Ich will nicht zu viel aus unserer Mutter machen, indem ich behaupte, dass sie besonders schön oder intelligent war oder sich in anderer Weise auszeichnete. Wahr ist, dass sie in ihre Umgebung passte. Sie gehörte Clubs an, ging in die Kirche, tauschte Schnittmuster mit anderen Frauen aus. Sie hielt das Haus sauber und erzog uns genauso, wie die Nachbarn ihre Kinder erzogen, was bedeutete, dass sie die Autorität meines Vaters stützte und nicht besonders zärtlich war. Für unsere Gefühle zeigte sie wenig Neugierde. Sie kümmerte sich um das, was wir taten oder zu tun versäumten – unsere Schulaufgaben, unsere Arbeiten im Haus, unseren Pflichtanteil am Kochen und Putzen –, und sie nahm an, dass unsere Gefühle diesen Tätigkeiten gegenüber irgendeiner Art Kindheitsbarometer entsprechend auf und nieder gingen, mit »Phasen« zu tun hätten, die für sie ganz uninteressant waren. Uns wurde zu verstehen gegeben, dass das Haus ihr »gehörte« – dass sie für es verantwortlich war und dass dem Haus Schaden zuzufügen gleichbedeutend damit war, ihr Schaden zuzufügen. Ich erinnere mich, wie Caroline einmal, sie war ungefähr drei, einen Lippenstift in die Finger bekam und mit großen Schwüngen über die Wand im oberen Flur malte. Meine Mutter entschuldigte das nicht mit Carolines Alter, auch gab sie nicht sich selber die Schuld, weil sie den Lippenstift hatte herumliegen lassen. Sie verdrosch Caroline gehörig und sagte dabei immer und immer wieder: »Nicht an Mommys Sachen gehen! Nicht an Mommys Wand malen! Caroline ist ein ganz ungezogenes Mädchen!« Selbst unsere Sachen waren ihre Sachen, und wenn wir unser Spielzeug kaputtmachten oder unsere Kleider zerrissen, wurden wir bestraft. Aus unseren Bestrafungen sollten wir lernen, nehme ich an, uns zu beherrschen. Eine unachtsame Tat war ebenso sträflich wie eine Tat vorsätzlicher Gemeinheit oder Ungezogenheit.
Sie hatte eine Geschichte – sie war in Rochester, Minnesota, zur High School gegangen und ein Jahr in Cedar Falls aufs College – und uns offenbarte sich diese Geschichte in ihrem Wandschrank. Es war ein begehbarer Schrank, schmal und tief, mit einem ovalen bleiverglasten Fenster am Ende. Die Kleiderstange verlief der Länge nach, und über dem Fenster war ein einziges hohes Regal. Die Wand, die der Schrank mit dem angrenzenden Zimmer gemeinsam hatte, reichte aus irgendeinem Grund nicht bis oben an die Decke, sondern schloss mit einer unmotivierten Eichenleiste ab. Ein großer rosafarbener Schuhbeutel hing an der Tür und schlug dagegen, wenn man den Schrank öffnete. In jeder der zahllosen Taschen steckte ein einzelner Schuh, die Hacke nach außen. Es gab sieben Paar mit hohen Absätzen, die Rose und ich jedes Mal zählten, wenn wir den Schrank aufmachten. Auf dem Boden des Schranks standen zwei zylindrische Hutschachteln, und in diesen waren acht oder zehn Hüte, manche mit Blumen oder Früchten, die meisten mit halben Schleiern. In den Hutschachteln waren auch vier oder fünf Korsagen mit ihren perlenbesetzten Nadeln, die in den satinumwickelten Stielen steckten. Wir bewunderten diese und nahmen sie heraus und hielten sie an unsere Brust und wussten immer, dass wir selbst Schuld hatten, wenn wir uns an den Nadeln stachen.
