Es war ein Gefühl wie Grippe, und zwar so sehr, dass ich nach oben ging und Fieber maß. Meine Temperatur war normal, aber ich nahm für alle Fälle zwei Aspirin. Die Erleichterung, die ich herbeisehnte, war körperlich; obwohl ich kein Fieber hatte, fühlte ich mich heiß und atemlos. Ich entschloss mich, schwimmen zu gehen, einfach ins Auto steigen und schwimmen gehen.
Aber als ich in Richtung Pike unterwegs war, schien die Stadt mich abzuweisen, mein Auto bis auf Schneckentempo herunterzudrosseln, mir den Empfang wie mit einem Schutzschild zu verweigern. Meine ganze Befangenheit, die ich die Jahre über mit Unterbrechungen empfunden hatte, die manchmal durch Freundlichkeiten der Menschen gelindert und manchmal durch Missachtung, die ich vermutete, entflammt wurde, sie schien wieder zum Leben zu erwachen. So sehr ich auch Erleichterung herbeisehnte (jetzt schien nur Wasser, nur totales, erfrischendes Untertauchen meine Gedanken klären zu können), der Gedanke, mir meinen Badeanzug anzuziehen und quer über das flache, jedermann sichtbare Pflaster der Badeanstalt zu gehen, war mir unerträglich. Ich bog nach Norden ab und steuerte auf einen alten Steinbruch in der Nähe von Columbus zu; seit zehn Jahren war ich weder dort gewesen, noch hatte ich daran gedacht. Bei dem Regen, den wir gehabt hatten, würde er bestimmt voll sein.
Der Steinbruch war die größte Wasserfläche in der Nähe, blau und funkelnd, wenn die Sonne schien; jedenfalls hatte ich ihn so in Erinnerung. High School-Jungen hatten schon immer darin geschwommen; der Sheriff verscheuchte sie zwei- oder dreimal im Jahr, und jemand reparierte manchmal den leichten Zaun, der um den Steinbruch gezogen war. Jetzt wurde dort kein Stein mehr gebrochen: die Firma, der er gehört hatte, war eingegangen, und niemand im County wusste, wer eigentlich haftbar war. Er existierte, künstlich geschaffen, aber auch natürlich, die eine Stelle, wo das Meer unter der Erde offen dalag.
Nur dass, als ich ankam, das Wasser braun und trübe war. Disteln und hohe heimische Gräser (»Bartgras«, hätte Jess gesagt, »Hirse, Negerhirse«) verdeckten den rostenden Zaun fast ganz, standen bis hinunter zum überwucherten, bröckligen Rand. Das dicke Wasser füllte ihn fast ganz, und ich hatte vergessen, wo die seichten Stellen und wo die Tiefen waren. Auf jeden Fall konnte man nicht einfach hineinspringen – mir fiel ein, wie wir mit argloser Neugier rostige Gegenstände aus dem Wasser gezogen hatten: Radkappen, Blechdosen, zerbeulte Ölfässer. Jetzt sah ich das Wasser mit neuen Augen, verdüstert. Nicht abzusehen, was alles darin war.
Trotzdem, nach Hause fahren kam nicht in Frage, auch nicht nach Pike oder Cabot, Wegfahren überhaupt. Das schlammige Wasser lag ruhig da; es gab noch nicht einmal den Hauch einer Brise. Ein Teil des Mülls um den Rand herum, bis zur Hälfte von Unkraut überwuchert, lag da bereits so lange, dass Trampelpfade sich darum herumwanden, und ich ging einen davon entlang, der zu mehreren Zürgelbäumen und Weißdornbüschen führte. Wilde Rosenbüsche wuchsen hier und dort, ihre Blüten schwollen jetzt zu Hagebutten mit Federbüschen an. Winden schlangen sich um alles, ihre perlweißen Flöten schlossen sich langsam in der Nachmittagssonne.
