In den Tagen nach dem Kirchenessen hielt ich nach Jess Ausschau. Es schien viel zu besprechen zu geben, aber ich sah ihn überhaupt nur zweimal. Selbst dann war er ruhig und unzugänglich. Die Offenheit unserer früheren Gespräche, nach der ich mich trotz allem sehnte, war verschwunden. Alles, was er sagte, war: »Ich bin überrascht, wie verloren ich mich fühle«, »Ich kann nicht glauben, wie sicher ich mir war, dass er sich geändert hatte« und »Ich weiß nicht, wo ich jetzt hingehen soll«. Diese drei Bemerkungen gingen ohne nähere Erklärung dahin. Als ich auf sie antwortete, blieben meine Erwiderungen zwischen uns hängen – noch bevor ich zu Ende geredet hatte, war Jess schon wieder mit eigenen Gedanken beschäftigt. Seine Körperhaltung veränderte sich auch. Seine fließende Anmut, die Bejahung von Veränderung und Bewegung, die ihn durchströmte, hatte sich versteift. Er hielt sich aufrecht.
Es tat mir weh und machte mich verlegen, ihn zu sehen. Ich brachte etwas unbeholfen Tröstendes hervor, aber das änderte nichts an der Starrheit seines Verhaltens. Ich wusste, er sagte mir, wie immer, die Wahrheit. Er war verloren.
Ich erzählte ihm nichts von meiner Offenbarung, als ich auf eben dem Bett gelegen hatte, in dem er jede Nacht schlief, obwohl ich jedes Mal daran erinnert wurde, sobald ich daran dachte, dass er in meinem alten Zimmer schlief. Auch Rose hatte ich schließlich nichts gesagt, obwohl ich nahe daran gewesen war. Einerseits war ich mir so sicher gewesen, dass sie Unrecht hatte – hatte ihren Erinnerungen misstraut und sie abgetan. Andererseits war es leichter, sie mitfühlend zu unterstützen, als sich mit ihr gemeinsam als Opfer zu fühlen. Und bestimmt würde sie mich an Dinge erinnern, deren Vorstellung ich nicht ertragen konnte. So gewiss wie der Sonnenaufgang würde das Gespräch mit ihr diesen schrecklichen Sack öffnen und Licht hineinfallen lassen, und sie würde mich drängen, und ich würde ihr nicht widerstehen können. Die Dramatik und der Zorn würden mich ebenso fortreißen wie sie, und eine wachsende Besessenheit der Erinnerung würde mich ergreifen, mich überwältigen und mich einer Gefahr ausliefern, die ich noch nicht ertragen konnte.
Wir sprachen über das, was Harold bei dem Kirchenessen getan hatte. Ich glaubte, dass Jess’ Fahrt zu der organischen Farm und seine Schwärmerei davon der Tropfen gewesen war, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Ich hatte nie geglaubt, dass Harold sich mit Jess’ organischer Idee anfreunden würde, aber ich glaubte, er sei unschlüssig, was Jess selber anging. Rose sah die Sache düsterer: Sie glaubte, dass Harold seit langem geplant hatte, Jess zu demütigen – vielleicht seit Jess’ Rückkehr, dass er ihn gegen Loren ausgespielt und mit dem Gerede über sein Testament ermutigt hatte, sich Hoffnungen zu machen. Das war genau der Harold, den wir während unserer Monopoly-Spiele diskutiert hatten, der Harold, der Berechnung hinter vorgespiegelter Torheit versteckte. Ich berichtete von dem Vorfall, als ich Jess geholfen hatte, das Tiefgefrorene aus ihrer Tiefkühltruhe in unsere zu bringen – die Art, wie Harold blitzschnell von Wut auf eine schlagfertige Antwort umgeschwenkt war, ohne auch nur einen Moment der Sammlung. »Beweist das nicht«, sagte Rose, »dass bei ihm alles nur Spiel ist? Dass alles, was er tut, das Ergebnis irgendeiner Berechnung ist? Er bringt die Leute dazu, über ihn zu lachen, aber er lacht nicht.«
Dann entschloss sich Harold Clark, seinen Mais ein zweites Mal an den Rändern zu düngen, vielleicht nur, weil er so noch einmal auf seinem neuen Traktor draußen herumfahren konnte. Das tat er nicht jedes Jahr, und so weit ich das beurteilen konnte, sah der Mais bei allen gut aus. Mit Sicherheit hatten wir genug Regen gehabt – unser Mais hatte ein intensives gesundes Grün. Aber warum nicht, muss Harold sich gesagt haben. Eine kleine Absicherung für die Ernte und das Vergnügen, diese leuchtend rote Maschine die Zaunreihe entlangzufahren, direkt neben der Cabot Street Road.
