Der Sturm flaute gegen Mitternacht ab, obwohl es noch in Strömen goss. Ty und Pete kamen zurück und fuhren wieder los. Kurz nach zwei legten Rose und ich uns auf unser Bett, und Rose, glaube ich, schlief ein. Ich stand auf, um nach den Mädchen zu sehen, die ihre Bettdecken von sich geworfen hatten. Alle schienen sich wie Verfolgte in mein Haus geflüchtet zu haben.
Linda hatte ein Bein über eines von Pammy geworfen, und die Hände der beiden lagen dicht beieinander: sie mussten sich an den Händen gehalten und losgelassen haben, als sie eingeschlafen waren. Ich kannte sie seit ihrer Geburt, hatte mehr als einmal dieses kompakte Gewicht hochgehoben, das nur Babys und Kleinkinder haben. Zahllose Augenblicke mit jeder der beiden schienen mir unsterblich – die Zeit, als Pammy ungefähr achtzehn Monate war und wir alle beim Essen um den Tisch saßen und Pammy ihre Arme über den Kopf in die Höhe streckte und »Hoch!« rief, damit wir alle die Arme über den Kopf in die Höhe streckten und »Hoch! Hoch! Hoch!« riefen, bis Pammy ihre beiden kleinen Händchen auf den Tisch patschte und »Runter« rief, ihr eigener Scherz, über den sie vor Lachen kreischte. Als Linda Baby war, quetschte sie ihr ganzes Essen in ihrer Faust zusammen, bis es ihr zwischen den Fingern herausquoll, und nur so aß sie es. Wie konnte jemand sich ihnen mit böser Absicht nähern? Wie konnte jemand beim Anblick ihrer harmlosen, widerstandslosen schlafenden Körper nicht dazu getrieben werden, sie zu beschützen, sondern ihnen wehzutun, besonders so wie jetzt, mitten in der Nacht?
Aber natürlich waren es ihre Körper nicht gewesen, es waren unsere gewesen, oder vielmehr Roses. Aber meiner auch, wenn er denn in mein Zimmer gekommen war, auch wenn er nur das Fenster zugemacht, auch wenn er nur nachgesehen hatte, ob ich schlief.
Ich lag damals da, genauso weich wie sie jetzt, verwickelt in mein Nachthemd, mein Haar in Strähnen über meinem Gesicht. Und es war so, dass ich mir zwar nicht vorstellen konnte, dass mein Vater das getan hatte, was Rose behauptete, dass ich mir aber auch nicht vorstellen konnte, dass er das tat, was ich tat, mit Freude und Zärtlichkeit auf seine Töchter herunterblickte und für uns die Liebe empfand, die ich für Pammy und Linda empfand. Mir schauderte, ich drückte die Bettdecke fest um sie und ging rückwärts aus dem Zimmer. Ich war noch immer angezogen, aber ich legte mich so ins Bett neben Rose, die auf der Decke lag und sich den Quilt über den Kopf gezogen hatte. Ich muss eingeschlafen sein.
Die Gestalt in der Schlafzimmertür, als ich aufwachte, war Jess Clark. Als er sah, dass ich mich bewegte, beugte er sich zu mir und sagte: »Dein Vater ist bei Harold. Sie wissen nicht, dass ich hier bin«, und das sagte alles, was ich über Heimlichkeit, Verschwörung, Gefahr zu wissen brauchte. Ich rollte mich aus dem Bett, ohne Rose aufzuwecken, und schob ihn vor mir her die Treppe hinunter. Auf der Uhr im Flur war es zehn nach vier.
Beide Trucks waren noch weg.
Der Regen hatte aufgehört, und die Fenster fingen gerade an, hell zu werden.
Ich erinnerte mich an das, was Rose mir erzählt hatte.
Ich sah Jess Clark an und brach in Tränen aus.
Er brachte mich in die Küche, machte das Licht an und kochte uns Kaffee, hielt meine Hand und suchte in meinem Gesicht zu lesen, während er zu mir sprach.