Zu Hause war der Gedanke, wie andere über uns dachten, quälend, schon schlimm genug, sich ihre Witze oder Ablehnung vorzustellen, aber schlimmer noch der Gedanke, dass sie sich über uns amüsierten, dass diese stechende, nagende Befangenheit, die mich jeden Tag, jede Minute vorwärts trieb und auf Erleichterung drängte, etwas war, das ihnen nichts bedeutete, das sie nicht empfinden konnten und über das sie kaum je nachdachten. All diese Nachbarn, nahe genug, um über unsere Angelegenheiten Bescheid zu wissen, aber zu unendlich weit von uns entfernt, um auch nur einen Bruchteil von dem zu empfinden, was wir empfanden, genossen das Schauspiel, das wir ihrer Neugierde boten. Hier aber, weg von der Farm, war auch das in Ordnung. Ihre Gleichgültigkeit war mein Ziel und zugleich das Versprechen, dass das Leben, mein Leben, das Leben unserer Familie größer war, länger, widerstandsfähiger als die Schwierigkeiten, in denen wir augenblicklich gefangen waren. Am Steinbruch konnte man sich sehr viel leichter vorstellen, dass das Wichtigste einfaches Durchhalten war.
Ich erreichte ein Wäldchen und blieb in den gefleckten Schatten stehen. Und hier wurde mir bewusst, dass ich die Gegenwart eines anderen gespürt hatte, vielleicht hatte ich Schritte gehört oder das Schweigen der Wiesenvögel. Aus irgendeinem Grund jedenfalls war ich, als die Gestalt eines Mannes an den Rand des Wassers trat und eine Hand voll Steine hineinwarf (selbst aus der Entfernung konnte ich das Plink-Plink hören), nicht überrascht, dass dieser Mann Pete war. Trotzdem blieb ich in dem Gehölz stehen, weil ich bisher allein sein wollte. Er sah einige Minuten lang auf das Wasser, drehte sich dann um und kam auf mich zu. Ich dachte an Flucht.
Aber natürlich blieb ich. Die Lektion, die ich offenbar nicht lernen konnte, war die, wie man Geschenke, die einem gegeben werden, ablehnt.
Meine Gefühle für Pete hatten den Schimmer, der von dem Monopoly-Turnier zurückgeblieben war, noch nicht verloren. Im Gegenteil, es war nicht zu übersehen, dass in all den Jahren Petes Reaktionen auf Daddy ehrlicher als die Tys gewesen waren, destruktiv, aber wenigstens nicht doppelzüngig, unklug, aber leidenschaftlich, wütend, aber nie egoistisch, und in den letzten vier Jahren, nachdem Rose ihm offenbart hatte, was Daddy ihr angetan hatte, beinahe nobel. War nicht allein die Tatsache, dass sie ihm das erzählt hatte, eine Empfehlung?
Er sah mich und hielt inne, lächelte, kam auf mich zu. Als er in Hörweite war, rief ich ihm zu: »Na, schwänzt du?«
Er kam näher und sagte: »Ich bin die andere Straße aus Mason City zurückgefahren. Ich nehm an, wenn man nicht sehr am Leben hängt, könnte man hier schwimmen.«
Wir machten gemeinsam kehrt und gingen den Pfad, den ich gekommen war, zu meinem Auto zurück. Ich sagte: »Wo ist der Truck? Ich hab niemanden gesehen, als ich hier reingefahren bin.«
»Am Nordende gibt’s ’ne alte Steinbruchstraße. Das Tor ist kaputt, deshalb kann man so weit reinfahren, bis sie im Wasser verschwindet. Muss da gewesen sein, wo sie früher den Stein rausgeholt haben.«
»Jemand aus Tys Klasse in der High School hat mal ein Auto hier in den Steinbruch gefahren.«
»Hmm. Tja, jede Menge Sachen sind im Laufe der Jahre in den Steinbruch gefahren worden. Ich schätze, das ist das Gleiche wie mit Fenstern in leer stehenden Gebäuden. Etwas in einem sträubt sich dagegen, dass es von außen heil aussieht.«
»Was macht Rose heute?«
»Hast du nicht mit ihr gesprochen? Irgendwas mit den Mädchen. Hab vergessen, was. Was machst du eigentlich hier? Ich hab dich noch nie hier gesehen.«
Es gefiel mir, mich so mit Pete zu unterhalten, Interesse zu zeigen, so als wären wir Freunde. Zu Hause war unsere Beziehung durch die Arbeit und all das andere eingeengt.
Ich sagte: »Ich wollte bloß irgendwohin, wo’s nass ist. Allerdings hatte ich’s hier anders in Erinnerung. Blau.«
»An manchen Tagen ist es blau, aber der Regen spült viel rein. Ich würde allerdings auch nicht drin schwimmen, wenn’s blau war. Ich glaub, der Bakterienpegel ist ganz schön hoch. Jack Stanley hat dieses Stück Weide da hinten den Bach hoch.« Er zeigte zum nordwestlichen Horizont.
