Als wir dann all die Gespräche in der Stadt und mit den Nachbarn hinter uns hatten, begannen wir uns ruhiger zu fühlen. Oder zumindest ich. Wenn ich über Daddy so redete, als ob sich diese Wunderlichkeiten von selber geben würden, fühlte ich mich ermutigt, das wirklich zu glauben. Weil ich nicht viel mit Rose oder Pete oder Ty sprach, konnte ich mir einbilden, sie empfänden mehr oder minder wie ich, seien von dem, was passiert war, schockiert, aber durchaus in der Lage, damit fertig zu werden. Daddy brauchte eindeutig psychologische Hilfe, brauchte sie schon lange, und Rose musste ihn mit ihren Erinnerungen konfrontieren. Pete würde ebenfalls mitmachen müssen, und selbstverständlich würde Ty davon erfahren müssen und eventuell die Mädchen. Ich konnte mir uns ohne weiteres nach all diesen Konfrontationen vorstellen, nach einer festgesetzten Anzahl von Besuchen im Behandlungszimmer eines Psychiaters (das ich mir genauso wie die Praxis des Chiropraktikers in Pike vorstellte). Ich stellte mir vor, dass wir unser altes Leben wieder aufnehmen würden, aber mit einem neuen Geist, anderen unterirdischen Strömungen – nicht so viel Ärger und Unruhe, mehr Zuneigung oder zumindest Anerkennung und Frieden. Ich würde auch nicht mehr an Jess Clark denken.
Ich erlaubte es mir, nur zweimal, mir ein Baby vorzustellen, ein Kind, das all meine Fehlgeburten und alles andere in Glück verwandelte, dessen Geburt nach dem Einsetzen von Selbsterkenntnis (Daddys in der Hauptsache, aber auch unserer) genau zum richtigen Zeitpunkt kommen würde.
Der Psychiater würde sich natürlich auf unsere Seite stellen, das heißt auf Roses Seite. Wenn wir alle in seinem sonnigen Büro säßen, würde er in der Mitte sitzen, zwischen Daddy und uns, und er würde unsere, Roses Anklagen in perfekte Formulierungen fassen. Sie würden sanft Daddys Wutanfälle und seine Abwehrhaltung umschmeicheln, die Mörtelfugen wie Zucker auflösen, die Mauersteine zerbröckeln. Es würde kein Geschrei und keine Drohungen geben, weil der Psychiater das nicht zulassen würde. Vielleicht würden die Dinge niemals vollkommen werden, aber hatte Harold Clark ganz Unrecht? War nicht das, was aufgebaut worden war, einige Mühe wert? Was ich mir nicht vorstellen konnte, war, dass alles auseinander brechen könnte.
Ich suchte im Mason City-Telefonbuch unter »Psychiater«. Es gab zwei Eintragungen, eine unter einer Klinik in Des Moines und eine unter einer Klinik in Rochester, Minnesota. Ich wählte die Nummer in Rochester und bat, einen der Ärzte sprechen zu dürfen. Man sagte mir, sie seien Therapeuten, keine Ärzte. Während ich auf das Gespräch wartete, starrte ich aus dem Fenster zu Roses Haus hinüber und die Straße hinunter zu Daddys. Ich stellte mir die dreistündige Autofahrt nach Rochester vor. Ich stellte mir vor, wie jeder von uns abwechselnd seine Geschichte erzählte: Daddys Ungeduld, Tys Skepsis, Petes Weigerung, viel zu sagen, Roses wütende Beredsamkeit, meine eigene Beklemmung, die mir den Magen umdrehte, Pammys und Lindas Angst. Ich stellte mir vor, wie ich Schecks über große Geldsummen zu Daddys Lasten ausstellte. Ich stellte mir die dreistündige Rückfahrt vor. Ein Therapeut kam an den Apparat, und ich wusste, dass ich mich innerhalb weniger Minuten auf das verpflichtet haben würde, was ich mir vorgestellt hatte, auf das Unmögliche. Ich legte auf, ohne zu sprechen.