Soweit Jess wusste, war Daddy ungefähr vierzig Minuten oder eine Stunde herumgeirrt, bis er in die Nähe von Harold Clarks Scheune geraten war. Statt hineinzugehen, war er draußen herumgestolpert, hatte dabei mit sich selber geredet und herumgeschrien, und so hatte Loren Clark ihn gefunden, als er spät aus dem Kino in Zebulon nach Hause gekommen war. Loren brachte ihn ins Haus, und sie versuchten, ihm die nassen Sachen auszuziehen, aber er bestand darauf, bevor er sich umzog, Ken LaSalle und Marv Carson anzurufen. Harold ließ ihn, und die beiden kamen in dem Unwetter heraus und trafen ihn bei Harold. »Er war außer sich«, sagte Jess, »und Harold lächelte dazu. Er mag es, wenn Leute sich richtig aufregen.«
»Sie alle mögen das! Wie ich das hasse. Das wird bis zum Frühstück in der ganzen Stadt rum sein. Es wird beim Frühstück in der ganzen Stadt rum sein, weil Marv Carson jeden Morgen im Café frühstückt.«
»Lass es doch. Was kümmert es dich? Erzähl mir, was passiert ist.«
Ich glättete mein Hemd und fuhr mit der Hand zu meinem Haar, das mir zu Berge stehen musste. Es waren so viele Dinge passiert, dass ich beim Wachwerden nacheinander über sie stolperte. Ich fragte mich, wo Ty war, ob er den Sheriff benachrichtigt hatte. Ich öffnete den Mund, um zu sprechen, und da waren zu viele Dinge, über die ich sprechen konnte, zu viele Möglichkeiten, sie zu erzählen, ausgerechnet auch noch Jess Clark. Ich sah in sein schmerzlich fremdes und vertrautes Gesicht, und augenblicklich zerschmolz alles in einer starken Lösung von Scham, selbst das, was ich mit Jess getan hatte, was ich bisher ausgeklammert und wie einen Schatz für mich behalten hatte. Ich senkte die Augen auf die Vinyltischdecke, rot und weiß kariert. Schließlich sagte ich: »Was hat Daddy gesagt?«
»Er hat gesagt, ihr Huren hättet ihn raus in den Sturm geschickt, und dass er wünschte, er hätte Söhne gehabt.«
»Haben wir nicht! Wir haben unentwegt versucht, ihn dazu zu bringen, dass er nach Hause ging! Er hat uns verflucht! Als wir …«
Er drückte meine Hand. »Ich hab ihm nicht geglaubt, Ginny. Ich wusste, dass da mehr dahintersteckte.«
»Ich weiß, er war betrunken. Ich lass mich immer täuschen, weil nur seine Stimmung anders ist, wenn er getrunken hat. Er torkelt nicht rum oder lallt oder so. Dann fall ich darauf rein. Ich vergess, dass er ganz einfach betrunken ist.«
»Ich finde nicht, dass du ihn entschuldigen musst, weil er betrunken war.«
Scham ist ein ganz bestimmtes Gefühl. Ich konnte meine Hände nicht ansehen, die die Kaffeetasse umklammerten, noch meinem eigenen Klagelied zuhören, ohne entsetzt zu sein, ohne verzweifelt schweigen zu wollen, kleiner werden zu wollen. Darüber hinaus war ich mir auf unangenehme Weise meines ganzen Körpers bewusst, angefangen von meinen Haaren, die in widerspenstigen Strähnen vom Kopf abstanden, bis zu meinen Füßen, die sich sowohl schmutzig als auch kalt anfühlten. Überall war es mir, als fühlte ich meine Haut von innen, als sei sie jetzt von meinem Fleisch gelöst, um einen Millimeter beschämten Abstands getrennt. Ich hörte Jess aufmerksam zu und spürte in jedem Wort, dass das, was er sagte, ohne Frage vernünftig und voller Anteilnahme war, aber es beruhigte mich nicht. Mein Körper sagte mir, dass meine Scham eine Tatsache war, die darauf wartete, ans Licht zu kommen. Er sagte: »Bitte, erzähl mir doch, was passiert ist.« Er lächelte, und plötzlich, verspätet, erwachte meine Sehnsucht nach ihm, aber jetzt war sie an meine Scham wie an einen siamesischen Zwilling gebunden, und die Sehnsucht selber war neu, aber voller Scham, und ich erinnere mich, wie ich an unsere Gespräche dachte, den Kuss, die Liebe, und mir selber sagte, der gute Teil ist schon vorbei.