»Die Schüler von der High School schwimmen hier.«
»Mm. Schlürfschlürf. Muss also okay sein.«
Ich lachte. Aber der Grund, warum ich hier war, hatte auch mit Pete zu tun, oder? Sein Name stand auch in der Klageschrift. Ich spürte, dass diese fürchterliche Befangenheit wieder zurückkehrte und die kurze Ungezwungenheit verjagte, die ich gerade genossen hatte. Auch wenn ich Pete nichts von den Gerichtspapieren erzählte, dieser Moment der Ungezwungenheit war vorüber. Deshalb sagte ich: »Ich bin, ehrlich gesagt, vor der Klage weggelaufen.«
»Was?«
»Caroline – hm, ich mein, Daddy hat uns verklagt, weil er die Farm zurück will. Diese Missbrauchs- und Misswirtschaftsklausel.«
»Ach.«
Er klang nachdenklich, kaum interessiert. Wir gingen weiter, vorbei an meinem Auto, und bogen dann nach Westen ab, liefen die Südseite des Steinbruchs entlang. Ich sagte: »Es hat mich einfach so wütend gemacht. Ich musste irgendwohin, ich hatte das Gefühl, als wenn ich von all dem Fieber bekommen würde.«
Er sagte nichts. Wir gingen den Weg entlang, der dem Zaun folgte. Die Winden verschwanden, wurden durch Tollkirschen ersetzt. Die Zaunreihe entlang bekamen ganze Büschel von Wolfsmilch ihre ersten weißen Blüten. Ich sagte: »Ich kann’s einfach nicht glauben, wie’s zu dieser Explosion gekommen ist. Ich mein, ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl, als Daddy mit der Idee rausrückte, aber dass ich etwas Ähnliches wie dies hier vorausgesehen hätte, das kann ich wirklich nicht sagen.«
Wir gingen noch immer. Ich blieb eine Sekunde lang stehen, um mir mit dem Blusenzipfel den Schweiß von der Stirn zu wischen. Wir waren jetzt in der prallen Sonne. Als ich Pete eingeholt hatte, sagte er: »Ginny, was denkst du, was will Rose?«
»Ich weiß nicht.« Eigentlich wollte ich sagen, dass ich geglaubt hatte, es zu wissen, dass ich es für offensichtlich gehalten hatte, bis er die Möglichkeit eines Zweifels ausgesprochen hatte. »Etwas, das ihr allein gehört. Vielleicht ein Leben, das sie ihr eigenes nennen kann. Scheint mir ziemlich klar. Dass es den Mädchen gut geht, das auch.«
»Was willst du? Du bist die älteste, aber Rose erscheint immer wie die älteste.«
Ich sagte: »Dass dies alles vorbei ist. Das ist so weit alles. Dass diese Gefühle aufhören.«
»Hmm.«
Der Weg wurde schmaler, und er ging vor mir her. Er trug Cowboystiefel, die, die er immer trug, wenn er nicht auf der Farm arbeitete. Er besaß zwei oder drei Paar, und die hohen Absätze ließen seine Beine lang aussehen. Er war besser in Form als Ty, wenn auch ein bisschen dicklich um die Mitte herum. Als der Weg wieder breiter wurde, lief ich ein paar Schritte, um ihn einzuholen. Ich sagte: »Warum fragst du?«
Er sah mich an, als könnte er sich nicht erinnern, wo ich hergekommen war. Ich sagte: »Pete? Warum fragst du, was Rose will? Sie ist in der Hinsicht doch ganz offen.«
»Ja?«
Die Ungezwungenheit unserer früheren Unterhaltung schien dahin zu sein, und ich sagte nichts mehr. Er starrte mich noch eine Weile an, ging dann weiter. Wir gingen schnell und näherten uns der südwestlichen Ecke des Steinbruchs, wo ein altes Gerät, das wie eine Egge oder so aussah, aus dem Wasser herausragte. Pete blieb stehen, nahm ein paar kleine Steinchen auf und warf eins und traf mit einem klirrenden Ping eine halb versunkene Zacke. Ich ging weiter, auf ein anderes Wäldchen zu, kam dann zurück. Pete war bis an den Rand des Wassers getreten. Ich wollte ihm sagen, ich müsse zum Einkaufen. Ich sah auf die Uhr. Es war schon fast drei. Ty, auf der Suche nach seinem Essen, würde inzwischen die Papiere gesehen haben.