Das Einzige, was Harold später sagte, war, dass eins der äußeren Messer verklemmt aussah. Wahrscheinlich zog er dann an dem Seilzug, der die Klappe oben auf dem Tank verschloss. Vielleicht war er in Eile, denn er stieg vom Traktor und ging um ihn herum zu dem Messer, das sich ein paar Zentimeter in die Erde gegraben hatte. Niemand weiß, warum er den Schlauch bewegte. Womöglich hatte er ihn nur beim Herunterbeugen leicht berührt, ihn mit der Hand oder dem Ärmel gestreift. Jedenfalls schnellte der Schlauch plötzlich vom Messer hoch, und mit dem letzten Druck, der noch in der Leitung war, sprühte er ihm ins Gesicht. Er trug keine Schutzbrille.
Anhydrisches Ammoniak wird nicht wegen der Feuchtigkeit in ihnen »von den Augen angezogen«, wie die Leute manchmal sagen; die Feuchtigkeit in den Augen bewirkt nur mit den Dämpfen eine chemische Reaktion und erzeugt ein starkes Alkali.
Trotz des Schmerzes stolperte Harold zu dem Wassertank über dem Ammoniaktank. Er wusste, seine einzige Hoffnung war, die Augen auszuspülen und das Ammoniak zu neutralisieren. Der Wassertank war leer. An diesem Punkt hatte der Schmerz Harold überwältigt, und er war zusammengebrochen. Dollie, die auf dem Weg zu ihrer Arbeit bei Casey’s in Cabot war, sah ihn. Er kniete zwischen den Maisreihen und schwankte vor und zurück, die Hände über dem Gesicht. Da draußen gab es kein Wasser. Sie fuhr ihn zum Haus zurück und half ihm, das Gesicht unter den Hahn draußen zu halten. Dann kam Loren nach Hause, und der fuhr Harold nach Mason City ins Krankenhaus.
Jess lief irgendwo.
Pete war in Pike und kaufte Zement.
Rose half Linda, aus einem gepunkteten Stoff Shorts und ein Oberteil zu nähen.
Daddy saß in der Schaukel auf Haralds Veranda und sprach mit Marv Carson darüber, wie er seine Farm wiederbekommen könne.
Ty arbeitete mit drei Männern aus Minnesota an einem der neuen Harvestores.
Ich brachte Pammy zu Mary Louise Mackenzie in Cabot.
Ich stelle mir vor, dass diese Nachricht auf jeden Einzelnen von uns zuschwebte wie eine Staubwolke an einem sonnigen Tag, so ungewöhnlich, dass sie zuerst eher interessant als Furcht einflößend scheint, in der Entfernung eher klein, kleiner auf jeden Fall als die ungeheure Weite des Himmels, wo wir gewöhnlich nach Zeichen für Gefahr suchen und wo noch immer die Sonne in freundlicher Helligkeit steht. Aber man sagt, dass die Staubstürme in den Dreißigern die schlimmsten waren, weil der Staub überall eindrang, egal, wie dicht man Fenster und Türen versiegelte. Genauso drangen Haralds Unfall und sein Nachspiel überallhin, in die dauerhaftesten Beziehungen, die unwandelbarsten Anschauungen, die stärksten Bindungen, die tiefsten Überzeugungen, die man sich über Leute gebildet hatte, die man den größten Teil seines Lebens kannte.
