass ich daran gedacht hab, es mitzubringen.« Ich nahm es und ließ es auf meiner Handfläche hin und her rollen. Seine Umsicht war tröstlich. Ich gab es ihm wieder, und er sprang von der Ladefläche und half dann mir herunter. Wir küssten uns, zärtlich und mit Bedacht, so wie man sich küsst, wenn man die Angst verloren hat, sich zu küssen, und dann ging ich gebückt um die wilden Rosenbüsche herum nach Hause, ohne mich umzusehen. Ich fühlte mich sehr ruhig, vollständig und erfüllt, als brauchte ich das nie wieder zu tun.

Als wir beim Abendessen saßen und er mir von seiner Fahrt nach Zebulon erzählt hatte, wen er gesehen und wie mein Vater sich aufgeführt hatte, sagte Ty: »Ginny, warst du gestern Abend geschützt?«

Ich sah von meinem Teller auf, schob ihn dann von mir. Ich klopfte gegen das Wasserglas. Ich sagte: »Na ja, nicht direkt. Aber meine Tage sind gerade vorbei. Ist schon in Ordnung.«

»Bist du sicher?«

Ich fuhr ihn an: »Soll diese Frage bedeuten, du zweifelst an meinem Wissen oder an meiner Ehrlichkeit? Was von beidem?«

Er schnappte zurück: »Sie bedeutet, dass es gewisse Dinge gibt, für die ich nicht bereit bin, noch nicht.«

»Es ist fast zwei Jahre her.«

»Es ist fast drei Jahre her.«

Er hatte Recht. Ich hatte an das vierte Mal gedacht. Ich spürte, wie mein Gesicht heiß wurde. Ich hob die Stimme. »Okay, also. Es ist fast drei Jahre her. Das gibt mir umso mehr Recht.«

Er stand auf und verließ die Küche, wobei er die Tür vorsichtig hinter sich schloss. Ich sah ihm dabei zu, ohne mich vom Tisch wegzubewegen. Er trat auf die Straße und ging auf die Ecke der 686 und Cabot Street Road zu. Ich sah zu, wie er wegging, und lauschte dem dünnen Klang seiner Stiefel auf dem Asphalt. Ich saß eine lange Zeit da und starrte aus dem Fenster, und zum ersten Mal wurde mir klar, was ich an diesem Tag getan und gedacht und gefühlt hatte, dass es beinahe jedem Unbeteiligten erscheinen musste, dass ich mein eigener Feind und der Feind meiner ganzen Familie und aller meiner Freunde geworden war. Damals nistete sich die Furcht für immer bei mir ein. Nach einer Weile ging ich nach oben und nahm mein Pessar heraus und wusch es und legte es in sein Etui.