Der Stoff der Kleider war kühl, und wenn man sich unter sie stellte, schwebte einem die Kräuselkreppfrische der Röcke in einem berauschenden Duft von Staub und Mottenkugeln und Kölnischwasser und Badepuder über das Gesicht. Wenn ihre Gegenwart in Schürzen ausgedrückt schien – sie band jeden Tag eine frische um – so enthielt ihre Vergangenheit enge Röcke und weite Röcke und Keilröcke, Rockschöße, Plisseefalten, Abnäher wie Pfeile, Taschen mit Rollsaum, in denen kleine Taschentücher steckten, Schulterpolster, Stehkragen, stoffbezogene Gürtel mit bezogenen Schnallen, bezogene Knöpfe, ein ganzer Modekatalog, der Rose und mich ebenso sehr mit seinen Namen wie mit seinen Beispielen in Bann zog. Die Kleider in dem Schrank, die schon damals aus der Mode waren – zu eng und zu vornehm für den Nachkriegs-»New-Look« –, verzauberten uns mit einer Ahnung von Möglichkeiten, nicht für uns, sondern für unsere Mutter, ganz sicher verlorenen Möglichkeiten, aber irgendwie noch gegenwärtig, wenn wir den Wandschrank betraten, die Tür schlossen und uns mit gekreuzten Beinen in den Sonnenstäubchen-Strahl aus dem ovalen Fenster setzten. Dies waren Dinge, die ihr gehörten und mit denen wir doch spielen durften. Wir waren ihr aus dem Weg, und wir behandelten sie sorgsam, heilige Reliquien, die sie waren. Wenn ich jetzt versuche, meine Mutter zu lieben, erinnere ich mich an ihren Schrank und diese nachsichtige Erlaubnis. Natürlich, natürlich erinnere ich mich auch an Rose, meine ständige Gefährtin unter den Röcken, an deren Hemd ich vorsichtig die Korsagen feststeckte, auf deren Kopf ich die Hüte ausbalancierte, mit der ich unter den Kleidern stand und so tat, als wären wir Damen beim Einkauf.
Nach dem Kirchenessen brauchte Jess einen Ort, wo er so lange bleiben konnte, bis das alles verraucht war. Rose schlug vor, dass er in Daddys Haus bleiben solle, natürlich nicht in Daddys Schlafzimmer, aber in einem der anderen Zimmer. Schließlich hatte es vier Schlafzimmer, und drei waren sowieso ungenutzt. Nachdem sie das vorgeschlagen hatte, schien es ein guter Moment zu sein, sich das Haus mal genauer anzusehen, ein wenig aufzuräumen, einige von Daddys Sachen in einen Koffer zu packen, für den Fall, dass er sie wollte.
Ich ging kurz darauf nach dem Frühstück hinüber, nachdem ich mit Ty eine wortlose Mahlzeit geteilt und danach seine Pläne für den Tag angehört hatte und die beiläufige Mitteilung, er käme zum Essen nicht nach Hause. Er fragte mich nicht nach meinen Plänen.
»Schön«, gab ich von mir, jene provozierende Antwort, aber er reagierte nicht. Ich wartete, bis er mit dem Pick-up wegfuhr, und ging dann die Straße zu Daddys Haus hinunter. Ty mag nicht gewusst haben, dass Jess in unsere Nähe zog, dass er in gewissem Sinne Daddys Platz an sich riss. Es war auch »schön«, dass er das nicht wusste. Wenn er es erwähnt hätte, so hätte ich ihm gesagt, dass jetzt alles möglich war.
Während ich mich dem Haus näherte, kam es mir vor, als hätte sich mir mit Daddys Weggehen die Möglichkeit eröffnet, meine Mutter zu finden. Es war nicht so, als hätte ich vergessen, dass ich dort einmal jeden Tag meines Lebens zugebracht hatte. Das wusste ich. Aber jetzt, da er weg war, konnte ich genauer nachsehen. Ich konnte die Schränke oder den Speicher oben untersuchen, Sachen hochheben und unter ihnen nachgucken, wieder in Schränken und Regalen stöbern. Wenn irgendwo, dann würde sie dort sein, ihre Handschrift, die Überbleibsel ihrer Arbeit und ihrer Gewohnheiten, vielleicht sogar ihr Duft. Könnte es nicht eine übersehene Schublade geben, seit zweiundzwanzig Jahren nicht mehr geöffnet, die einen einzigen flüchtigen Hauch ausströmte? Sie hatte ihn gekannt – was hätte sie jetzt über ihn gesagt? Wie hätte sie zu vermitteln versucht? Gab es nicht irgendein Wissen über ihn, das sie besessen hatte und das auf mich überginge, wenn ich etwas von ihr in diesem Haus fände? Die bloße Hoffnung reichte aus, meine Schritte zu beschleunigen. Ich ging an der Küchenausstellung auf der Einfahrt vorüber, das weiße Brokatsofa, hochkant auf der hinteren Veranda, trug noch immer stolz sein Preisschild. Ich ignorierte die Tatsache, dass mir das Haus auf bedrückende Weise vertraut war, dass Rose und ich hier jedes Jahr einen Frühjahrsputz gemacht hatten. Es musste einfach etwas da sein.