Ich fand eine tonlose, gleichmäßige Stimme, mit der ich sprechen konnte, und ich gebrauchte sie. Ich erzählte ihm, dass Daddy Petes Truck genommen hatte, und von dem Nachspiel, das sich daraus entwickelt hatte; was Daddy gesagt hatte und wie Rose und ich darauf geantwortet hatten; ich erzählte ihm sogar, was Rose mir später erzählt hatte, und dass ich ihr nicht glaubte, aber auch nicht nicht glaubte. Er beobachtete mich aufmerksam, seine gewöhnlich ausdrucksvollen Züge blieben ruhig und ernst, aber seine Augen brannten sich in meine. Ohne zu sprechen, holte er alles aus mir heraus, und nachdem es vorbei war, wusste ich, dass ich ihm irgendwie ausgeliefert war, nicht weil er Macht gebraucht oder Ansprüche erhoben hatte, sondern weil ich mich trotz meiner Scham ihm gegenüber in jeder Einzelheit bloßgestellt hatte.
Er trank seinen Kaffee aus und sagte: »Oh, Ginny.« Er sagte: »Oh, Ginny, sie haben es darauf abgesehen, uns zu zerstören, und ich weiß nicht, warum.«
Ich hatte über meinem eigenen Vortrag seine alten Klagen über Harold und seine Mutter vergessen. Ich sagte: »Vielleicht haben sie das, Jess. Vielleicht haben sie es wirklich darauf abgesehen.« Ty kam gegen halb sechs zurück. Die Sonne stand schon über dem Horizont, und der Himmel war klar und kristallen. Bevor er Gelegenheit hatte zu fragen, wieso Jess hier war, sagte ich: »Jess, sag’s Ty«, und er sagte Ty, wo Daddy war und wer bei ihm war. Ty sagte: »Ich hab mich gefragt, wo er wohl gelandet sein könnte. Ich bin jede kleine Straße abgefahren, jede Traktorspur und jeden befahrbaren Feldweg zwischen hier und Cabot. Nach diesem Unwetter gab’s davon nicht mehr allzu viele.«
Ich stand auf und goss ihm Kaffee ein, fragte dann: »Hast du auf den Feldern nachgesehen?«
»Sieht alles okay aus, aber die Gräben hat’s ausgewaschen, das kann ich euch sagen.«
»Wo ist Pete?«
»Ich weiß nicht. Wir hatten eine kleine Unstimmigkeit.«
Das alarmierte mich. »Was meinst du?«
»Pete hat gesagt, Larry würde schon wieder auftauchen, und er habe nicht vor, seine Zeit mit ihm zu verschwenden. Ich hab ihm nicht widersprochen.«
Jess sagte: »Was war denn der Streit?«
»Pete wollte ihn erschießen.«
Ich lächelte, weil ich dachte, es wäre ein Witz, aber Ty lächelte nicht. Ich sagte: »Richtig erschießen?«
»Ihn richtig erschießen. Aber ich glaub, ihn richtig richtig erschießen nur ungefähr ’ne Minute. Pete hat die Nase gestrichen voll. Zum Glück hat er nur ’ne Zweiundzwanziger.«
Dieser sarkastische Ton war fremd an Ty, aber ich ließ es fürs Erste dahingehen. Jess stand auf und nahm seinen Poncho vom Türhaken. Ty sagte nichts, so dass Jess einfach nur die Augenbraue hochzog und mir sein Auf Wiedersehen zulächelte. Meine Augen und mein Herz folgten ihm geradewegs aus der Tür.