Die Sache mit anhydrischem Ammoniak ist die, dass es fast sofort wirkt. Nach zwei Minuten oder so ist die Hornhaut weggefressen. Außer Transplantation können die Ärzte nicht viel machen, und die sind nicht sonderlich erfolgreich. Aber sie behielten Harold wegen der Schmerzen für eine Woche im Krankenhaus, mit verbundenen Augen.
Das muss der Donnerstag nach dem Sonntag des Kirchenessens gewesen sein, drei Tage, nachdem Jess Clark in Daddys Haus gezogen war. Alle Gemüter waren noch sehr erhitzt. Als ich Pammy abgesetzt hatte und nach Hause kam, stand Ty in der Küche. Er drehte sich mit einem Ruck zu mir und sagte: »Harold Clark hat einen Anhydridunfall gehabt. Er ist jetzt blind«, so als wollte er sagen: »Bist du jetzt zufrieden?«
»Mein Gott.«
»Mit der Arbeit auf der Farm ist es aus, so viel steht fest.«
»Woher hast du das? Was ist passiert?«
»Dollie hat uns von dem Harvestore runtergeholt. Loren hat ihn ins Krankenhaus gefahren.«
»Dann wissen wir also nicht sicher …«
»Scheiße, Ginny!«, schrie er mir ins Gesicht. »Wir wissen es! Der Wassertank war leer!«
»Vielleicht können die Ärzte …«
»Hör auf!«
»Hör auf womit?«
»Hör auf mit dieser Art, dieser ruhigen vernünftigen Art! Ist dir denn alles egal? Der Scheißwassertank war leer! Du weißt genauso gut wie ich, was das bedeutet!«
Ich sagte ruhig: »Es bedeutet, er ist blind.«
»Ist dir das egal? Er war immer einer unserer Freunde. Was ist los mit dir? Ich erkenn dich einfach nicht wieder.« Er ging zur Tür.
Ich folgte ihm, und meine Stimme wurde lauter: »Was ist los? Was hab ich Verkehrtes gesagt?« Er stieg in den Truck und fuhr mit quietschenden Reifen weg.
In Wirklichkeit war ich zu erstaunt, um irgendetwas zu denken. Die Vorstellung ist immer zuerst körperlich, nicht wahr, so dass man vor dem Schmerz zurückschaudert, sich vorstellt, man wäre selber blind, alles in einem vibriert noch von der Gewalt dessen, was sich ereignet hat. Ich weiß eigentlich nicht mehr, wie ich mir den Unfall damals vorstellte, als ich die Einzelheiten noch nicht kannte, aber er kam als gewaltiger Einbruch in mein Leben, und ich weiß noch, dass meine Hände beim Abwaschen derartig stark zitterten, dass ich einen Teller am Wasserhahn zerbrach und aufhören und mich setzen musste. Danach erinnere ich mich, habe ich mich fast übergeben, als ich da saß.
Ich stand auf und lief hinunter zu Rose. Ich platzte mit der Nachricht bei ihr rein, und Rose schickte Linda sofort hinaus zum Spielen und um nach Pete und Jess Ausschau zu halten. »Er läuft«, sagte sie zu mir, als Linda hinausging, »ich hab gesehen, wie er vor ungefähr ’ner halben Stunde losgelaufen ist.«
Ich sagte: »Mein Gott. Kannst du das glauben?« Ich trat vorsichtig über den Schnitt, der am Boden auf dem Stoff festgesteckt war, und ließ mich in einen Sessel fallen. Rose kniete nieder und steckte weiter den Stoff fest. »Rose?«
»Was?« Sie klang gereizt.