Pete sagte: »Manchmal ist alles, was ich will, jemanden verletzen. Noch nicht einmal mit irgendeiner Absicht.«
»Das ist verständlich, wenn man selber verletzt worden ist.«
»Vielleicht. Weißt du, was Ty immer sagt, wenn die Schweine aufeinander losgehen und zu kämpfen anfangen, dass der Unterlegene sich nie wehrt, sich einfach einen kleineren sucht? Ty sagt immer: ›Scheiße rollt den Berg runter.‹«
Ich lächelte.
Pete starrte an mir vorbei. Ein leichter Wind war aufgekommen und zerbrach die Wasseroberfläche in Scherben aus Licht. Ich sagte: »Pete, bist du okay? Wenn ich von der Farm weg bin, hab ich das Gefühl, dass alles okay werden wird. Nicht wieder so wie vorher, aber okay. Ich mein, vielleicht ist das die Definition von okay. Jess würde sagen, Veränderung ist gut.« Ich gab mir Mühe, den Namen neutral auszusprechen, froh darüber, ihn nicht früher in dieser Unterhaltung gesagt zu haben. Es war unter allen Umständen wichtig, ihn nicht zu häufig zu sagen.
»Oh, Jess.«
»Magst du Jess nicht?«
»Doch, klar.«
Jetzt standen wir in echter Verlegenheit nebeneinander, Pete, der Steine in der Hand hin und her rollen ließ, ich, die ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen anfangen sollte und zu dem entfernten weißen Dach meines Autos hinüber sah. Es war offensichtlich, dass Pete auch von meinen Gefühlen für Jess wusste, dass mir diese Information irgendwie entschlüpft war, obwohl ich mir verzweifelte Mühe gegeben hatte, sie zurückzuhalten. Und Pete war noch nicht einmal sonderlich wachsam, auch war er nicht sehr an mir interessiert.
Es war ein erschreckender Gedanke, dass ich so eindeutig, so durchschaubar war. In dem Augenblick fiel mir ein, dass meine Mutter immer gesagt hatte, Gott könne bis auf den Grund einer jeden Seele sehen, eine Seele sei für Gott so klar wie ein plätschernder Bach. Damit wollte sie gleichzeitig sagen, das war mir schon damals klar, dass sie dasselbe konnte. Meine Lippen waren trocken und heiß, und ich dachte daran, Pete auf der Stelle einfach zu fragen, was er wisse, wie er es herausgefunden habe – von Ty oder Rose oder Daddy oder Jess selber. Wäre es nicht eine Erleichterung, wenn alles ans Licht käme?
Aber auch diese Frage ließ sich leicht beantworten. Und die Antwort war negativ. Die letzten Wochen hatten jedem deutlich zu verstehen gegeben, dass die eine Sache, die unsere Familie nicht tolerieren konnte, die vielleicht keine Familie tolerieren konnte, darin bestand, dass alles ans Licht kam. Also fragte ich Pete nicht. Ich sagte: »Ich glaub, ich fahr jetzt mal einkaufen. Es ist bald Zeit zum Abendessen. Ty wird sich wundern, wo ich bleib.«
»Ich muss auch noch was tun. Auch wenn ich immer schwerer der Versuchung widerstehen kann, hier anzuhalten. Es ist so ein verrückter Ort.«
Wir machten uns auf den Rückweg zu meinem Auto. Eine Schlange kam zum Vorschein und hinterließ das leise Rascheln von Gras in der Luft. Ich blieb stehen. Pete lief in mich hinein. So nah gab es viel, was wir einander zu sagen hatten, aber Gewohnheit und wahrscheinlich Angst hielten uns davon ab. Später war es komisch, daran zu denken, dass sein Körper mit meinem zusammengeprallt und wie handfest das gewesen war; der Geruch seines Schweißes, der sich mit den Gerüchen der Pflanzen und des Wassers dort vermischt hatte; der Anblick seines Gesichts aus solcher Nähe, seine graublauen Augen mit ihren langen blassen Wimpern, die sich mir zugewandt, mich gehalten, dann losgelassen hatten. Ich bellte: »Schlange!«
»Ach«, sagte Pete mit eben demselben desinteressierten, seltsamen Ton, als wenn alles, das erkenne ich jetzt, was er damals bereits tat, darin bestand, abzuwarten, was passieren würde.