Auf dem Speicher war es bereits heiß wie im Backofen. Er war nie isoliert worden, und die reflektierende Kraft des Metalldachs richtete wenig, wenn überhaupt etwas gegen die Sommersonne aus. Ein schmaler Pfad zu jedem der vier Fenster war frei gemacht worden, und die nach Osten und Westen waren hochgeschoben, damit das Haus gelüftet wurde. Wenn man bedachte, dass unsere Familie seit fünfundsechzig Jahren in diesem Haus gelebt hatte, lag hier oben nicht viel herum – ein aufgerollter Teppich, fast neu, aus dicker goldener Wolle, den Daddy irgendwoher haben musste; er war nie im Haus ausgelegt worden. Drei Stehlampen mit diesen alten gedrehten Schnüren und runden Bakelitsteckern. Eine übergeschlagene Matratze. Drei Kartons alter Nummern von Successful Farming. Noch ein Karton mit Wallace’s Farmer-Heften, die aus den frühen Siebzigern stammten. Ein alter Ventilator, die schwarzen Flügel von keinem Drahtgitter geschützt. Ganz am Rande lagen alt aussehende Kartons mit ein paar Zeitungen aus dem Zweiten Weltkrieg, darunter eine Ausgabe des Des Moines Register vom V Day[5]. Dazwischen lag eine Einladung an meine Mutter zu einer Hochzeit in Rochester von Leuten, deren Namen ich nie gehört hatte. Ich roch daran. Sie roch wie die Zeitungen. Tiefer in dem Karton waren Farmquittungen von 1945. In den anderen Kartons waren auch alte Belege und ein paar Life-Magazine. Nichts weiter. Ich ging zur Mitte des Speichers zurück. Meine staubige Bluse klebte mir an der Brust. In den Schränken in der zweiten Etage sah es genauso aus wie immer – Stiefel und Sachen meines Vaters, vor allem Overalls und Khakihosen. Eigentlich war nur in zwei Schränken viel. In den anderen hatten sich hauptsächlich Kleiderbügel angesammelt. Im Zimmer meines Vaters sah ich mir die Fotos an der Wand an – meine Davis-Urgroßeltern, die am Vorabend ihrer Abreise aus England steif posierten. Das war das letzte Foto, das je von ihnen gemacht wurde. Meine Cook-Großeltern hatten ihr Hochzeitsfoto in Mason City machen lassen, und es gab noch ein späteres Foto von Großvater Cook, auf dem er neben seinem ersten Traktor steht, einem Ford mit reifenlosen Rädern und Spikes. Das Verlobungsfoto meiner Mutter, das im Rochester Post-Bulletin abgedruckt gewesen war und das ich ungezählte Male gesehen hatte. Diesmal guckte ich es mir ganz genau an, aber ich fand nichts darin. Das undurchdringliche Gesicht eines hoffnungsvollen Mädchens, gekleidet in die nichts enthüllende Uniform seiner Zeit; ihr Ausdruck war der einer robusten Rechtschaffenheit. An der Wand hing außerdem ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Baby mit Hut, aber es konnte jede von uns dreien gewesen sein. Ich hatte es viele Male gesehen, aber es war ein Zeichen für die Distanz zu meinem Vater, dass ich ihm gegenüber nie zugegeben hatte, dass ich nicht wusste, wer es war. Vielleicht hätte er gesagt, er könne sich nicht erinnern. Also waren wir es, austauschbare Kindheit. Ich guckte unter das Bett. Ein Socken, ein leeres Aspirinfläschchen, Staubflocken.