Ich wagte nichts weiter zu sagen. Ich glaube, ich dachte, dass ich sie irgendwie gekränkt hätte. Ich fühle mich immer ein wenig schuldig, wenn ich jemandem schlechte Nachrichten überbringe, weil einen diese Energie, etwas zu wissen, das der andere nicht weiß, immer anschwellen lässt. Sie nahm Nadeln aus ihrem Tomaten-Nadelkissen und steckte sie in das Seidenpapier, hockte sich dann auf die Hacken und betrachtete den Stoff mit zur Seite gelegtem Kopf. Sie hatte die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie hob die Arme und zog gedankenverloren ihr weiches schwarzes Haar aus dem Gummi, machte dann den Pferdeschwanz neu, straffer. So wie ihre Bluse herunterhing, sah ich, dass sie sich an dem Morgen nicht die Mühe gemacht hatte, ihre Prothese anzulegen. Sie sagte: »Und?«
»Na ja, es hat mich einfach so aufgeregt, das ist alles. Es ist der Albtraum jedes Farmers. Ich hätte mich beinahe übergeben.«
»Die Sache selbst ist schrecklich. Das geb ich zu.« Sie nahm ihre Schere und sah mich an. »Aber wie ich neulich Abend gesagt habe. Schwäche richtet bei mir nicht viel aus. Es ist mir egal, ob sie leiden. Wenn sie leiden, sind sie überzeugt, sie wären wieder unschuldig. Glaubst du nicht, dass Hitler Angst und Schmerzen hatte, als er starb? Zählt das? Wenn er gestorben ist mit dem Gedanken, seine Sache war gerecht und richtig, dass all diese luden und anderen es verdient hätten, vernichtet zu werden, dass er wenigstens lange genug gelebt hätte, um sein Lebenswerk zu vollenden, hättest du dich nicht über seine Schmerzen gefreut und ihm noch mehr gewünscht? Es muss Reue geben. Es muss Wiedergutmachung geben an denen, die sie zerstört haben, sonst gibt es keine ausgleichende Gerechtigkeit.«
»Aber dies ist Harold, nicht Daddy.«
»Was ist der Unterschied? Weißt du, was Jess mir erzählt hat? Einmal hat Harold den Maispflücker gefahren, als Jess ein kleiner Junge war, und da lag ein Rehkitz im Maisfeld, und Harold ist einfach drübergefahren, statt die Reihe stehen zu lassen oder zu wenden oder auch nur anzuhalten und es wegzujagen.«
»Vielleicht hat er es nicht gesehen.«
»Nachdem er drübergefahren war, hat er auch nicht angehalten, um es zu töten. Er hat es einfach sterben lassen.«
»Oh, Rose.« Tränen schössen mir in die Augen.