Dann dachte ich an Henry Dodge, unseren Pastor. Ich würde nicht, auch nicht in den allerbesten Zeiten, gesagt haben, dass ich mich Henry Dodge nahe fühlte. Ich bezweifle, dass irgendjemand das tat, seine Frau Helen und ihre Kinder eingeschlossen. Sie stammten aus Fargo, North Dakota, aber Henrys vorherige Gemeinde bis in die Mitte der Siebziger war in Denver gewesen. Er erzählte uns, wie er zu uns gekommen war, ein fünfzig Jahre alter Mann, der aus einer großen Vorstadtkirche in unsere Kleinstadt versetzt worden war. Und als er uns das erzählte (er war mit dem zweiten Pastor nicht zurechtgekommen, hatte mit einigen Gemeindemitgliedern die Geduld verloren, hatte Zweifel daran bekommen, ob sein Ehrgeiz mit dem Glauben zu versöhnen sei), hatte er in einem Ton gesprochen, der offen deutlich machte, wie tief ihn die Krise bewegte, die ihn zu uns geführt hatte. Aber in Wirklichkeit hatten seine Bekenntnisse eher zu Verlegenheit auf allen Seiten geführt als zu einem Gefühl der Freundschaft. Daddy hatte gesagt, er solle solche Dinge für sich behalten; deshalb bin ich sicher, dass die anderen Farmer in Daddys Alter genauso dachten. Wahrscheinlich waren die Leute meines Alters weniger abgestoßen, und so hatte Henry das Gefühl, er habe uns als Freunde gewonnen.
Sein Auftreten und seine Amtsführung wurden oft diskutiert; schließlich bezahlte ihn die Gemeinde, so dass wir das Recht hatten, nach Lust und Laune darüber zu reden, ob wir auch etwas für unser Geld bekamen. Die meisten Leute in der Gemeinde mochten ihn, allerdings vor allem wegen solcher Dinge wie seiner eckigen Gestalt und seiner langsamen Art zu reden, seinem tiefen Verständnis für den Takt, mit dem man Farmer nordeuropäischer Abstammung anspricht, seinem ab und zu aufleuchtenden Humor. Er hatte ihn zweifellos von seiner Mutter geerbt, der einzigen Tochter einer langen Ahnenreihe norwegischer Farmer. Seine sechs Onkel waren noch immer Farmer um Fargo herum; die Leute mochten ihn auch deswegen. Aber das innere Ringen, das die erste Stelle in seinen Gedanken einnahm, und das er, wie man immer spürte, ein klein wenig als sein Verdienst in Anspruch nahm, kümmerte eigentlich niemanden.
Sobald ich an Henry gedacht hatte, merkte ich, dass ich so ungeduldig auf ein Gespräch mit jemandem war, dass ich in mein Schlafzimmer lief und meine Shorts gegen einen karierten Rock tauschte. Ich hatte so etwas wie einen freien Nachmittag. Eigentlich hatte ich einen Pfirsichkuchen backen und den Garten jäten wollen, aber in der Zwischenzeit, bis ich mit dem Abendessen anfangen musste, konnte ich fahren, ohne dass jemand etwas dazu sagen würde. Es war Freitagnachmittag. Ich entschied mich, dass es am zwanglosesten wäre, wenn ich vorher nicht anrief, sondern einfach vorbeiguckte, wie auf dem Weg vom Einkaufen nach Hause. Es war nicht Henry Dodge als Person, wodurch ich mich angezogen fühlte. Im Gegenteil, sich ihm anzuvertrauen war vielleicht gar nicht so leicht. Aber dieses Wort »Pastor« versprach eine Geduld und Weite des Verständnisses, die genau das Richtige schienen. Wir konnten Daddy in Henrys Büro bringen. Es war nicht weit, und seine Hilfe würde nichts kosten. Ty mochte Henry lieber als ich, lobte sogar von Zeit zu Zeit seine Predigten als »ganz schön klug«. Als ich an unserer Baustelle vorüberfuhr, sah ich, dass die Männer, die die Firma für die Bauarbeiten geschickt hatte, und Ty auf Händen und Knien den Zement glätteten. Sie waren sechs, und sie krochen nach unten blickend rückwärts. Das kam mir lustig vor, und ich lachte zum ersten Mal seit, wie mir schien, Tagen.