Ich öffnete die Schubladen, in denen einst ihre weißen Handschuhe für die Kirche aufbewahrt wurden, ihre Strumpfgürtel und Hüfthalter und Strümpfe, ihre langen und kurzen Unterhosen, ihre Büstenhalter, ihre langen Nachthemden, ihr rosafarbenes Bettjäckchen mit drei silbernen Schnurverschlüssen, das sie immer trug, wenn sie krank im Bett lag, und das sie Tag für Tag getragen hatte, bevor sie starb. Jetzt enthielten sie nur Altemänner-Shorts und -Unterhemden, Taschentücher, dicke weiße Socken, dicke Wollsocken, schwarze Socken (drei Paar). Thermounterwäsche. Ich hatte das alles da hineingelegt, deshalb wusste ich, dass es da war. Die Zeitungen, mit denen die Schubladenböden ausgelegt waren, trugen das Datum vom 12. April 1972, zu spät, zu spät.
Ihre Sammlung Zierteller zog sich auf einem Eichenbrett direkt unter der Decke rund ums Esszimmer. Ich hatte sie im vorangegangenen Frühling abgestaubt, nicht in dem Frühling, als Rose krank war, sondern ein Jahr davor. Keine verblichenen Zettel klebten auch nur unter einem davon. Großmutter Ediths Vitrine enthielt nichts als sauberes Leinen, saubere Teller, geputztes Silber. Wie kam es, dass wir, Rose und ich, so gut dressiert waren, dass wir nie eine Ecke ausließen, nie eine Putzarbeit ungetan ließen, immer, automatisch, einmal im Jahr unsere Häuser auf den Kopf stellten?
Mit einem Mal erinnerte ich mich, wie es gewesen war, als unsere Mutter verschwand. Mary Livingstone hatte es getan. Daddy wird sie angerufen haben. Auf jeden Fall kamen Rose und ich einige Wochen nach Mommys Tod von der Schule nach Hause und trafen all die Damen von Mommys Kirchenclub an, die ihre Sachen ausräumten und ihre Kleider und ihre Stoffe und ihre Schnittmuster und ihre Kochbücher nahmen, um sie den Armen in Mason City zu schenken. Das war der akzeptierte Gang der Dinge, wie mit dem beweglichen Eigentum der Verschiedenen verfahren wurde, und wir stellten das nicht in Frage. Die lutheranischen Damen waren selbstverständlich ebenso gründlich, wie Mommy selbst es gewesen wäre.
Nachdem ich mich daran erinnert hatte, ging ich in der Absicht, in einem der Zimmer ein Bett für Jess Clark zu machen, die Treppe hinauf, und das einzig bewusste Gefühl erneuter Trauer, das mir von dieser Erinnerung blieb, war eine Art befangene Distanz zu meinem Körper, während er sich die Treppe hochbewegte. Meine Hand auf dem Geländer sah weiß und fremd aus, meine Füße schienen auf merkwürdige Weise sorgfältig, wie sie die Stufen abzählten. Ich drehte mich am Treppenabsatz um, und das Unten schien sich in nichts aufzulösen, während das Oben mir entgegenzustürzen schien. Ich gab Jess mein altes Schlafzimmer. Die Laken waren im Flur in dem Wäscheschrank, gelb geblümt, dieselben Laken, in denen ich vier oder fünf Jahre lang geschlafen hatte.
In dem Wäscheschrank war es, wo ich die Vergangenheit fand, und der Grund war der, dass Rose und ich immer die Laken von Daddys Bett wuschen und sie wieder aufzogen, und wir wuschen immer die Handtücher und Waschlappen aus dem Wäschekorb im Badezimmer und hängten sie wieder auf. Kann gut sein, dass keiner von uns beiden mehr als einmal im Jahr in den Wäscheschrank guckte. Darin lagen Laken und Handtücher und Bettunterlagen und eine ungeöffnete Schachtel Sweetheart-Seife. Hinter dem Stapel Handtücher, völlig versteckt, war ein halb voller Karton mit Kotex-Binden, und in dem Karton war ein alter Bindengürtel von der Art, wie man sie schon seit Jahren nicht mehr trug. Ganz bestimmt waren dies keine Utensilien meiner Mutter, sie mussten von mir sein. Ich nahm Laken und Kopfkissenbezug heraus und dachte nichts weiter, als dass dies irgendwie interessant war. Wäre Rose hier, sie würde bestätigen, dass Daddy den Kotex-Karton die Jahre über immer wieder gesehen, aber sich nie getraut hatte, ihn anzufassen. Ich lächelte.