»Daddy hat jedes Jahr Tiere auf den Feldern umgebracht. Nur weil es Kaninchen und Vögel statt Rehkitze waren – ich weiß nicht.« Sie sah mich an und lächelte schwach. »Als Jess mir das erzählt hat, hab ich auch geheult. Dann hab ich am nächsten Tag Pete geholfen, Schweine für den Verkauf zu verladen. Ich dachte an Daddys Worte: ›So ist das Leben. So geht das auf ’ner Farm.‹ Deshalb sag ich zu Harold: ›Mann, Harold, du hättest den Wassertank überprüfen sollen.‹ So geht das auf ’ner Farm. Sie haben die Regeln gemacht, nach denen wir leben sollen. Sie müssen auch danach leben.«
Ich sah mich im Zimmer um. Wieder war da dieses wohltuende Element in dem, was sie sagte, eine beruhigende Schlichtheit. Ich sagte: »Würdest du so was auch den Mädchen sagen?«
Ihre Schere machte zwei Knackgeräusche in dem Baumwollstoff. Dann legte sie sie weg und sah mich an. Sie sagte: »Wenn Daddy sich an sie ranmachte und ihnen in irgendeiner Weise wehtäte, würd ich ihnen erklären, was böse ist und was Vergeltung bedeutet. Wenn nicht, dann soll ihnen der Luxus bleiben, an Gnade und die Vergebung zu glauben.«
»Du lässt es so einfach erscheinen.« Ich dachte einen Moment nach. »Nein. Das mein ich nicht. Ich mein, leicht.«
»Ginny, ich weiß, was ich denke, weil ich lange darüber nachgedacht habe. Ich hab im Krankenhaus darüber nachgedacht, nach der Operation. Weißt du, über Mommys Tod und über Daddy und darüber, dass Pete so gemein war, wenn er was getrunken hatte, und dass ich die Mädchen wegschicken musste und obendrein noch einen Teil meines Körpers verloren habe. Angesichts all dessen, wenn es nicht ein paar Regeln gibt, was gibt es dann? Es muss etwas geben, Ordnung, Richtigkeit. Gerechtigkeit, um Himmels willen.« Sie schnitt die Längsseite des Oberteils aus. »Weißt du, ich kann dir gar nicht sagen, was ich davon halte, dass Daddy jetzt sozusagen Zuflucht in der Verrücktheit sucht. Du weißt ja wohl, wen sie dafür verantwortlich machen, nicht? Aber selbst das ist es nicht.«
»Was ist es denn?«
»Jetzt hab ich nicht mal mehr die Chance, ihm in die Augen zu blicken und zu sehen, dass er weiß, was er getan hat und was es bedeutet. Solange er den Verrückten spielt, kommt er ungeschoren davon.«
Linda stieß die Tür auf, sie zog Jess hinter sich her. Sie sagte: »Ich bin die ganze Strecke bis zu dem Kiesweg gelaufen, Mom.« Ich erkannte an Jess’ Gesichtsfarbe, grau unter der Sonnenbräune, dass sie es ihm erzählt hatte. Ich setzte mich auf und stellte die Füße auf den Boden. Jess sah von Rose zu mir, dann von mir zu Rose, dann wischte er sich das Gesicht mit seinem T-Shirt und enthüllte dabei seinen vollkommenen Bauch und Brustkasten. Rose faltete den Stoff und die Schnittteile vorsichtig zu einem kleinen Quadrat zusammen, und Jess trat ins Zimmer. Rose sagte: »Linda, gieß für jeden ein Glas Limonade ein und geh dann wieder raus, wir haben was Erwachsenes zu besprechen.« Linda sträubte sich, blieb einen winzigen Augenblick still stehen. Rose sagte: »Wir nähen heut Nachmittag.«
»Bestimmt?«
»Bestimmt, wenigstens ein bisschen.«
»Ich mach mir ein paar Sandwichs und nehm sie mit raus.«
Nach einem Moment sagte Rose: »Okay.« Ich sah sie nicht an, denn ich fand Roses übliche kurzangebundene Art unter den Umständen besonders irritierend. Linda sagte auch »Okay«, rührte sich jedoch eine Sekunde lang nicht von der Stelle, als sei sie unsicher, was sie tun sollte, jetzt, da sie die Erlaubnis hatte, das zu tun, was sie wollte. »Mach schon«, sagte Rose. »Ich hab Durst.«
Jess saß da, den Kopf an die Wand hinter dem Stuhl gelehnt, und es sah aus, als starre er oben an die Deckenleiste.
Linda brachte die Gläser Limonade auf einem Tablett herein, hatte es richtig gemacht, und bot sie jedem der Reihe nach an.
»Möchtest du etwas Limonade, Tante Ginny?«
»Danke, Linda.« Ich lächelte sie besonders herzlich an, und sie lächelte zurück und entspannte sich ein wenig.