Als ich nach Cabot hineinfuhr, sah ich noch immer Henry in seinem Büro vor mir, gekleidet in einen braunen Anzug. Eine Raute aus Sonnenlicht würde auf dem rostbraunen Teppichboden liegen, und die Sitzkissen auf dem Fenstersitz würden ein gemütliches staubiges Grün haben. Die Stimme meines Pastors würde tief und hohl klingen. Ein guter Ort, an dem ich meine Geschichte ablegen konnte. Selbst während ich sie erzählte, würde sein Murmeln sie tröstend umschließen. Und dann würde er mir sagen, was ich tun sollte – wie ich mit Daddy und Rose und Ty reden musste. Das Ergebnis wäre dasselbe wie mit dem »Therapeuten«, nur wie durch ein Wunder schneller. Das war es, was ich wirklich wollte, oder?
Henry war nicht in seinem Büro, aber er war irgendwo – die Tür zu seinem Büro stand offen, und sein Stuhl war vom Schreibtisch zurückgeschoben. Es gab keine Sonnenrauten – die Fenster gingen noch Osten und Norden. Der Teppich war beige, und die Fenstersitze, fiel mir wieder ein, waren im Kirchenvorraum. Sie waren ebenfalls vor nicht allzu langer Zeit vom Nähzirkel der Kirche in Beige bezogen worden. Henrys Büro war klein und unordentlich. Akten stapelten sich auf den beiden Stühlen, auf die ich mich hätte setzen können.
Ich blieb fünf Minuten im Flur stehen. Während dieser Zeit klingelte viermal das Telefon, jedes Mal klingelte es sechsmal oder mehr. Draußen klapperte ein Rasenmäher um die Ecke des Kirchengebäudes. In der Schwingtür weiter den Flur hinunter war ein Fenster. Ich sah das Gesicht der Kirchensekretärin, die ich beim Hereinkommen vermieden hatte, hindurchgucken und Notiz von meiner Anwesenheit nehmen.
Das war das Problem. Henry war nicht nur mein »Pastor«, er war Henry. Seine Stimme zum Beispiel war kein leises Murmeln, sie war tonlos und irgendwie leiernd, mit der Schärfe vergeblich unterdrückter Emotion. Er war fünfzig, schien aber wie dreißig, wie ein Anfänger, so als hätten ihn seine Erfahrungen herzlich wenig gelehrt.
Ich sah mich um und überlegte, wie ich wieder hinauskam, ohne dass jemand mich sah, und er kam durch die Schwingtür. Er trug Shorts mit Grasflecken, und ich bemerkte, dass der Rasenmäher schwieg. Es war Henry gewesen, der den Rasen gemäht hatte. Er kam mit einem ernsten Lächeln auf mich zu. Sein Gesicht war rot, und Schweiß lief ihm von der Oberlippe. Ich trat einen Schritt zurück und stieß dabei mit den Schulterblättern an die Wand aus Betonblöcken. Henry kam heran. Als er bei mir war, sagte er: »Ginny!«, und schien mich Richtung Tür zu seinem Büro zu drücken. Er sagte: »Also, Ginny, du darfst dir keine Sorgen machen. Harold Clark …« In genau dem Augenblick klingelte wieder das Telefon, und er beugte sich über den Schreibtisch, um den Hörer aufzunehmen. Sein Rücken war mir zugewandt. Ich ging, lief dann zum Ausgang. Ich konnte es nicht. Er war zu sehr er selber, zu klein für seine Stellung, zu ängstlich bestrebt, sich unserer Gemeinde anzupassen, zu schweißig und schmutzig und salopp und unweise. Ich ließ den Wagen an und fuhr vom Parkplatz. In meinem Rückspiegel konnte ich sehen, wie er mir aus der Tür zuwinkte, aus der ich gerade gekommen war.