Die Laken passten wie angegossen auf das schmale Bett in dem gelben Schlafzimmer. Ich schlug die obere Kante über die Decke zurück, schüttelte das Kissen auf. Ich dachte, dass Jess hier schlafen würde, und ich legte mich hin, wo er sich hinlegen würde. Das Frisiertischchen war neben dem Fenster; die Schranktür stand halb offen; die gelbe Farbe der leeren Kommode blätterte ab; einige bronzefarbene Kreise trieben in dem Spiegel; ein Wasserfleck hatte sich unter der Decke gebildet. Als ich da lag, wusste ich, dass er hier bei mir gewesen war, dass mein Vater mit mir auf diesem Bett gelegen hatte, dass ich oben auf seinen Kopf gesehen hatte, auf die kahle Stelle in dem graubraunen Haar, während ich fühlte, wie er an meinen Brüsten saugte. Das war die einzige Erinnerung, die ich ertragen konnte, bevor ich mit einem Schrei aus dem Bett sprang.
Mein ganzer Körper zitterte, und Stöhnen drang aus meinem Mund. Das Gelb des Zimmers schien wie pulsierendes Licht aufzuflammen, im Takt mit dem Hämmern des Blutes in meinem Kopf. Es war eine Erinnerung, die mit der Erinnerung daran verbunden war, wie die Sachen meiner Mutter an die Armen in Mason City gingen, wie ich die Kirchendamen mit den Kleidern meiner Mutter auf den Rücksitzen in ihren Autos gesehen hatte, wie ich Mary Livingstone sich zu mir mit sachlicher Teilnahme umdrehen gesehen und fragen gehört hatte, ob ich irgendetwas behalten wollte, und wie ich nein gesagt hatte. Ich legte mich auf den Holzfußboden im Flur, weil ich das Gefühl hatte, ich würde ohnmächtig die Treppe hinunterfallen.
Rose sollte mich hier irgendwann treffen, und eine Zeit lang sagte ich nur ihren Namen: »Rose, Rose, Rose«, in der Hoffnung, ich könnte sie leibhaftig oben auf der Treppe erscheinen lassen, ungeachtet der Tatsache, dass keine Tür geschlagen, keine Stimme nach mir gerufen hatte. Wenn sie hier gewesen wäre, ich hätte darauf bestanden, dass dieses Wissen zu akzeptieren, es die ganze Zeit mit mir herumzutragen, jeden Tag für den Rest meines Lebens, einfach über meine Kräfte ging. Und mit Sicherheit gab es mehr zu wissen. Hinter diesem einen Bild türmten sich andere auf, wie eine geheimnisvolle Last in einem dunklen Sack, bisher noch ungesehen, aber gefühlt. Ich fürchtete sie. Ich fürchtete mich davor, wie ich sie in meine Gedanken würde aufnehmen müssen, Plastiksprengstoff oder radioaktiver Abfall, der alles andere in ihnen in seiner Beschaffenheit verändern oder sogar auslöschen würde. Wenn Rose da gewesen wäre, hätte ich ihr diese Bilder irgendwie übergeben, damit sie sie für mich aufbewahrte. Sie war nicht da.
Deshalb schrie ich. Ich schrie, wie ich noch nie zuvor geschrien hatte, voll heraus, halszerreißend, ohne-Angst-ein-Theater-zu-machen-und-die-Aufmerksamkeit-auf-mich-zu-lenken, Schreie, auf die ich mich konzentrierte und ganz Mund, ganz Zunge, ganz Schwingung wurde.
Sie erfüllten ihren Zweck. Sie erschöpften mich, brachten mir physischen Schmerz, der mich in die Gegenwart zurückholte, in dieses Haus, auf diesen Holzfußboden, in diesen Augenblick. Nach einer Weile stand ich auf und klopfte mich ab. Ich hatte mir selber Kopfschmerzen verschafft, also ging ich ins Badezimmer und nahm vier Aspirin. Rose kam nicht. Als ich wieder zu Hause war, zeigte die Uhr auf neun. Erst neun Uhr. Mein neues Leben, schon wieder ein anderes neues Leben, hatte früh am Tag begonnen.