»Gern geschehen, Tante Ginny.«
Rose sagte: »Du hast es schon überschwappen lassen. Sei vorsichtig.«
Sie ging in die Küche, und kurz darauf knallte die Hintertür. Ich schlürfte meine Limonade. Rose sagte: »Es geht dich nichts an, Jess. Halt dich einfach da raus.«
Jess sagte nichts.
»Er hat dich gedemütigt. Nicht nur das, er hatte es seit Wochen darauf abgesehen, dich zu demütigen. Er wollte dich und uns demütigen, und zwar in aller Öffentlichkeit. Die Tatsache, dass er einen Unfall gehabt hat, ändert daran nichts.«
»Ich weiß.« Jess’ Stimme war leise und rau, mir so unvertraut, dass ich nicht wusste, wie ich den Ton deuten sollte.
Rose sagte: »Ich weiß, was du empfindest. Ich weiß es genau, selbst wenn du es nicht weißt. Du denkst, er tut dir Leid, aber in Wirklichkeit hast du das Gefühl, du kannst ihn jetzt endlich erreichen, er wird sich dir gegenüber weicher zeigen. Wenn du ihm hilfst, wird er dir dankbar sein, und dann wird er dir geben, was du willst. Tja, wird er aber nie.«
Ich sagte: »Ich weiß nicht …«
Sie fuhr fort, zu Jess zu sprechen. »Ginny ist bis in alle Ewigkeit voller Hoffnungen, weißt du. Sie gibt nie auf. Sie denkt immer, die Dinge könnten sich ändern.«
Ich sagte: »Harold könnte sich ändern. Er könnte, weißt du, bereuen. Das passiert manchmal, wenn, weißt du, Leute was verlieren.« Ich spürte, wie ich rot wurde.
Sie fuhr fort, Jess zu beobachten, allein ihn anzureden. »Nicht, wenn du ihm vorher verzeihst. Nicht, wenn du auf ihn zugehst. Nicht, wenn du dich so verhältst, wie deine Mutter sich verhalten hat, Jess.«
Ich sagte: »Rose …«
Als sie mir ihr Gesicht zuwandte, leuchtete es vor Überzeugung.
»Er sollte wissen, wie es für sie war, weil das zeigt, wie Harold ist und wie er sein wird.«
Jess murmelte: »Ich weiß, wie es für sie war. Sie hat sich viel gefallen lassen.«
Rose rief aus: »Sie hat sich immer entschuldigt, selbst dann, wenn Harold im Unrecht war! Selbst dann, wenn er sie angeschrien hatte oder ohne Grund hochgegangen war! Sie entschuldigte sich. Sie hat mir das mal erzählt, sie hat gesagt: ›Rose, es kommt nichts Gutes dabei raus, wenn ich mich gegen ihn stelle. Er hat den längeren Atem. Und dann redet er mit jedem darüber. Er erzählt jedem, ich spreche nicht mit ihm, und er macht einen Witz daraus. Ich glaub, es ist einfach besser, wenn ich warte, bis er zu sich kommt und sich eines Besseren besinnt.‹ Aber das hat er nie getan! Sie hat ihn nicht dazu gezwungen, also warum sollte er? Schlechtes Gewissen?«
Jess starrte sie an.