An dem Abend rief ich nach dem Essen Rose an und brachte sie dazu, dass sie mich auf Daddys Veranda traf. Wir saßen zusammen auf der oberen Stufe, und ich brauchte eine Weile, bis ich etwas sagen konnte. Lange Wolkenbänder schwebten ein Stück über dem westlichen Horizont, und das Maisfeld auf der anderen Straßenseite wogte ihm entgegen. Ein dünnes Blassrosa drang aus dem unteren Streifen des Himmels nach oben und säumte die Wolken mit Feuer. Darüber ging ein klares Blau allmählich in Lavendellila über. Rose beugte sich vor und kratzte Dreck aus der Ecke der Stufe unter uns. Ich sagte: »Rose, findest du nicht, wir sollten etwas mehr reden? Was machen wir als Nächstes?«
»Wir werden sehen.«
»Ich hab Angst vor dem Sehen.«
»Wovor hast du Angst?«
»Ich schätze, ich hab im Grunde genommen vor allem Angst, was mit Daddy zu tun hat.«
Rose lachte, dann sagte sie: »Haben wir ihn schlecht behandelt?«
»Ich weiß, dass die Leute das denken.«
»Aber haben wir das? Findest du das?«
Ich dachte an den Sturm, den Streit, wie er mich beschimpft hatte, und dann, am klarsten von allem, an den Moment, als er nahe an mich herankam und seine Stimme leiser wurde und er versuchte, mich zu umschmeicheln. Selbst jetzt noch, fünf Tage später, jagte es mir einen Schauer über den Rücken, wie Wasser, das langsam hinunterrieselte. An Drohungen war ich gewöhnt, aber dieses …
Ich sagte: »Ich finde nicht, nein.«
»Also dann. Halt dich an das, was wahr ist.«
»Was ist wahr?«
»Er ist in den Sturm rausgegangen, weil er eigensinnig und kindisch war.«
Die Wolken trieben jetzt tiefer über dem Horizont, und sie flammten auf, als die Sonne hinter ihnen eintauchte. Ich sagte: »Ich versteh Daddy nicht. Ich versteh ihn einfach nicht.«
»Das sollst du auch gar nicht, kapierst du das nicht? Wo bleibt der Spaß, wenn er verstanden wird? Laurence Cook, das große ICH.« Sie lachte wieder.
»Ich will es aber.«
»Ich nicht. Wie auch immer, ich versteh ihn ganz genau. Du machst alles viel zu kompliziert. Es ist simpel wie ein Kinderbuch. Ich will, ich nehm mir, ich tu’s.«
»Das reicht mir nicht. Ich kann nicht glauben, dass es so simpel ist.«
»Ist es aber.«
»Ich kann’s mir nicht vorstellen. Wir sind seine Kinder!«
»Ich sag dir, wenn du grübelst und grübelst und zu verstehen versuchst, bringt dich das keinen Schritt weiter. Du fängst an, die Dinge wieder aus seiner Sicht zu sehen, und du bist einfach gelähmt.« Sie verstummte. Sie sagte: »So hat er mich gekriegt, Ginny, verdammt noch mal! Die ganzen Jahre! Er redete. Er ließ mich die Dinge aus seiner Sicht sehen! Er brauchte jemanden! Er brauchte mich! Ich war so gut für ihn! Er liebte mich, mein Haar, meine Augen, selbst meinen Mumm, auch wenn ihn das wütend machte, natürlich verstand ich auch, dass ihn einige der Sachen, die ich machte, wütend machen mussten! Ginny, du willst es nicht verstehen oder dir vorstellen. Du willst es nicht, du willst es nicht, du willst es nicht.«
Aber ich wollte es.
Ich sagte: »Wir müssen mit ihm darüber reden.«
Rose stieß einen höhnischen Schrei aus.
Ich versuchte, fest zu bleiben, aber meine Stimme zitterte. »Ich mein es wirklich.«
Rose sagte: »Sei realistisch.«
»Ich muss hören, was er dazu sagt.«
Der obere Teil des Himmels war jetzt schwarz, aber auf dem unteren lag noch ein dunstiger Lichtschimmer.
Ich dachte darüber nach, was sie gesagt hatte. Es klang tatsächlich merkwürdig nach Daddy, und es warf eine Glaubwürdigkeit über die Vergangenheit, über alles andere, die mich nachdenklich machte. Aber es änderte meine Meinung nicht. Ich sagte: »Ich muss trotzdem hören, was er dazu sagt.«
Es war dunkel auf der Veranda. Ich konnte Rose nicht mehr sehen, deshalb konnte ich vielleicht so deutlich spüren, wie sie darüber nachdachte. Schließlich sagte sie: »Okay. Wir werden sehen, was bei dem Kirchenessen passiert. Vielleicht haben wir danach eine Gelegenheit.«