Zu Ty sagte ich: »Hast du überhaupt geschlafen?«
»Nee, nicht richtig.« Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht und rubbelte dabei seinen Stoppelbart. Ich erinnerte mich an etwas anderes – dass ich immer noch nicht wusste, ob Ty dem, was Daddy zu mir gesagt hatte, zustimmte. Ich stand vom Tisch auf und öffnete die Kühlschranktür. Ich sagte: »Wie wär’s mit zwei Spiegeleiern und ein paar Würstchen?«
Er sagte: »Bestens.« Sein Ton war kühl. Er saß einfach da, und sein Ausdruck war abweisend und unfreundlich. Die meiste Zeit sah er aus dem Fenster. All die Themen zwischen uns anzuschneiden erforderte mehr Mut, als ich im Augenblick besaß, und deshalb schnitt ich sie nicht an, und deshalb denke ich, dass damals eine neue, formale Beziehung zwischen uns begann. Von da an begannen wir zu überlegen, was wir miteinander und mit unserer Situation nach unserem Verständnis von Pflicht und Loyalität tun sollten, und schon bald wurde klar, wie sehr wir uns in diesem Verständnis unterschieden.
Als er mit seinem Frühstück fertig war, sagte Ty: »Ich glaub, ich seh als Erstes mal nach den Feldern. Ich hab versprochen, heute Morgen mitzuhelfen, die Fundamente fertig zu machen, aber wer weiß, bei diesem Regen …«, seine Stimme folgte ihm aus der Tür. Rose kam herunter, als der Track sich dröhnend entfernte. Sie trug Jeans von mir und ein altes Hemd von Ty. Sie sagte: »Ich werd mal nach Hause laufen und ein paar Sachen zum Anziehen für die Mädchen holen, bevor sie wach werden.« Sie war ziemlich forsch – ihr übliches Morgen-Ich. Ich sagte: »Daddy ist bei Harald. Er hat mitten in der Nacht Ken und Marv rübergeholt.«
»Jaa, tja.« Sie zuckte die Achseln. »All the King’s horses and all the King’s men couldn’t put Humpty together again.« Sie ging mit Türknallen, und ich legte für sie und die Mädchen ein paar Würstchen in die Pfanne.
Während sie brieten, ging ich hinaus nach meinem Garten sehen. Etwas, das mich schon immer verblüfft hat, ist die Widerstandskraft von Pflanzen. Meine Tomaten hatten den Sturmangriff ohne Schaden überstanden, waren noch nicht einmal mit Erde bespritzt, da ich besonderen Wert darauf gelegt hatte, sie mit alten Zeitungen und abgemähten Grasresten abzudecken. Einige der zarteren Ringelblumen lagen flach, und das Gitter für die Erbsen war aus dem Rahmen gefallen, aber all das Grün strahlte nur so vor neuem Leben. Ich fasste nichts an, trat erst recht nicht zwischen die Reihen, aber ich blieb an der Seite stehen und nahm alles in mich auf, als wäre es ein fernes Versprechen.
Tatsächlich war ich bereits total erschöpft von der ganzen Anstrengung, bereits ohne Hoffnung. Ich rief mir schon jene Monate direkt nach dem Tod meiner Mutter ins Gedächtnis zurück, als habe sich zwischen damals und heute nichts ereignet, und an was ich mich erinnerte, war all die Mühe, eine ebenso hoffnungslose Mühe, wie sich am eigenen Schöpf aus dem Sumpf ziehen zu wollen. Ich wusste, dass man nie wieder ganz so sein konnte wie vorher, aber man konnte an den Punkt gelangen, wo Erleichterung gut genug ist. Ich spürte ein anderes Tier in mir, ein Pferd, das in einem engen Stall angebunden ist, den Kopf hin und her wirft und mit den Hufen auf den Boden schlägt, aber die Balken und die Stangen und das Halfter halten, und das Pferd erschöpft sich und akzeptiert schließlich die Fesselung, die Augenblicke zuvor ein unerträglicher Stachel gewesen ist. Ich ging ins Haus zurück und drehte die Würstchen um. Pammy und Linda saßen verschlafen am Tisch.