Ich fand, Rose sollte sich beruhigen, aber alles, was sie sagte, stimmte. Sie übertrieb noch nicht mal. Ich sagte: »Er hat sich im Grunde nicht so betragen, als schätzte er sie, Jess. Als sie mitkriegte, dass ich Ty heiraten wollte, hat sie zu mir gesagt: ›Du musst schwer zu kriegen spielen, Ginny. Wenn deine Mutter noch am Leben war, würde sie dir dasselbe sagen. Ich hab nie schwer zu kriegen gespielt, und ich bedaure es. Ich mein auch nicht für die jungen Männer. Du musst auch für deinen eigenen Mann schwer zu kriegen sein.‹«
Jess sagte: »Das hier ist was anderes.«
»Ja?«, sagte Rose. Jetzt war ihre Stimme leise, aber eindringlich. Ihr Blick war wie ein kleines Zimmer, aus dem er mit Sicherheit nicht heraus konnte. Trotz allem beobachtete ein Teil von mir mit interessierter Distanz die Art, wie sie ihn einkreiste und seine Zustimmung einfing. Ich erkannte ihre Intensität wieder aus all den Jahren, in denen sie auf mich gerichtet gewesen war. »Er hat dich abgewiesen. Er hat dich weggeschickt. Er ist vierzehn Jahre lang hinter dir her gewesen, wird dir genau das heimzahlen, was du ihm angetan hast. Er hat dich richtig als Zielscheibe aufgestellt, als du hier ankamst, und dann hat er sich gerächt. Was für ein Mensch ist das? Wenn du tatsächlich glaubst, er wird umschwenken und Reue zeigen, dann gib ihm etwas Zeit, darüber nachzudenken. Gib der Kur etwas Zeit. Das ist mein Rat. Du kannst voll Mitleid und Mitgefühl zu ihm laufen, aber Mitleid und Mitgefühl sind in der Vergangenheit noch nie von Harold respektiert worden, und wenn du seinen Respekt nicht gewinnst, wird er dich am Ende wieder demütigen, absichtlich.«
Jess sagte: »Mein Gott.«
Rose stellte ihr Glas auf den Couchtisch, stand auf und ging zu seinem Sessel hinüber, dann beugte sie sich über ihn, je eine Hand auf einer Armlehne. Er starrte sie an. Sie sprach sanft, direkt in ihr Ziel. »Du bist derjenige, der immer sagt, sie haben es darauf abgesehen, uns zu verletzen! Du bist derjenige, der immer sagt, sie haben uns jedem vorübergehenden Prinzip und jeder Laune und jedem Wunsch unterworfen! Du hast mir gesagt, das war die Lektion deines ganzen Lebens, die Lektion des ganzen Vietnamkrieges! Du hast gesagt: ›Rose, jeder Vietnamveteran, den du siehst, ist der Beweis dafür, wozu sie fähig sind!‹ Du hast das gesagt!«
Er sagte: »Ich weiß. Ich glaub auch daran. Aber das hier …«
Sie schloss uns beide in ihren Blick ein und sagte: »Ihr beide scheint zu denken, dass hier ein Spiel abläuft, das wir entweder mitspielen können oder nicht, ganz wie wir wollen, dass wir unseren Gefühlen hierhin und dorthin folgen können und einfach gehen können, wenn wir keine Lust mehr haben. Vielleicht könnt ihr das. Aber das hier ist Leben und Tod für mich. Wenn ich keinen Weg finde, mich von dem zu befreien, was Daddy mir angetan hat, bevor ich sterbe …« Sie hielt inne. Ihr Gesicht war weiß und entschlossen. Sie sagte: »Ich kann nicht akzeptieren, dass dies mein Leben ist, alles, was ich bekomme. Ich kann’s nicht. Ich dachte, es würde länger gehen, lange genug, bis ich’s richtig hingekriegt hätte. Ich dachte, ich würd ihn, verdammte Scheiße, überleben und er könnte es haben, mein halbes Leben, und die andere Hälfte würde mir gehören. Jetzt wette ich, er überlebt mich. Es ist, als erstickte er mich, überdeckte mich, als gehörte ich immer ihm, nie mir selber …« Ihre Stimme würgte. Jess und ich sahen uns nicht an.
Was mich in jenen Tagen an ihrer Art zu reden tröstete, war die einfache Wahrheit, die darin lag, als hätten wir endlich die grundlegenden Atome der Dinge gefunden, so hart sie auch waren. Ich sah, dass sich in Jess dasselbe abspielte, dass das, was beim Kirchenessen passiert war, ihn aus der Bahn geworfen hatte und Roses Zielstrebigkeit ihn in eine neue Bahn brachte.
Die Folge war, dass wir drei – und auch Pete – uns von Harold fern hielten, nicht ins Krankenhaus gingen, ihn nicht besuchten oder warmes Essen hinüber zur Clark-Farm brachten, als er wieder zu Hause war, niemanden richtig nach ihm fragten, es sei denn, die anderen kamen darauf zu sprechen. Ich glaube, man könnte sagen, dass Rose und Jess und ich uns versteckten. Bei Pete hatte man das ungute Gefühl, dass etwas Gesondertes in ihm ablief, und aus langer Gewohnheit war es leicht, dem auszuweichen. Wir wussten in etwa, wie es Harold ging. Als ich Loren zufällig in der Bank in Pike traf, redeten wir, sprachen aber nicht wirklich miteinander. Ich merkte ihm an, dass er erschöpft und zornig war, aber trotzdem konnte ich die kühle Korrektheit unseres Benehmens nicht aufgeben. Es war ein würdevolles Gefühl, das Sicherheit gab. Ty und ich benahmen uns gegeneinander ebenso, und man konnte auf die Weise sein Leben weiterführen, die Leidenschaften abkühlen lassen. Die äußerlichen Dinge, das Auftreten und die Manieren umschlossen alles andere, schienen alles, was wir erlebten, wenn auch nicht angenehm, dann doch klar und hart zu machen.
Es wurde heißer, und wir sahen den fernen Gewittern zu, deren Blitze am Horizont niedergingen. Ich hatte grüne Tomaten an den Ranken, gelben Bananenpaprika, Zwiebeln mit grünem Lauch so dick wie vier Finger, fast so hoch, dass sie vornüberfielen, Buschbohnen, die zwischen den herzförmigen Blättern baumelten, und Gurken, die zu klettern anfingen. Ich verbrachte den Morgen meist in meinem Garten.
Am siebzehnten Juli hörte ich, wie ein Auto vor dem Haus vorfuhr. Es war erst acht Uhr morgens, und ich hatte gerade Unkraut zwischen den Bohnenreihen gezupft. Ich wischte mir so gut wie möglich die Hände an meinen Shorts ab und ging ums Haus herum. Ken LaSalle stand auf der Veranda und spähte durch das Fenster neben der Tür. Ich sagte: »Kann ich etwas für dich tun?« Meine Stimme klang formal und kalt. Ken drehte sich blitzschnell um und hielt mir einige Papiere hin. Er sagte: »Die sind für dich. Dich und Ty und Rose und Pete.«
Ich hielt meine von der Erde schwarzen Hände hoch. »Vielleicht sagst du mir lieber, um was es geht.«
»Tja, Ginny.« Er zögerte, nachdem er meinen Namen in dieser freundschaftlichen Form ausgesprochen hatte. »Euer Dad hat euch verklagt, weil er die Farm wieder zurückhaben will. Eure Schwester Caroline ist Nebenklägerin. Ihr sucht euch besser einen Anwalt.«
»Ich dachte, du wärst unser Anwalt.«
»Ich kann nicht. Aus ethischen Gründen.« Jetzt sah er mich direkt an. »Nebenbei bemerkt, ich muss sagen, dass ich’s auch gar nicht möchte. Ich finde nicht, dass ihr euren Dad richtig behandelt habt, ehrlich gesagt.«
»Wir haben um die Farm nicht gebeten.«
»Ich fühl mich nicht in der Lage, über den Fall was zu sagen. Besorgt euch einen Anwalt aus Mason City oder Fort Dodge oder irgendwoher. Das ist das Beste.« Er legte die Papiere auf die Verandaschaukel und ging an mir vorbei die Treppen hinunter, ohne mich noch einmal anzusehen. Es war wie ein Schlag ins Gesicht.